IMI-Standpunkt 2016/030
Ventimiglia: „Solidarität ist hier nicht willkommen“
Repressive Grenzsicherung an der Grenze zwischen Italien und Frankreich
von: Jacqueline Andres | Veröffentlicht am: 26. August 2016
Vor mehr als einem Jahr wurden die Grenzkontrollen zwischen Italien und Frankreich wieder eingeführt. Seitdem prägen sowohl Migrant_innen, die in Italien festsitzen, als auch die starke Polizei- und Militärpräsenz in der italo-französischen Grenzregion das Alltagsbild an der Côte d’Azur. Während die Migrant_innen im vergangenen Jahr immer wieder von der französischen Seite direkt zurück in den Grenz- und Küstenort Ventimiglia abgeschoben wurden, werden sie mittlerweile im vergeblichen Versuch, Norditalien zu „entlasten“, in die Hot Spots nach Taranto, Sardinien und Sizilien zurückgebracht. Von dort treten sie dann erneut die Reise Richtung Norden an. Mittlerweile nimmt die Repression gegen Migrant_innen und Aktivist_innen zuvor ungesehene Dimensionen an, doch noch schafft sie es nicht, die Solidarität mit den Geflüchteten zu brechen und die Migrationsbewegung zu steuern. Der Preis, den die Migrant_innen für ihren Widerstand gegen die Grenzschließung zahlen müssen, ist allerdings hoch.
Das Lager von Ventimiglia
Die in Italien festsitzenden Migrant_innen werden im abgelegenen Auffanglager des Roten Kreuzes in Parco Roja der Kommune Ventimiglia untergebracht, welches von ihnen häufig auch als Gefängnis wahrgenommen und bezeichnet wird. Offiziell besteht in den vom Roten Kreuz mit Hilfe der Caritas betreuten Containern Platz für rund 300 Flüchtlinge, doch diese Zahl wird mit etwa 600 Migrant_innen oft weit überschritten. Ali aus Darfur, 34 Jahre alt, konnte etwa aufgrund der strukturellen Überlastung während seines zweimonatigen Aufenthalts in dem Zentrum nicht einmal in einem Bett schlafen, sondern immer nur auf dem Boden. Auch die medizinische Versorgung ist unzureichend, wie etwa laut Hamza, 31 Jahre alt und ebenfalls aus Darfur, berichtet. Die Ärzte in Parco Roja teilten nur Schmerzmittel aus und bemühten sich nicht um eine anständige Behandlung. Er fragt sich mittlerweile, wie er seinen schwarzen Backenzahn selber ziehen kann. Bereits seit drei Monaten plagen ihn seine Schmerzen – im Auffanglager des Roten Kreuzes wurde er kontinuierlich auf den folgenden Tag vertröstet. Ein weiterer Geflüchteter aus Darfur hat in Libyen von einer bewaffneten Rebellengruppe einen Schlag mit dem Gewehrkolben gegen die Stirn erhalten. Vier Tage lang litt er an Nasenbluten und bis heute spürt er täglich starke Kopfschmerzen. Auch er erhielt vom Roten Kreuz keine richtige medizinische Untersuchung und hofft stattdessen auf einen Arztbesuch nach einer Asylantragsstellung in Frankreich.
Das stundenlange Warten in den Schlangen bei der Essensausgabe im Lager werden von der Polizei begleitet, die bei Protesten einschreitet. Laut Abdel Gassim, 26 Jahre alt und aus Kordofan, wurde in diesem Kontext ein ebenfalls sudanesischer Flüchtling bei einer Auseinandersetzung mit einem ägyptischen Mitarbeiter des Roten Kreuzes, der die Polizei zu Hilfe rief, von dieser mit einem Teaser am Hals angegriffen und anschließend bewusstlos weggetragen. Das Essen selbst ist unzureichend, bei der Frühstücksausgabe erhalten die Migrant_innen Kekse und gezuckertes Wasser mit ein wenig Milch. Das Brot ist trocken und das Essen schmeckt alt – einige vermuten sogar eine Beisetzung von Beruhigungsmitteln, da sie nach dem Verzehr der Speisen eine starke Müdigkeit verspüren.
