IMI-Analyse 2016/22

Die (hybride) Rolle der NATO bei der Zerstörung Syriens

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 20. Juni 2016

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Obwohl die NATO selbst erst relativ spät und zögerlich eine Rolle im Syrienkonflikt einnahm, trägt sie doch wesentliche Mitverantwortung für dessen Eskalation. Während der Frühphase der Proteste in Syrien ab März 2011 dominierte die Situation in Libyen international wie im arabischen Sprachraum die Medien. Von dort wurde bereits im Januar von Protesten berichtet, die schnell in einen Bürgerkrieg mündeten, bei dem zunächst Frankreich, die USA und Großbritannien mit Verbündeten aus den Golfstaaten und kurz darauf die NATO mit massiven Luftschlägen eingriffen. Unweigerlich wurde Libyen damit zum Vorbild jener Kräfte in Syrien (und international), die auch hier einen gewaltsamen Umsturz vornehmen wollten.[1] Die Intervention in Libyen bestärkte damit Oppositionelle in Syrien, aus einer Situation offensichtlicher militärischer Unterlegenheit zu den Waffen zu greifen und die Kampfhandlungen zu eskalieren. Dies lässt sich am Unterschied zwischen den Strategien der kurdischen Kräfte um die PYD und der lose mit dem Syrischen Nationalrat verbundenen Freien Syrischen Armee (FSA) veranschaulichen: Die Kurden, die weder auf Unterstützung der NATO hofften noch diese forderten, beschränkten sich lange darauf, sich selbst zu verteidigen und im Zuge des Konfliktes an Autonomie zu gewinnen. Die FSA, die mehrfach nach libyschem Vorbild eine international durchgesetzte Flugverbotszone forderte, strebte trotz ihrer relativen militärischen Schwäche den Sturz des Regimes und die Machtübernahme in Damaskus an.

Aber auch im UN-Sicherheitsrat hat die Libyen-Intervention der NATO dazu beigetragen, dass sich der Syrienkonflikt zum Stellvertreterkonflikt auswuchs. So begründete die Brookings Institution im März 2012 in einem „Memo“ unter dem vielsagenden Titel „Saving Syria: Assessing Options for Regime Change“ [Syrien retten: Optionen für einen Regime Change], warum eine diplomatische Lösung – aus ihrer Sicht ein international erzwungener Rücktritt Assads – in Syrien aussichtslos sei: „[Russland und China] haben deutlich gemacht, dass sie einem durch internationale Intervention erzwungenen Regime Change – auch aus humanitären Gründen – widersprechen. Die russische Rhetorik unterstreicht, dass man sich durch den Übergang vom Schutz der Zivilbevölkerung zum Regime Change in Libyen getäuscht fühle und macht klar, dass man dies in Syrien nicht wiederholen wolle… Moskau und Peking sind entschlossen, keinen weiteren Präzedenzfall zuzulassen, nach dem die internationale Gemeinschaft ein Recht hat, in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates zu intervenieren.“[2]

Parteinahme gegen die syrische Regierung

In gewisser Weise schien diese Nachricht angekommen zu sein. Vom Beginn des Konflikts bis Juni 2012 wurde Syrien in keiner Pressemitteilung der NATO auch nur erwähnt, auf Pressekonferenzen hatte deren damaliger Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen wiederholt auf Nachfrage unterstrichen, dass die NATO  „keinerlei Absichten“ habe, auch in Syrien zu intervenieren und begründete dies u. a. mit dem Fehlen einer entsprechenden Resolution des Sicherheitsrates. Wie die NATO im Fall einer entsprechenden Resolution agieren würde, ließ er konsequent offen. Die Formulierung „keinerlei Absichten“ wiederholte Rasmussen hinsichtlich Syriens tatsächlich mantraartig, bis Anfang 2012 anlässlich des 60jährigen Jubiläums des Beitritts der Türkei zur NATO einige gemeinsame Stellungnahmen und Pressekonferenzen auf dem Programm standen. Bei einer Rede in Ankara am 17. Februar 2012 unter dem Titel „Neue NATO – Neue Türkei“ betonte er zunächst den Nutzen der Allianz, durch die alle „Aggressoren“ wüssten: „Einen Alliierten zu bedrohen, bedeutet, uns alle zu bedrohen“. Konkret auf Syrien bezogen lobte und begrüßte er die „türkischen Bemühungen um eine friedliche Lösung des Konfliktes“, dessen einzige Lösung darin bestehe, „die demokratischen Forderungen des Volkes zu erfüllen.“ Doch er ging noch weiter und unterstützte die zu jener Zeit zunehmend von der Türkei offen formulierten Großmachtambitionen: „Ich glaube, dass – während sich der Arabische Frühling entfaltet – fortgesetzte türkische Führung entscheidend sein wird für eine friedliche Zukunft“.[3] In folgenden Pressekonferenzen hielt er zwar an seiner Aussage fest, die NATO habe keine Absicht, zu intervenieren, ergänzte diese aber um Formulierungen, wonach die NATO die Lage in Syrien „aufmerksam verfolge“, weil diese einen Verbündeten betreffe und die „regionale Stabilität“ bedrohe.

