IMI-Analyse 2020/39 - in: AUSDRUCK (September 2020)
Infrastruktur, Raumproduktion und militärische Logistik: Das Beispiel Sahel
von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 5. Oktober 2020
Ein aktueller Roman von Dave Eggers handelt von zwei Mitarbeitern einer westlichen Baufirma, die mit einer gewaltigen Asphaltiermaschine in ein nicht näher benanntes Bürgerkriegsland geschickt werden, um dort eine Straße zu bauen, die den armen Süden mit der Hauptstadt im reichen Norden verbinden soll. Das Projekt verspricht Frieden und Wohlstand. Doch der Titel des Buches, „Die Parade“, deutet schon an, wem es am Ende wirklich nutzt: „Diese Straße soll nicht dem Volk, sondern den Siegern dienen“, fasst das eine Rezension des Bayerischen Rundfunks zusammen.[1]
Infrastruktur
Die Geschwindigkeiten, mit denen Informationen eingeholt, Beamte reisen, Truppen und Material verlegt werden können, bestimmen die Form der politischen Herrschaft, wie u.a. der kürzlich verstorbene Philosoph Paul Virilio immer wieder betont hat.[2] Hierfür werden entsprechende Infrastrukturen aufgebaut, ausgebaut und erhalten. Diese Infrastrukturen geben auch Aufschluss über die militärische Strategie und definieren diese zu einem hohen Grade. Einige Beispiele hierfür lassen sich dem Buch „Europe’s Infrastructure Transition“ von Per Högselius u.a. entnehmen. So beschreiben sie etwa die 157 Kohlestationen, über die Großbritannien 1889 weltweit verfügte, als „erstes System zur Energieversorgung mit globaler Reichweite“, das der dampfgetriebenen britischen Marine Zugang zu allen Weltmeeren sicherte.[3] Die Grabenkämpfe, welche den Ersten Weltkrieg prägten, waren demnach auch das Ergebnis einer raschen und massenweisen Mobilisierung von Soldaten per Eisenbahn. Diese ermöglichte es beiden Seiten, große Mengen von Soldaten und Feuerkraft an – bzw. bis kurz vor (!) – die Front zu bringen. Neben dieser beiderseitigen Massierung wurden Durchbrüche zusätzlich dadurch erschwert, dass sie die empfindlichen Nachschubwege vom letzten Gleisende verlängerten und dadurch angreifbarer machten. Die Bombardements des Zweiten Weltkriegs hingegen setzten neben entsprechender Produktion, Flugplätzen und der Versorgung mit Treibstoff im jeweiligen Inland bereits eine komplexe informationstechnische Infrastruktur voraus, welche (defensiv) per Radar vor anfliegenden Bomberflotten warnen und die dahinter gestaffelten Systeme der Luftverteidigung alarmieren oder (offensiv) die Bomber per Stereo-Signal ins Ziel bringen sollte. Die atomare Doktrin des Kalten Krieges erforderte eine räumliche Ausdehnung solcher Warn- und Steuerungssysteme und beförderte damit die Blockbildung: „Um effektiv zu sein, musste diese Infrastrukturen eine gewaltige geografische Reichweite haben, womit Allianzen über möglichst große Teile der Erdoberfläche ein essentieller Teil militärischer Strategie wurden“.[4]