Erst Anfang August kehrte eine Gruppe von etwa 200 Sudanesen mit der Forderung nach Würde, Freiheit und Öffnung der Grenze auf die das Meer säumenden Felsen nur wenige Meter vor der französischen Grenze zurück, die sie letztes Jahr monatelang besetzt hatten. Doch der Protest, bei dem die Migrant_innen versuchten, die Grenze entlang der Felsen zu überqueren, wurde mit Gewalt von Seiten der staatlichen Sicherheitskräfte beendet. Ein Migrant wurde schwer verletzt in das Krankenhaus gebracht, die politisch engagierten Flüchtlinge wurden angeblich mit drei Bussen in den Süden abgeschoben, so der Bericht eines weiteren Menschen aus Darfur. Er selbst sollte auch deportiert werden, doch der Platz reichte nicht aus. Seither lebt er auf der Straße und versucht weiterhin sein Glück, die Grenze zu überwinden. No Border Aktivist_innen wurden vom Versuch, die Demonstrierenden mit Essen und Wasser zu versorgen, abgehalten und sowohl von der italienischen Polizei als auch von der französischen Police de Frontières (PAF) festgenommen. Zwei der italienischen Aktivist_innen erhielten einen drei Jahre gültigen Platzverweis für Ventimiglia und weitere 15 angrenzende Kommunen und vier Aktivist_innen aus Großbritannien und Frankreich erhielten ein fünfjähriges Einreiseverbot nach Italien. Der Bürgermeister der Stadt Ventimiglia, Enrico Ioculano, erließ bereits im Juli auf Grund von „Infektionsgefahren“ eine Anordnung gegen das Austeilen von Essen und Trinken an die Migrant_innen – alleine die Caritas und das Rote Kreuz wurden ausgenommen. Im vergangenen Jahr verweigerten die Geflüchteten die Essensausgabe des Roten Kreuzes an der Grenze, nachdem Mitarbeiter_innen der Organisation tatenlos der Polizeigewalt gegen Geflüchtete zusahen und anschließend den staatlichen Sicherheitskräften ihr Fahrzeug zur Rückführung der Migrant_innen nach Ventimiglia zur Verfügung stellten.
Militarisierung der Grenzkontrollen
Auch außerhalb des Zentrums des Roten Kreuzes bleiben die Flüchtlinge auf Grund der starken Polizeipräsenz nicht unbeobachtet. Nach einem nur zehnminütigen Gespräch mit Menschen aus Eritrea und dem Sudan vor der Kirche Sant‘ Antonio in Ventimiglia halten zwei Streifenwagen der Polizei neben uns auf dem öffentlichen Parkplatz in Via Tenda und fordern unsere Papiere. „Haut ab von hier – No Border sind hier nicht willkommen!“ erklärte einer der Polizisten. Auf die Frage nach dem Grund der Personalkontrolle entgegnet er: „Wir sind hier in Italien. Ich muss dir keinen Paragrafen nennen“. Sein Amtskollege der DIGOS1 stimmt ihm dabei zu. Abgesehen von der Polizei, der DIGOS(1) und den Carabinieri sind auch Soldaten der Operation Strade Sicure an der Migrationskontrolle beteiligt. Der Grenzbahnhof in Ventimiglia wird zur unüberbrückbaren Hürde für Migrant_innen ohne die notwendigen Papiere. Während im vergangenen Jahr noch Dutzende Menschen vor dem Bahnhof auf ihr Glück warteten, sind heute kaum noch Geflüchtete zu sehen. Zu hoch ist mittlerweile das Risiko, nach Süditalien abgeschoben zu werden und sich erneut an die französische Grenze durchkämpfen zu müssen. Ahmed etwa wurde bereits zweimal in das 1.400 km südlich von Ventimiglia gelegene Taranto abgeschoben – einmal vom Bahnhof Piazza Principe in Genua aus und einmal gleich nach seiner Ankunft an einem Bahngleis in Ventimiglia. Beide Male wurden ihm erneut seine Fingerabdrücke abgenommen und anschließend wurde er aus Taranto weggeschickt. Ihm sei gesagt worden, „geh!“ – aber ohne jeden Hinweis, wie und wohin er gehen sollte. Die inneritalienische „Rückführungspolitik“ entlarvt sich als reine Schikane, die zu einer Entlastung der notdürftigen Strukturen im Norden beitragen soll. „Warum lassen sie uns nicht einfach in Ruhe, wenn sie uns jedes Mal wieder wegschicken, nachdem sie uns festnehmen?“ so Ahmed. Ohne Geld und ohne Rechte sei die Reise in den Norden alles andere als leicht.