In den folgenden Wochen verschärfte sich die internationale Lage und damit auch der von der NATO angeschlagene Ton deutlich. Anfang Februar 2012 hatten China und Russland im UN-Sicherheitsrat eine Resolution abgelehnt, die alleine die syrische Regierung für die Eskalation verantwortlich machte und Optionen für eine militärische Intervention enthielt. Bereits im Vorfeld war in mehreren NATO-Staaten – insbesondere den USA – zunehmend offen auch von Regierungsseite über eine Intervention diskutiert worden. Am 24. Februar wurden dann auf französische Initiative in Tunis die „Freunde Syriens“ ins Leben gerufen. Beteiligt waren hieran führend die offen auf einen Sturz Assads hinarbeitenden Golfstaaten und die Türkei, die USA, die Europäische Union sowie Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland. Ebenfalls vertreten war der Syrische Nationalrat, der die anwesenden Regierungen aufforderte, Waffen an die Aufständischen zu liefern bzw. entsprechende Waffenlieferungen zu dulden. Die Folgen dieses Treffens waren schwerwiegend, denn es kam in der Praxis der Anerkennung des Syrischen Nationalrates als quasi-Regierung durch eine mächtige Staatengruppe gleich. Wenn aber auf demselben Territorium von verschiedenen Staatengruppen unterschiedliche Akteure als Regierung anerkannt werden, so ist der Weg in einen internationalisierten Bürgerkrieg nahezu unausweichlich. Obwohl die NATO als solche dabei nicht vertreten war, begrüßte deren Generalsekretär am 2. April ausdrücklich die Gründung der Freunde Syriens und deren „Bemühungen, eine politische und friedliche Lösung des Konflikts in Syrien zu finden“. Bereits zuvor hatte er kritisiert, dass die fehlende Einigkeit im Sicherheitsrat es verhindert habe, „eine sehr deutliche Nachricht an die Führung in Damaskus zu schicken“.

Rückendeckung für die Türkei

Nach einem Treffen des Nordatlantikrates am 18. April 2012 bezeichnete der Generalsekretär die Lage in Syrien als „Anlass zur Sorge“. Was er danach ausführte, liest sich im Nachhinein fast wie ein Skript hin zu einer offiziellen Rolle der NATO im Syrien-Konflikt: „… wenn es eine Anfrage von irgendeinem Mitglied der Allianz gibt, sich über eine Sicherheitslage zu beraten, dann haben wir eine sehr klare Regel …, dass wir vorbereitet sind, über jedes Thema zu beraten, das ein Verbündeter auf den Tisch bringt“.[4] Gut zwei Monate später war es soweit. Die Türkei hatte „Konsultationen“ unter Artikel 4 des Washingtoner Vertrages einberufen, nachdem nach Angaben aus Ankara ein türkischer Kampfjet in internationalem Luftraum abgeschossen wurde. In der Zwischenzeit war die Lage durch ein Massaker in der Ebene von Hula am 25. Mai 2012 weiter eskaliert. Dort wurden am Rande von Gefechten zwischen der syrischen Armee und der FSA 84 Angehörige dreier Familien z. T. bestialisch ermordet.[5] Noch bevor irgendwelche Untersuchungen durchgeführt werden konnten, beschuldigten westliche Medien und Regierungen einhellig die Regierung Assad und die meisten „Freunde Syriens“ – darunter Deutschland – wiesen in einer konzertierten Aktion die syrischen Botschafter aus. Damit hatten die meisten NATO-Staaten ihre diplomatischen Beziehungen zur amtierenden Regierung abgebrochen, während zumindest einige Verbündete – darunter die Türkei – Waffen an Oppositionsgruppen lieferten. In diesem Kontext flog ein türkischer Kampfjet am 22. Juni mehrfach in niedriger Höhe und mit großer Geschwindigkeit vom Mittelmeer auf syrisches Territorium zu und verletzte dabei auch den syrischen Luftraum, bevor er in syrischen Gewässern abstürzte. Soweit stimmen syrische und türkische Angaben überein. Unterschiedliche Darstellungen gab es jedoch zum konkreten Ort des Abschusses und damit dessen Legitimität. Obwohl die türkische Version bereits damals äußerst unplausibel war und auch später faktisch widerlegt wurde,[6] machte sie sich die NATO nach den Konsultationen in ihren offiziellen Verlautbarungen zueigen und verurteilte den Abschuss als „inakzeptabel“ und „weiteren Beweis für die Nicht-Achtung internationaler Normen, des Friedens und der Sicherheit und menschlichen Lebens“.[7] Der Generalsekretär gab bekannt, dass das Bündnis die Entwicklungen an der „südöstlichen Grenze der NATO“ genauestens beobachten werde und „die Sicherheit des Bündnisses unteilbar“ sei. Das war durchaus als Kriegsdrohung an Syrien zu verstehen und als Rückendeckung, wenn nicht gar Aufforderung an die Türkei, weitere Zwischenfälle zu provozieren.