Die hier genannten Systeme wie Eisenbahn und Luftabwehr wurden zwar während des Krieges rasant ausgebaut, jedoch in der Erwartung von Kriegen konzipiert und aufgebaut und spiegeln damit diese Erwartungen wider. Dabei stand nach Högselius u.a. oft (wie z.B. bei der Eisenbahn) nicht von Anfang an der militärische Nutzen im Mittelpunkt neuer Infrastrukturen, wurde jedoch von Militärs jeweils schnell erkannt und diesen Systemen quasi aufgepfropft. Die These, dass der Bau von Autobahnen in Deutschland während des Nationalsozialismus v.a. militärischen Zwecken diente, wird von Historiker*innen hingegen überwiegend abgelehnt, u.a. da bei deren Ausbau die Nord-Süd- und nicht die Ost-West- Verbindungen Priorität hatten. Allgemeiner sollten sie jedoch zur „Kommunikationsverdichtung und nationalen Integration“ beitragen, wobei die „Trassenführung […] explizit darauf ausgerichtet [war], dem deutschen ‚Herrenmenschen‘ das ‚Gefühl für weite Räume‘ (Hitler) zu vermitteln“.[5] Das gilt für Planung und Bau der Autobahnen, „der vorhandene KfZ-Bestand (LKWs und PKWs)“ wurde jedoch „seit Kriegsbeginn sehr weitgehend militärisch genutzt“.[6]
Handelslogistik
„Logistik ermöglicht es, Distanzen kalkulierbar zu überbrücken und schafft eine Handlungsfähigkeit über weite Distanzen hinweg“, so Julian Stenmanns in seiner aktuellen und sehr lesenswerten „Analyse der infrastrukturellen Raumproduktionen zwischen Europa und Afrika“.[7] Dabei lässt sich Raum als „Milieu“ begreifen, „in dem sich Strategien entfalten“: „Die Produktion von Räumen ist stets ein Mittel, das zu Zwecken eingesetzt wird“, so Bernd Belina hingegen in seiner Einführung zum Begriff des Raumes, wobei es letztlich stets darum gehe, diesen Raum „anzueignen“. Dies kann, so Belina in Anlehnung an Lefebvre, durchaus auch in Form einer periphären Anbindung und der Marginalisierung erfolgen: Der strategische Raum erlaube es, „’unruhige Populationen an den Rand zu drängen, u.a. die Arbeiter‘ und ‚das Zentrum als Ort der Entscheidung, des Reichtums, der Macht und der Information zu organisieren‘ […]“.[8]
Stenmanns beschreibt eben dies am Beispiel der Infrastrukturen zwischen Europa und Afrika. Bereits in den 1960er Jahren habe Paul Friedländer „Infrastruktur als ‚Voraussetzung für die koloniale und neokoloniale Ausbeutung’“ Afrikas erkannt und „die Finanzierung von Infrastrukturprojekten auf dem afrikanischen Kontinent durch die Weltbank in der frühen Phase der Dekolonisierung als Grundsteinlegung für ‚die Ausbeutung Afrikas in einem größeren Umfang’“ kritisiert: „Denn die politische und ökonomische Herrschaft über weit entfernte Gebiete ist auf Kommunikations- und Transportinfrastrukturen angewiesen“. Für die Gegenwart beschreibt Stenmanns dies am Beispiel des französischen Konzerns Bolloré, der im Zuge der von der Weltbank seit den 1990er Jahren forcierten (Teil-)Privatisierung afrikanischer Häfen die „Betriebserlaubnis für inzwischen 16 Containerterminals“ erworben hat und von dort aus systematisch die Erschließung des Kontinents vorantreibt: „Die Kontrolle über die Seehäfen und ihre Kräne ist allerdings nur ein erster Schritt. Ausgehend von seinen mittlerweile 76 afrikanischen Zweigstellen kontrolliert Bolloré drei große Eisenbahnstrecken, betreibt spezialisierte LKW-Flotten, sichert sich exklusive Logistikverträge mit Bergbauunternehmen und unterhält im Hinterland der Häfen Güterverkehrszentren. Neben diesen infrastrukturellen Vorleistungen bietet das Unternehmen einen umfänglichen Service an – von der Abholung der Ladung im Landesinneren bis zum Beladen und Löschen im Hafen. Damit zielt das Unternehmen auf die Herstellung zusammenhängender, transnationaler und quasi-monopolistischer Logistiknetzwerke ab, die vollständig unter seiner Kontrolle stehen“.