Auf der französischen Seite nimmt die Überwachung ebenfalls zu. Die aus Ventimiglia in Menton ankommenden Zügen werden von der Compagnies Républicaines de Sécurité, der französischen Bereitschaftspolizei, nach Migrant_innen kontrolliert, die dann wieder nach Italien abgeschoben werden. Seit Januar 2015 besteht die Operation Sentinelle, in deren Rahmen rund 10.000 bis 15.000 Soldat_innen im Dienst der „Inneren Sicherheit“ vor verschiedenen öffentliche Plätzen in Frankreich patrouillieren. Nach dem Anschlag in Nizza am 4. Juli 2016, der von staatlicher Seite dem IS zugeschrieben wurde, weitete der französische Verteidigungsminister die Mission aus und betonte, dass die Soldat_innen vermehrt die Grenze zu Italien und die touristischen Orte kontrollieren sollen. Am Strand von Nizza sind mittlerweile Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag Normalität geworden. Zudem werden Hubschrauber zur Grenzüberwachung eingesetzt und Aktivist_innen vermuten, Drohnen gesichtet zu haben. Seit mehr als einem Jahr werden die Hauptbahnhöfe in Nizza und Marseille von der Police aux Frontières (PAF) nach Personen ohne gültige Papiere abgesucht. In Ventimiglia begegnet man dann wieder den abgeschobenen Migrant_innen, denen das Recht auf eine Asylantragsstellung in Frankreich verweigert wurde.
Seit über drei Wochen hat nun auch die Schweiz die Grenze zu Italien für Migrant_innen geschlossen. Mit etwa zweitausend Grenzschutzbeamt_innen werden in der Schweiz die hunderten täglich aus der italienischen Stadt Chiasso kommenden Züge und verschiedene Zugangsstraßen durch Racial Profiling nach Geflüchteten durchsucht. Nachts kommt eine mit Infrarottechnologie ausgestattete Militärdrohne zum Einsatz, die die von Menschen und Tieren verursachten Wärmebilder aufspürt. Oft wird sie in Gebiete geflogen, aus der die Polizei Hinweise zu verdächtigen Vorgängen von Bewohner_innen erhielt. Mindestens zwei Mal steuerten Soldat_innen in Zusammenarbeit mit Grenzbeamt_innen die Drohne von der Schweizer Militärbasis in Locarno aus, um gegen Kriminalität und illegalisierte Migration vorzugehen.(2) Auch hier werden die Migrant_innen wieder zurück nach Italien abgeschoben. Am Bahnhof von Como versuchen zur Zeit mehr als 300 Migrant_innen – hauptsächlich aus Eritrea, Sudan und Äthiopien – verzweifelt, ihren Weg nach Schweden und Deutschland fortzusetzen, wo sie Verwandtschaft und Freund_innen haben. Auch von hier deportieren italienische Sicherheitskräfte sie zurück in die Hot Spots, von wo aus sie sich erneut auf den Weg Richtung Norden begeben.
Repression gegen Solidarität
Die Repression in Ventimiglia und auf der französischen Gegenseite nahm nach dem Anschlag am 14. Juli 2016 in Nizza zu, denn der Attentäter wurde angeblich auf Fotos der No Border Proteste gegen die Grenzschließung im Sommer 2015 gesichtet. Dies lässt sich gut in die anhaltende Diffamierung der Solidarität mit Migrant_innen in Ventimiglia durch Politik und Medien integrieren. In einer lokalen Zeitung wurde unterstellt, es handele sich dabei um „Guerilla-erfahrene syrische Aktivist_innen“, der Imam aus Nizza, der im vergangenen Jahr täglich hunderte Migrant_innen mit Essen versorgte, wurde verdächtigt, dem IS nahe zu stehen. Seit Anfang des Jahres erhielten rund 60 Aktivist_innen einen Platzverweis (Foglio di via) mit einer Gültigkeit von drei Jahren für 16 Kommunen in der Provinz von Imperia. Aktivist_innen aus Frankreich und Großbritannien erhielten ein fünfjähriges Einreiseverbot nach Italien. Zahlreiche weitere wurden festgesetzt und auf der Polizeiwache verhört. Eine Verankerung der No Border Aktivist_innen in der Stadt ist unerwünscht. Das alternative selbstorganisierte Camp in Balzi Rossi, nur etwa 100 Meter entfernt von der Grenze, wurde bereits im vergangenen Jahr geräumt. Letzte Woche sollte der so genannte Freespot in Campo Rosso, eine logistische Anlaufstelle für Aktivist_innen und Migrant_innen in einem gemieteten Raum, geräumt werden. Obwohl der Vermieter mit der Nutzung des offiziellen Geschäftsraums einverstanden war, bestand die Polizei, die kurz zuvor eine Razzia in den Räumlichkeiten durchgeführt hatte, darauf, dass der Raum nicht weiter von Aktivist_innen genutzt werden dürfe. Begründung ist die Wahrung der generellen Sicherheit und der Vorwurf, der Raum werde nicht wie vertraglich festgelegt als Geschäftsraum genutzt.