Solche Zwischenfälle ereigneten sich Ende September und Anfang Oktober 2012, als mehrfach von syrischem Territorium aus Granaten und Artilleriegeschosse auf grenznahem türkischen Gebiet einschlugen. Obwohl zu jener Zeit nahe der Grenze heftige Gefechte stattfanden und unklar blieb, wer die Geschosse abgefeuert hatte (in einem Fall stammten sie nachweislich aus NATO-Beständen), beschuldigten die Türkei und ihre NATO-Partner die syrische Armee. Bereits zuvor hatte die Türkei ihre Truppen an der syrischen Grenze aufgestockt. Am 3. Oktober tötete dann eine von Syrien kommende Granate fünf Menschen in der Türkei, woraufhin deren Streitkräfte Stellungen der syrischen Armee beschossen und noch am selben Tag der Nordatlantikrat zu Konsultationen nach Artikel 4 zusammentrat. Am folgenden Tag erlaubte das türkische Parlament der Regierung, die Armee ohne weitere Beratung im Norden Syriens einzusetzen. Hierzu enthielt sich die NATO jeder Kritik und betonte stattdessen wieder und wieder ihre „Solidarität“ mit der Türkei. In den folgenden Wochen nahm das Säbelrasseln weiter zu. Immer mehr NATO-Staaten diskutierten offen über eine Intervention. Am 10. Oktober zwang die Türkei ein russisches Flugzeug zur Landung und vier Tage später veröffentlichte Dominic Johnson, Ressortleiter Ausland der deutschen tageszeitung (taz), einen Aufruf unter dem Titel „Eingreifen! Jetzt!“: „Zehntausende Soldaten und hunderte Kampfpanzer hat die türkische Armee an die Grenze verlegt. Warum sollen sie nicht nach Syrien rollen und dort die Menschen gegen den Massakerapparat Assads schützen? … Es gibt in Syrien heute einzig und allein eine militärische Entscheidung.“[8] Mitte November wurde dann bekannt, dass im Pentagon Planungen für eine mögliche Intervention mit 75.000 Soldat_innen angestellt werden. Am 21. November bat die Türkei offiziell die NATO um Unterstützung bei der Luftverteidigung, woraufhin die USA, Deutschland und die Niederlande Bereitschaft signalisierten. Am 4. Dezember 2012 gab die NATO bekannt, dem türkischen Ersuchen nachzukommen und Luftabwehrbatterien im Land zu stationieren, die direkt dem Oberkommandierenden der NATO in Europa unterstehen. Obgleich in der entsprechenden Pressemitteilung des Bündnisses betont wurde, dass die NATO nicht plane, eine „Flugverbotszone“ zu errichten, warnten zugleich der US-Präsident, der NATO-Generalsekretär und auch der deutsche Außenminister, dass mit dem Einsatz von Chemiewaffen eine „Rote Linie“ überschritten werde, die „ernsthafte Konsequenzen“ und eine „klare internationale Reaktion“ hervorrufen würde.[9] Viele Medien werteten das als Ankündigung einer NATO-Intervention und noch am selben Tage gaben sowohl die UN wie auch die EU bekannt, dass sie ihr Personal und ihre Aktivitäten in Syrien auf ein Minimum zurückfahren würden, was ein typisches Anzeichen für bevorstehende Luftschläge ist.