Zugleich hätten sich die Häfen im Zuge der Vorverlagerung der Migrationsabwehr und des ‚Krieg gegen den Terror‘ zu neuen Orten der Grenzziehung und Differenzierung entwickelt: „Der Hafen, der zuvor ein alltäglicher sozialer Ort war, wird zur hochgesicherten und schwer überwindbaren Grenzzone. Für die lokale Bevölkerung rückt das Versprechen der Logistik von unbegrenzter Mobilität in nahezu unerreichbare Ferne. […] Treffsicher kommentierte ein Mitarbeiter des Hafens in Freetown das neue Terminal: ‚Dort drüben beginnt nun Europa’“. Diese Form der Logistik, so Stenmanns, ermögliche es, dass „die Orte der Wertgenerierung zunehmend von den Orten der Wertaneignung entkoppelt werden“, was u.a. erleichtere, die Macht der Gewerkschaften zu brechen und von unterschiedlichen Lohnniveaus, Steuer- und Umweltregimes zu profitieren. Logistik definiert er dabei als „Steuerungspraxis […], die die Fließgeschwindigkeit und -richtung von Gütern, Personen und Ideen reguliert“: „Die moderne logistische Praxis entstammt der neuzeitlichen Militärwissenschaft. Angesichts der Massenheere des 19. Jahrhunderts sollte die Logistik die ‚Gedanken des Feldherrn auf die entferntesten Punkte des Kriegsschauplatzes […] übertragen‘, so der Schweizer Offizier Antoine-Henri Jomini in seinem 1838 zuerst auf Französisch veröffentlichten, 1881 erstmals in deutscher Übersetzung erschienenen ‚Abriss der Kriegskunst’“.
Raumproduktion im Sahel
Der Artikel Stenmanns‘ ist mit einer Karte des afrikanischen Kontinents illustriert, auf dem die besagten Transportkorridore des Bolloré-Konzernes abgebildet sind, die den Kontinent zu durchziehen scheinen – bezieht man allerdings die enorme Ausdehnung des abgebildeten Gebiets ein, relativiert sich dies. Zwei Regionen fallen dadurch auf, dass sie wenig erschlossen sind: Die riesigen Waldgebiete in der Demokratischen Republik Kongo und – noch deutlich größer und auffälliger: große Teile der Sahara. Nur zwei Korridore verbinden Nordafrika mit dem Süden bzw. Westen des Kontinents: Einer verläuft entlang der algerischen und marokkanischen Nordküste an der Westküste entlang bis in den Senegal, der andere von Ägypten über den Sudan und den Tschad nach Nigeria bzw. Kamerun. Dazwischen klafft eine riesige Lücke, die weite Teile dessen abdeckt, was als Sahel-Region in den letzten Jahren in den Fokus der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) gerückt und Einsatzgebiet deutscher und französischer Soldaten – insbesondere Spezialkräfte – ist. (Überhaupt könnte man zugespitzt sagen, dass da, wo die Transportkorridore enden, meist EU-Militäreinsätze stattfinden. Ein weiteres größeres Land, das nicht an das Bolloré-Netzwerk angeschlossen ist, ist etwa Somalia.)
Die 2011 vom neu eingerichteten Europäischen Auswärtigen Dienst veröffentlichte „Strategie für Sicherheit und Entwicklung in der Sahel-Region“ jedenfalls lässt sich durchaus als Projekt der Raumproduktion bzw. logistisches Konzept lesen: Als Ziele werden benannt, das Potential dortiger Terrorgruppen, Anschläge in Europa zu verüben, zu verringern, „Drogenschmuggel und anderen kriminellen Handel nach Europa einzudämmen, legale Handels- und Kommunikationswege durch den Sahel (Straßen, Pipelines) zu sichern, bestehende ökonomische Interessen zu schützen und die Basis für Handel und Investitionen aus der EU zu schaffen“.[9] Es sollen Fließgeschwindigkeiten reguliert, Ströme unterbrochen und andere abgesichert werden. Was erwünschter bzw. legaler Handel ist und was nicht, wird dabei von Brüssel aus definiert. Denn Transportkorridore durch die Sahara bestehen seit Jahrhunderten – u.a. für Menschen und Zigaretten. Diese sollen durch den Aufbau lokaler Polizei-, Gendarmerie- und Grenzschutzeinheiten unterbrochen werden, während zeitgleich „legale“ Transportkorridore aufgebaut werden – die dann jedoch nicht mehr in der Hand der lokalen Bevölkerung sind, sondern von europäischen Unternehmen und Institutionen kontrolliert und reguliert werden.