Die Solidarität und Kommunikation mit den Migrant_innen fordert die staatliche Grenzpolitik heraus. Einerseits treten durch die Kommunikation mit den Migrant_innen die erlebte Gewaltanwendung von staatlicher Seite hervor und andererseits zeigen Solidaritätsaktionen bei der Grenzübertretung, wie leicht die rassistische Grenzkontrolle zu überwinden ist. Einige Fluchthelfer_innen wurden festgenommen, wie der vom Recht auf Bewegungsfreiheit überzeugte Felix Croft, der in seinem Auto zwei Menschen ohne Papiere nach Frankreich fuhr. Nach nur zwei Tagen wurden er auf richterlichen Beschluss wieder freigelassen. Eine weitere Person wurde kurzfristig in Frankreich festgenommen, weil sie Menschen ohne Dokumente in ihrem Haus unterbrachte. Im Gegensatz zu den Personen, die Geld für diese Dienste fordern, konnte denen, die aus Solidarität handeln, bis jetzt noch keine Haftstrafe auferlegt werden.
Die starke Grenzkontrolle und Gewalt gegen Migrant_innen ist für viele entmutigend und treibt sie weiter in andere Länder der EU. Der etwa zehnjährige Hassan reiste in seiner Suche nach Freiheit alleine von Eritrea bis nach Italien. Von Eritrea brachte ihn seine Suche zunächst in den Sudan, nach Libyen und nach Italien, doch bis jetzt blieb seine Suche erfolglos und erst wenn er Freiheit findet, will er sich niederlassen. Weitere Geflüchtete erzählen ähnliche Geschichten. Mousa, 36 Jahre, war lange Mitglied der Bewegung Adl we Mousawa (Gerechtigkeit und Gleichheit, JEM) im Sudan. Ziele der Partei sind ihm zufolge soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Antirassismus, Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen. Nachdem nach ihm wegen seiner politischen Aktivitäten gefahndet wurde, floh er in den Tschad. Ein weiterer Sudanese, der 29 Jahre alte Selim, nahm in der Hauptstadt Karthum bei Anti-Regierungsprotesten im Rahmen des arabischen Frühlings teil. Doch Sicherheitsdienste filmten die Demonstrierenden und verhafteten die Teilnehmer nachts in ihren Häusern. Er beschloss, sich auf die Suche nach Gerechtigkeit und Arbeit in Europa zu begeben. Für diese Menschen ist der solidarische Raum, in dem gemeinsam gekocht, aufgeräumt und gelacht wird, die erste Erfahrung von gelebter Freiheit in Europa. „Ihr seid das Europa, das wir uns wünschen.“ Jede Nacht überqueren Migrant_innen die Grenze zu Frankreich. Weder die italienische noch die französischen Staatskräfte können die Grenze komplett kontrollieren. Doch mit Solidarität wird es den Migrant_innen erleichtert, sich durch die Wirren der irrsinnigen Grenzpolitik Europas zu bewegen und sie zeigt Alternativen zu dem Grenzwahnsinn auf, die das staatliche Sicherheitsnarrativ in Schwierigkeiten bringen können.
Anmerkungen:
(1) Divisione Investigazioni Generali e Operazioni Speciali ist die ‚Abteilung für allgemeine Ermittlungen und Sonderoperationen‘ der italienischen Staatspolizei, welche als in Zivil gekleidete Polizei sowohl in der Extremismusbekämpfung als auch bei Protesten eingesetzt wird.
(2) Francesca Sironi: Droni, controlli, pattuglie: così la Svizzera dà la caccia ai migranti al confine, espresso.repubblica.it, 18.08.2016