Drohen, abwarten und zuschauen

Die erwarteten Luftschläge blieben jedoch aus und tatsächlich beschränkte sich die Rolle der NATO auf den „Einsatz zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO“ (Active Fence Turkey), an dem sich Deutschland mit bis zu 400 Soldaten (bis Ende 2015 in Rotation insgesamt 3.600) beteiligte. Doch die Interventionsdrohung blieb natürlich bestehen und führte zu einer spürbaren Zurückhaltung der syrischen Armee im Grenzgebiet zur Türkei, das bewaffneten Gruppen, die einen Sturz des Regimes in Syrien anstrebten, als Nachschubweg diente. Die Unterstützung der bewaffneten Opposition aus der Türkei durch den Geheimdienst, Ausbildung, Rückzugsräume und ein Koordinationsbüro nahe Incirlik sowie der ungehinderte Fluss an Waffen und Kämpfern aus der Türkei hatten bereits spätestens 2012 ein Ausmaß angenommen, mit dem sie durchaus auch als Angriffshandlung hätten gewertet werden können. Sie erfolgte in enger Zusammenarbeit mit Katar und Saudi Arabien – die Waffen und Geld lieferten – und loser Koordinierung mit den USA, über die letztlich auch deutsche Geheimdienstinformationen (gesammelt u.a vom Spionageschiff „Oker“ der Bundeswehr) über syrische Truppenbewegungen an die Aufständischen gelangt sein sollen. Diese bewaffneten Gruppen, die zu jener Zeit in westlichen Medien noch meist als FSA oder demokratische Opposition bezeichnet wurden, zerfielen jedoch in immer mehr religiös und ethnisch geprägte Milizen mit oft auch rein kriminellen Motiven. Bereits im August 2012 war zumindest den USA nachweislich bekannt, dass dabei islamistische und djihadistische Gruppen längst die Oberhand gewonnen hatten und im November 2012 wiesen auch Oppositionsmitglieder öffentlich hierauf hin.[10] Trotzdem sind weder von den USA noch von den anderen NATO-Staaten irgendwelche Bemühungen bekannt geworden, den Nachschub von Waffen und Kämpfern insbesondere aus den Golfstaaten in die Region zu unterbrechen. Im Gegenteil modifizierte die Europäische Union im Mai 2013 ihre Sanktionen gegen Syrien so, dass sie zwar weiterhin Waffenlieferungen und auch sonstigen Handel mit der syrischen Regierung verbot, militärische Lieferungen der Mitgliedsstaaten an die Rebellen jedoch ermöglichten.[11]

Entsprechend wurde der Konflikt in Syrien immer unübersichtlicher und eskalierte weiter. Nachdem von oppositionellen Kräften bereits zuvor mehrfach vom Einsatz durch chemische Waffen durch das Regime berichtet wurde, kam es am 21. August 2013 in Ghouta bei Damaskus offensichtlich zu einem massiven Einsatz von Giftgas in von Rebellen kontrolliertem Gebiet – nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt, an dem UN-Beobachter seit drei Tagen auf Einladung der syrischen Regierung untergebracht waren, um die bisherigen Verdachtsfälle auf den Einsatz von Chemiewaffen zu untersuchen. Eine Woche später traf sich der Nordatlantikrat zu einem Sondergipfel zu Syrien, in dessen Anschluss NATO-Generalsekretär Rasmussen der syrischen Regierung die Verantwortung zuschrieb und den Einsatz von Chemiewaffen als „Bedrohung der internationalen Sicherheit und des Friedens“ bezeichnete, jene Formulierung, unter der der Sicherheitsrat Maßnahmen nach Kapitel VII beschließen kann. Mehrere NATO-Staaten behaupteten anschließend, dass ihren Geheimdiensten – darunter der Bundesnachrichtendienst – Beweise vorlägen, wonach die syrische Armee oder gar Assad persönlich den Einsatz von Giftgas befohlen hätte. Die von Deutschland, Frankreich und den USA vorgebrachte Beweisführung war zwar jeweils unterschiedlich, legte aber einen regen Austausch von Geheimdienstinformationen nahe und etablierte quasi nebenher weitere unbewiesene Narrative wie jenes, dass die syrische Armee bereits zuvor in mindestens 14 Fällen Giftgas eingesetzt habe.

Die Regierungsspitzen der Türkei, Frankreichs, Großbritanniens und der USA sprachen sich daraufhin offen für eine militärische Intervention aus, doch bereits unter ihnen bestand keine klare Einigkeit über deren Charakter und Reichweite. Insbesondere in den USA tendierte die öffentliche Meinung stark gegen den Einsatz von Bodentruppen. Wozu der v. a. von der Türkei und Frankreich geforderte Regime Change ohne Bodentruppen führen könnte, zeichnete sich zugleich in Libyen ab, weshalb v. a. der US-Präsident begrenzte Luftschläge als Strafmaßnahme bevorzugte. Obama und David Cameron baten – obwohl dies jeweils nicht nötig war – um parlamentarische Zustimmung, die in Großbritannien krachend scheiterte, was dem Ansehen des Premierministers massiven Schaden zufügte. In den USA wurde eine entsprechende Resolution zwar vom Ausschuss des Senats angenommen, im Repräsentantenhaus deutete sich aber ebenfalls die Möglichkeit einer Niederlage an. Zur Abstimmung dort kam es nicht, denn zwischenzeitlich hatte Russland ein Angebot unterbreitet: Syrien würde seine Giftgasbestände zur Vernichtung unter internationaler Kontrolle abgeben und der Chemiewaffenkonvention beitreten. Am 14. September 2012 wurde die entsprechende Vereinbarung zwischen den USA und Russland finalisiert. Obwohl die NATO auch hierbei wieder offiziell keine Rolle spielte, trat drei Tage später der NATO-Russland-Rat in dieser Angelegenheit zusammen. Im Anschluss kündigte Rasmussen an, dass der Sicherheitsrat Maßnahmen nach Kapitel VII verabschieden werde, falls Syrien den Plan nicht vollumfänglich umsetzen würde. Russland allerdings hatte Maßnahmen nach Kapitel VII sowohl zuvor, als auch danach konsequent abgelehnt.