Die militärische Logistik am Beispiel Mali
Wie gelingt es nun, die Gedanken der Feldherren in Brüssel in die entlegenen Winkel der Sahara zu bringen? 2011 wurde zunächst einer der regional wichtigsten Akteure, das Gaddafi-Regime in Libyen, durch eine NATO-Militärintervention ausgeschaltet. Dies erfolgte ganz überwiegend per Luftwaffe, die sich auf die zahlreichen Stützpunkte der NATO und ihrer europäischen Mitgliedsstaaten im Mittelmeerraum abstützen konnte. Abgesehen von einigen Spezialkräften jedoch wurden dort bis heute kaum Bodentruppen eingesetzt, sondern auf lokale Milizen zurückgegriffen. 2013 allerdings intervenierte Frankreich in Mali, nachdem sich der Norden des Landes in der Folge der Libyen-Intervention für unabhängig erklärt und in der Hauptstadt ein Putsch stattgefunden hatte. Neben der Luftwaffe griff Frankreich dabei auf Bodentruppen zurück, die sich auch nach deren Unabhängigkeit in den Nachbarstaaten Niger, Burkina Faso und der Elfenbeinküste befanden. Zur unmittelbaren „Stabilisierung“ wurden gut 10.000 Soldaten aus verbündeten afrikanischen Staaten eingeflogen. Diesen Strategischen Lufttransport (aus afrikanischen Staaten nach Mali) unterstützte die deutsche Luftwaffe umfangreich und richtete hierfür eine temporäre Basis am Flughafen von Dakar, Senegal, ein. Mit großer Geschwindigkeit baute die EU im damals noch sicheren Süden des Landes eine Trainingsmission auf, um malische Soldaten auszubilden. Diese ließ sich problemlos über den Flughafen der nahe gelegenen Hauptstadt Bamako versorgen. Kurz darauf folgten „zivile“ EU-Missionen zum Aufbau von Gendarmerie- und Polizeieinheiten ebenfalls in Bamako und der Hauptstadt des benachbarten Niger, Niamey. Seit 2016 jedoch unterhält die Bundeswehr auch ein Feldlager (Camp Castor) im umkämpften Norden Malis, unmittelbar neben dem Flughafen in Gao – wo übrigens einer der nördlichsten Bolloré-Korridore an die westafrikanische Küste endet. Dieses Feldlager wird mittlerweile von einem Luftwaffenstützpunkt in Niamey im benachbarten Niger aus versorgt. Der Strategische Lufttransport nach Bamako oder Niamey erfolgt v.a. von den Flughäfen in Wunstorf, Köln/Bonn und Halle/Leipzig aus – tw. abgestützt auf private Anbieter. Der Taktische Lufttransport von dort nach Gao unterscheidet sich vom Strategischen dadurch, dass er in umkämpftes Gebiet erfolgt. Diese Flugzeuge verfügen deshalb über andere Eigenschaften: Sie müssen keine so große Reichweite und Ladekapazität haben, dafür aber über Abwehrmaßnahmen gegen Beschuss verfügen, sollten Personal und Fahrzeuge aus der Luft absetzen und auch jenseits befestigter Bahnen landen (und auch wieder starten) können.
Die neuen, beim Lufttransportgeschwader 62 in Wunstorf bei Hannover stationierten Transportflugzeuge vom Typ A400M sollten eigentlich beide Fähigkeiten (große Reichweite und Ladekapazität, Fähigkeiten zur Abwehr, Absetzung aus der Luft, Landen ohne Piste) vereinigen. Das wäre eine kleine strategische bzw. logistische Revolution gewesen, an der Airbus jedoch tw. gescheitert ist. Gleichwohl führt uns das Vorhaben deutlich eine strategische Ausrichtung Deutschlands bzw. der EU vor Augen, die mit Landes- oder Bündnisverteidigung sehr wenig zu tun hat. Von Deutschland bzw. Europa aus sollen Truppen und Waffen mit großer Reichweite direkt ins Gefecht bzw. umkämpftes Gebiet gebracht werden. Es ist zugleich offensichtlich, dass dies auf sog. asymmetrische Konflikte bzw. militärisch – zumindest technologisch – unterlegene Gegner abzielt. (Gegen einen vergleichbar ausgerüsteten Gegner wäre die Massierung der eigenen Truppen diesseits der „Front“ durch Strategischen Lufttransport das näher liegende Szenario).