Von der roten Linie zur Wiederanerkennung

Die Folgen der Chemiewaffen-Vereinbarung waren vielseitig. Zunächst ermöglichte sie den Regierungen in den USA und Großbritannien, einen Krieg nicht zu führen, den sie zwar angekündigt hatten, gegen den es aber breiten Widerstand in der Bevölkerung und zumindest in den USA auch innerhalb des Militärs gab. Eine weitere Internationalisierung und Eskalation des Krieges war damit abgewendet. Zugleich verdeutlichte die Vereinbarung zwischen den USA und Russland, wie sehr der Konflikt in Syrien bereits zum Stellvertreterkrieg geworden war, in dem sich konkurrierende Großmächte darauf einigen, wie der betreffende Staat zu agieren habe. Eine weitere Folge war eher subtiler Natur, aber alles andere als unwichtig: Die Verantwortung für die Erfassung, Sicherung und Übergabe der Chemiewaffenbestände oblag der syrischen Regierung. Zumindest bis zu deren Abwicklung hatten nun auch die westlichen Staaten wieder ein Interesse an Stabilität zumindest in jenen Gebieten, in denen Chemiewaffen stationiert waren. Zwangsläufig mussten nicht nur auf Arbeitsebene diplomatische Kontakte wiederbelebt werden, der Beitritt der nun auch in den Medien wieder öfter so genannten „syrischen Regierung“ zur Chemiewaffenkonvention wurde international anerkannt und damit auch sie selbst. Das mag auf den ersten Blick v. a. als diplomatischer Sieg Russlands erscheinen, dürfte aber auch den Interessen einiger westlicher Akteure entsprochen haben. Gegenüber der zuvor insbesondere durch die Politik der „Freunde Syriens“ geschaffenen Pfadabhängigkeit in Richtung Regime Change ermöglichte die Wiederanerkennung angesichts einer klaren Dominanz sektiererischer, islamistischer Gruppen innerhalb der (bewaffneten) Opposition wieder zusätzliche Flexibilität. Wegen des Bürgerkrieges und ihrer katastrophalen Menschenrechtsbilanz konnten die Kriegsdrohungen gegen die syrische Regierung zwar weiter aufrechterhalten werden, zugleich war es jedoch zumindest theoretisch auch wieder möglich, in Verhandlungen zu treten oder die vom Regime gehaltenen Gebiete sogar zu stabilisieren, um eine weitere Ausdehnung zumindest der radikalsten islamistischen Kräfte zu verhindern.

Der Plan zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen war ehrgeizig und wurde zügig umgesetzt, wobei es trotzdem zu einigen Verspätungen kam. Am 1. Oktober waren erste Inspektoren der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) vor Ort, am 6. Oktober 2013 begann die Demontage und Vernichtung. Einen Monat später bestätigte die OPWC den Abbau aller Kapazitäten zum Bau von Chemiewaffen. Einige Bestände mussten jedoch in umkämpftem Gebiet gesichert und zur Vernichtung außer Landes geschafft werden, wozu die Regierung mit internationaler Unterstützung kurzfristige Waffenruhen mit Rebellengruppen aushandeln musste. Zwischen dem 7. Januar und dem 23. Juni 2014 wurden nach Angaben des OPWC alle verbleibenden Chemiewaffen an syrischen Häfen verladen und den USA, Großbritannien und Finnland zur Vernichtung übergeben, die im Januar 2015 vollendet wurde. Bereits am 4. Dezember 2013 war der NATO-Russland-Rat erneut zusammengetreten und hatte in einer gemeinsamen Stellungnahme die „bisher getane Arbeit“ begrüßt und „wichtige Fortschritte“ festgestellt. Auch sonst war der Ton versöhnlich und kam der russischen Seite deutlich entgegen: „Wir … betonen, dass die einzige Lösung der gegenwärtigen Krise in einem inklusiven Prozess unter syrischer Führung auf der Grundlage des Kommuniqués von Genf … sein kann“.[12]

Krieg gegen den Terror statt Regime Change

Bis heute ist unklar, wer und in welchem Ausmaß auch westliche Staaten auf die Forderungen der syrischen Regierung eingingen, sie zum Schutz der Chemiewaffentransporte mit gepanzerten Fahrzeugen und „Schutzausrüstung“ auszustatten. Zweifellos hielten aber auch die Ausbildung der und Waffenlieferungen an die bewaffnete Opposition durch die USA, Großbritannien, Frankreich sowie die Golfstaaten und die Türkei an. Zwar wurde die Forderung nach einem Regime Change weiterhin von Politikern und Medien nicht nur der Golfstaaten, sondern auch der NATO-Länder weiterhin erhoben, von den Regierungen Letzterer – mit Ausnahme der Türkei – jedoch nicht mehr öffentlich verfolgt. Nachdem westliche Regierungen bis weit ins Jahr 2013 hinein mit tatkräftiger Unterstützung einiger zivilgesellschaftlicher Gruppen den gesamten bewaffneten Widerstand zur „demokratischen Opposition“ stilisiert hatten, taten sich die Öffentlichkeiten zunächst schwer, den nun überwiegend djihadistischen Charakter des Aufstandes anzuerkennen. Das änderte sich erst im Verlauf des Jahres 2014, als der Islamische Staat (IS) immer größere Territorien unter seine Kontrolle brachte, spektakuläre Massaker auch an Christen und Jesiden verübte und Videos von Hinrichtungen im Internet verbreitete.

An der grundsätzlichen Strategie der NATO und der USA hat sich dadurch im Prinzip wenig geändert. Bodentruppen schienen weiterhin ausgeschlossen, ein Regime Change unwahrscheinlicher, aber weiterhin eine Option. Die Unterstützung und Ausbildung der vermeintlich „gemäßigten“ bewaffneten Opposition wurde fortgesetzt, aber wie auch jede weitere Einmischung fortan weniger mit den Menschenrechtsverletzungen des Assad-Regimes, als mit den Gräueltaten des IS begründet. Die Abschlusserklärung des NATO-Gipfels in Wales im September 2014 schlug jedoch wieder deutlichere Töne gegenüber Syrien an. Das Regime Assad sei verantwortlich für „die Verwüstung und das Chaos in diesem Land“. Gefordert wird ein „durch Verhandlungen erzielter politischer Übergang“, wobei „die wichtige Rolle der gemäßigten Opposition beim Schutz der Gemeinschaften gegen die duale Bedrohung durch die Tyrannei des syrischen Regimes und den Extremismus des IS“ betont wird. „Die Stationierung der Patriot-Raketen, um das Territorium und die Bevölkerung der Türkei zu schützen, ist eine klare Demonstration unserer Entschlossenheit und Fähigkeit, jeden Verbündeten zu verteidigen und jede Bedrohung gegen ihn einzudämmen“. Zum IS wird weiter ausgeführt: „Die Menschen in Syrien, Irak und sonstwo in der Region brauchen die Unterstützung der Internationalen Gemeinschaft, um dieser Bedrohung zu begegnen. Ein internationaler koordinierter Ansatz ist vonnöten“.[13]

Krieg mit und gegen die Kurden

Die Ereignisse um Kobane kurz nach dem NATO-Gipfel in Wales jedoch zeigten, wie weit selbst das Bündnis zu diesem Zeitpunkt noch von einem gemeinsamen Ansatz entfernt war. Mitte September 2014 stieß der IS ausgerüstet mit gepanzerten Fahrzeugen aus den USA (die wohl überwiegend im Irak erbeutet worden waren) auf die von PKK-nahen kurdischen Kräften gehaltene Stadt Kobane vor und drohten diese zu überrollen und anschließend Massaker zu begehen. Die Gefechte vollzogen sich in Reichweite des an der Grenze umfangreich stationierten türkischen Militärs, das jedoch lediglich dadurch eingriff, dass es den Nachschub an kurdischen Kämpfern von der Türkei aus verhinderte. Ab dem 23. September griffen dagegen die USA mit Flugzeugen ein und bombardierten Stellungen des vorrückenden IS, was es letztlich den PKK-nahen Kräften mit Unterstützung einiger Reste der FSA ermöglichte, die Stadt zu halten und den IS zurückzudrängen. Die Türkei hingegen hätte offensichtlich wenig gegen eine Einnahme der Stadt einzuwenden gehabt, schließlich tolerierte sie die Kontrolle des IS auf syrischer Seite der Grenze auf einer Länge von gut 150 km bereits seit vielen Monaten.

Zeitgleich mit den Gefechten begann die Ausrüstung und Ausbildung der Peschmerga im Nordirak durch Deutschland und andere NATO-Verbündete. Dass diese Aufrüstung international offen diskutiert und koordiniert wurde, weist darauf hin, dass sie einen weiteren Schritt zur Eigenstaatlichkeit des kurdisch geprägten Nordirak darstellt, auf welche die US-Außenpolitik seit spätestens 1991 zuarbeitet. Auch hier widersprechen sich US-amerikanische und türkische Interessen. Zwar bevorzugt die Türkei die opportunistische kurdische Regierung im Nordirak klar und auch im Sinne einer Schwächung der PKK gegenüber den linken kurdischen Kräften, einen Kurdenstaat, wie ihn einige NATO-Verbündeten zur Stabilisierung des Irak gerne sehen würden, will sie jedoch auch unter deren Herrschaft nicht akzeptieren. Durch ihre Erfolge im Kampf gegen den IS wurden jedoch kurdische Truppen – die Peschmerga durch direkte und offene Waffenlieferungen und Ausbildung, die PKK-nahen Kräfte durch Luftschläge auf den IS – (temporäre) Verbündete einiger NATO-Staaten.