Im Frühjahr 2017 verlegte die Bundeswehr vier Transport- und vier Kampfhubschrauber nach Mali (von denen dort einer abstürzte). Die Kampfhubschrauber (Tiger) aus dem hessischen Fritzlar mussten dafür zunächst teilweise demontiert werden, bevor sie auf LKW zum Flughafen Halle/Leipzig transportiert wurden, von wo sie mit Flugzeugen des Typs An124 der SALIS GmbH nach Bamako und von dort nach Gao gebracht wurden. Das Bundesverteidigungsministerium schreibt zu dieser „Mammutaufgabe“: „Für den Einsatz des Kampfhubschraubers in Afrika haben die Heeresflieger darüber hinaus insgesamt etwa 210 Tonnen Werkzeuge, Ersatzteile, Wartungs- und Klimageräte sowie weiteres Material verladen. Ziel dieses umfangreichen Vorhabens war es, dem Einsatzverband in Gao die uneingeschränkte Nutzung des Waffensystems zu ermöglichen“.[10] Die Transport- wie die Kampfhubschrauber sollten v.a. der Sicherstellung der Rettungskette dienen und den Abtransport von Verwundeten auch aus umkämpften Situationen zum Flughafen Gao ermöglichen. In Niamey steht ständig eine eigens für die medizinische Evakuierung ausgestattete Transall-Maschine bereit, die bei Bedarf die Verwundeten von Gao nach Niamey bringen kann, von wo sie wiederum von einer in Köln/Bonn bereitstehenden Maschine für den strategischen Verwundetentransport abgeholt werden können. Diese Rettungskette definiert den Aktionsradius der deutschen Kräfte und verdeutlicht zugleich den enormen logistischen Aufwand, der alleine für ihre ggf. notwendige medizinische Evakuierung betrieben wird. Laut einem Bericht der Bundeswehr vom August 2017 wurde bereits damals alleine zur Verpflegung des deutsch-französischen Luftdrehkreuzes in Niamey wöchentlich 6 Tonnen Lebensmittel aus Frankreich eingeflogen. Diese umfangreiche Logistik muss natürlich ihrerseits abgesichert werden und sorgt für eine Sichtbarkeit der ausländischen Truppen, die zunächst falsche Erwartungen bei Teilen der lokalen Bevölkerung (schnelle Rückeroberung des Nordens) geweckt hat, aber zunehmend in Ablehnung und Unzufriedenheit umschlägt: Selbst unter den Befürworter*innen der internationalen Truppenpräsenz wächst die Kritik, „dass [dabei] zu viele Ressourcen in den Eigenschutz bzw. die Eigenversorgung gingen (nach unterschiedlichen Schätzungen 70 bis 80 Prozent) und die Mission daher nicht sonderlich effektiv ist“.[11]
Überdehnung
Gelingt es aber wirklich, die Vorstellungen der Planer*innen in Brüssel, Paris und Berlin in der Sahel-Region umzusetzen? Zwar wurden insbesondere in Niger einige zentrale Migrationsrouten unterbrochen (und damit die Bevölkerung um eine wichtige Einnahmequelle gebracht), die Sicherheitslage in der gesamten Region und damit auch der Nachschub- und Transportwege verschlechtert sich jedoch seit Jahren – zuletzt dramatisch. Auch die Akzeptanz in der lokalen Bevölkerung nimmt immer weiter ab, während die Zahl der bewaffneten Gruppen zunimmt.
Die Aneignung von Räumen erfolgt natürlich nicht widerstandslos. Räume, so Belina, werden meist nicht durch „die erfolgreiche Umsetzung einer Strategie“ produziert, sondern sind „viel öfter […] Resultat verschiedener, aufeinandertreffender strategischer räumlicher Praxen“.[12] Dass dabei die technologisch anspruchsvollsten und geografisch ausgedehntesten Strategien und Infrastrukturen grundsätzlich oder auch nur tendenziell überlegen sind, sollte durchaus in Frage gestellt werden. So hat die Eisenbahn und die damit ermöglichte schnelle Verlegung großer Kontingente bei den militärischen Planern Erwartungen an einen schnellen, überwältigenden Sieg genährt, die letztlich in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges und dem Kessel von Stalingrad mündeten.