Internationaler Luftkrieg

Zugleich war mit der US-amerikanischen Unterstützung im Kampf gegen den IS der Luftkrieg um Syrien eröffnet: Mitglieder einer großen und sehr ungleichen Allianz aus NATO- und Golfstaaten (jedoch ohne offizielle NATO-Beteiligung) begannen ohne jede völkerrechtliche Legitimation in syrischen Luftraum einzudringen und Ziele auf syrischem Boden anzugreifen. Da sich diese Einsätze zunächst gegen den IS richteten, wurde international kaum Protest geäußert. Auch von der zwischenzeitlich von Russland mit potenter Luftabwehr ausgerüsteten syrischen Regierung gab es hiergegen keinen nennenswerten Widerstand, da sich der Einsatz nicht gegen ihre Einheiten richtete. Nachdem im Juli 2014 auch die Türkei begann, Luftschläge in Syrien durchzuführen, die sich fast ausschließlich gegen kurdische Kräfte richteten, und zugleich den USA die Nutzung türkischer Basen für ihre Angriffe in Syrien erlaubten, stationierte im September 2015 Russland auf Einladung der syrischen Regierung Kampfflugzeuge im Land, womit sicher u. a. verhindert werden sollte, dass die Luftangriffe der NATO-Staaten und ihrer Verbündeter auf die Regimekräfte ausgeweitet werden. Die von Marschflugkörpern unterstützten russischen Luftangriffe zwischen Oktober 2015 und März 2016 schwächten den IS spürbar und ließen damit auch Zweifel am Willen der US-geführten, deutlich größeren Allianz aufkommen, den IS wirklich zurückzudrängen. Zugleich richteten sie sich jedoch auch gegen andere Teile der bewaffneten Opposition, die von den NATO-Verbündeten als „gemäßigt“ bezeichnet werden und ermöglichten der syrischen Armee beträchtliche Geländegewinne. Russlands Angriffe wurden auch deshalb von den NATO-Verbündeten verurteilt. In diesem Kontext jedoch konnte immerhin im Februar 2016 eine Feuerpause verhandelt werden, die nur den IS und mit Al-Kaida verbündete Kräfte ausschloss und zumindest für einige Wochen die Gewalt reduzierte.

Das Eskalationspotential blieb aber enorm: Weiterhin unterstützte gut ein Dutzend Staaten unterschiedliche Fraktionen des syrischen Bürgerkrieges mit Waffen, Beratern/Spezialkräften und Ausbildung, während bis zu achtzehn Staaten aus der Luft verschiedenen, sich tw. gegenseitig bekämpfenden Milizen am Boden Rückendeckung gaben. US-amerikanische und türkische Kampfflugzeuge starteten von derselben Luftwaffenbasis bei Incirlik aus – wo im Zuge der nuklearen Teilhabe der NATO auch noch US-amerikanische Atombomben lagern – um sich am Boden bekämpfende Fraktionen im syrischen Bürgerkrieg zu unterstützen. Zugleich flogen russische Kampfflugzeuge Angriffe in enger Koordination mit der syrischen Armee – unterstützt vom Marschflugkörpern, die u. a. von russischen U-Booten im östlichen Mittelmeer abgeschossen wurden. Vor diesem Hintergrund im syrien wurden am 13. November 2015 die grausamen Anschläge in Paris durchgeführt, bei denen 130 Menschen umkamen und mehrere hundert verletzt wurden. Frankreich wertete die Anschläge als bewaffneten Angriff des Islamischen Staates, forderte jedoch nicht die NATO, sondern die EU zur (erstmaligen) Aktivierung der im EU-Vertrag enthaltenen, aber nicht operationalisierten Beistandsklausel auf. Daraufhin wurde von der Bundesregierung verfassungswidrig, aber mit Zustimmung des Bundestages, der Einsatz von 1.200 Soldat_innen, sechs Aufklärungstornados, Airbus zur Luftbetankung und einer Fregatte zum Schutz des Flugzeugträgers Charles de Gaulle im östlichen Mittelmeer beschlossen. Besonders bei letztgenannter Fregatte ist nicht davon auszugehen, dass sie tatsächlich dem Schutz gegen den IS, sondern vielmehr gegen russische Einheiten gerichtet war. Neben der Marinekomponente wurde der größte Teil des deutschen Kontingents wiederum in Incirlik in der Türkei stationiert, einzelne Soldat_innen der Bundeswehr jedoch auch in den beteiligten Golfstaaten und US-amerikanischen Kommandozentralen.