Infrastrukturen bereiten Kriege vor und geben uns Auskunft über ihren möglichen Verlauf – der dann aber oft ganz andere Gestalt annimmt. In der Geopolitik gibt es die viel zu wenig beachtete Theorie der imperialen Überdehnung, die den Zerfall von Imperien einläutet, indem diese ihren geografischen Einflussbereich zu weit ausdehnen, um ihn wirklich noch kontrollieren zu können. Die von Deutschland und Frankreich vorangetriebene Weltmacht Europa jedenfalls scheint sich schon beim Versuch einer Neudefinition des Sahel-Raumes und der Absicherung der Bolloré-Korridore zu übernehmen. Die logistische Konzeption der A400M des Lufttransportgeschwader 62 in Wunstorf (mittlerweile eingegliedert ins European Air Transport Command, EATC) stehen geradezu sinnbildlich dafür, große Teile der Welt zum Einsatzgebiet einer militärisch gestützten, neokolonialen Einflussnahme zu deklarieren, überall intervenieren, aber nirgendwo wirklich kontrollieren zu können.
Högselius u.a. jedenfalls nennen auch ein Beispiel, in dem sich eine Low-Tech-Logistik, abgestützt auf die lokale Bevölkerung, als überlegen erwiesen hat. Unbemerkt von den französischen Truppen, die Ende 1953 den nordvietnamesischen Flugplatz Dien Bien Phu eingenommen hatten und seitdem aus der Luft versorgt wurden, schafften die Viet Minh 50.000 Soldaten, 200 schwere Maschinengewehre und über 1.000 Tonnen Munition in die Umgebung und überrannten letztlich den französischen Stützpunkt: „Diese demütigende Niederlage schockierte Frankreich und die westliche Welt als Ganzes. Zum ersten Mal hatte eine antikoloniale Befreiungsbewegung eine moderne europäische Streitmacht in offener Schlacht besiegt. Dien Bien Phu hat nicht nur die französische Herrschaft in Indochina beendet, sondern markiert auch den Anfang vom Ende Frankreichs als Kolonialmacht“.[13]
Anmerkungen
[1] Falcke, Eberhard: Dave Eggers blickt in seinem Roman „Die Parade“ in den Abgrund, br.de vom 2.6.2020.
[2] Virilio, Paul/ Petit, Philippe: Cyberwelt, die wissentlich schlimmste Politik. Merve, 2011.
[3] Högselius, Per/ Kaijser, Arne/van der Vleuten, Erik: Europe’s Infrastructure Transition – Economy, War, Nature. Palgrave Macmillan 2016.
[4] Ebd.
[5] Kühne, Thomas: Massenmotorisierung und Verkehrspolitik im 20. Jahrhundert: Technikgeschichte als politische Sozial- und Kulturgeschichte. In: Neue Politische Literatur, 41. Jg., 1996, S. 196–229.
[6] Ebd.
[7] Stenmanns, Julian: Die räumliche Logik der Infrastruktur zwischen Afrika und Europa. In: Archplus, Ausgabe 239, 2020, archplus.net.
[8] Belina, Bernd: Raum. Westfälisches Dampfboot 2013.
[9] European Union External Action Service (EEAS): Strategy for Security and Development in the Sahel, 2011, eeas.europa.eu.
[10] „Acht Bundeswehr-Hubschrauber für VN-Mission in Mali“, bmvg.de vom 21.4.2017.
[11] Afrique-Europe-Interact: UN-Mission MINUSMA in Mali – Empfehlungen von Afrique-Europe-Interact. Offener Brief an Bundesregierung und Bundestag, afrique-europe-interact.net. Zur Kritik der zugrundeliegenden Vorstellungen siehe: Christoph Marischka: Grundsätzliches Missverständnis der deutschen Außenpolitik in Mali – Afrique-Europe-Interact und das Phantasma militärisch gestützter Selbstermächtigung. IMI-Analyse 2020/12.
[12] Belina, Bernd 2013.
[13] Högselius, Per u.A. 2016.