Doch auch die NATO blieb nach den Anschlägen von Paris nicht untätig. Auf einem Treffen der NATO-Verteidigungsminister am 11. Februar 2016 beschlossen diese, unverzüglich unter deutscher Führung ihren Marineverband in die Ägäis zu entsenden, um gemeinsam mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex und den nationalen Küstenwachen den Transit von Flüchtlingen zwischen der Türkei und Griechenland zu unterbrechen und damit die Umsetzung des „Flüchtlingsdeals“ zwischen der Türkei und der EU umzusetzen. Für die Bekämpfung der illegalisierten Migration scheint ein NATO-Marineverband jedoch überdimensioniert und im Ernstfall könnte dieser durchaus auch relevant werden, um den Nachschub für die russischen Truppen über See zu unterbrechen bzw. bereits im Vorfeld genauestens im Auge zu behalten. Ein solcher Zweck liegt umso näher, als die NATO-Verteidigungsminister – diesmal unter Vorsitz des seit Oktober 2014 amtierenden Generalsekretärs Jens Stoltenberg – auf demselben Treffen beschlossen hatten, „ihre Unterstützung für die Koalition gegen den IS“ auszubauen. Stoltenberg betonte in diesem Kontext, „dass alle NATO-Verbündeten bereits Teil dieser Koalition sind oder diese unterstützen“ und dass die Koalition bei ihrer Zusammenarbeit auf die Erfahrungen der NATO zurückgreifen könne.[14] Zur Frage, wie denn die zusätzliche Unterstützung der Koalition durch die NATO aussehe, blieb Stoltenberg vage: Erstens plane die NATO, zukünftig wieder irakische „Sicherheitskräfte“ auszubilden, indem sie die NATO Training Mission Irak – mit der zwischen 2004 und 2011 u. a. jene Kräfte ausgebildet wurden, die später zum IS überliefen – wieder aufnehme und entsprechende Programme auch in Jordanien und Tunesien durchführe. Zweitens übernehme die NATO Aufgaben der nationalen Verteidigung, „um Fähigkeiten freizusetzen für den Einsatz im Rahmen der Koalition“. Außerdem werde die (geheimdienstliche) Überwachung der syrisch-türkischen Grenze durch die NATO intensiviert und sei „im Prinzip“ eine Einigung darüber erzielt worden, AWACS-Flugzeuge der NATO einzusetzen.

Bürgerkrieg unter NATO-Luftaufklärung

Dass die AWACS als Luftraumüberwachungsflugzeuge und mobile Kommandozentralen für den Luftkrieg nicht längst im Einsatz waren und ihr Einsatz nur „im Prinzip“ beschlossen wurde, ist durchaus symptomatisch für die Rolle der NATO in Syrien. Letztlich wurden die AWACS tatsächlich eingesetzt, zumindest bis zum März 2016 jedoch nur über NATO-Gebiet (also der Türkei) und mit einem Mandat zur „integrierten Luftverteidigung“, das kein „Eingreifen der NATO in die IS-Bekämpfung in Syrien vor[sieht].“ Zugleich werden jedoch, „[b]estimmt im Wesentlichen durch die Reichweite der AWACS-Sensorik … auch Informationen zu Flugbewegungen jenseits des originären NATO-Luftraums“ erfasst[15] und an die NATO-Lagezentren weitergegeben. Dass einzelne NATO-Verbündete diese Informationen dann für Angriffe in Syrien verwenden, wollte die Bundesregierung nicht ausschließen. Auf eine entsprechende Frage der Bundestagsabgeordneten Agnieszka Brugger (Die Grünen) antwortete sie lediglich: „Die geltende Beschlusslage sieht die Nutzung der Daten zum Zwecke der Integrierten Luftverteidigung vor. Es liegen keine Erkenntnisse über eine andere Nutzung der Daten vor.“[16] Erklärte Absicht des AWACS-Einsatzes ist jedoch, Kapazitäten für die Bekämpfung des IS freizustellen und die Koalition gegen den IS zu unterstützen. Damit übernehmen die AWACS zumindest einen Teil der Aufgaben der Patriot-Luftabwehrstaffeln, die ab September 2015 zurückverlegt wurden. Im Abschlussbericht der Bundesregierung hieß es zum Zweck der damit beendeten Mission: „Mit diesem Beschluss und der anschließenden Verlegung der Patriot-Einheiten schaffte die Allianz auch die Voraussetzungen, für den Fall eines bewaffneten Angriffs auf die Türkei nach Artikel 5 Nordatlantikvertrag vom Recht zur kollektiven Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen Gebrauch machen zu können.“ Außerdem ermöglichte die Stationierung von Bundeswehrsoldaten im Rahmen des NATO-Einsatzes auch einen schnelleren Start der deutschen Beteiligung an der Anti-IS-Mission nach den Pariser Attentaten. Die Bundesregierung gab hierzu an: „[W]esentliche Anteile für Logistik und Führungsunterstützung [konnten] unmittelbar im Land weiter verwendet werden …, wodurch der Beginn des neuen Bundeswehreinsatzes beschleunigt wurde“.[17]

So wie die NATO von Anfang an durch ihren Einsatz in Libyen und die damit verbundenen Hoffnungen durch Oppositionelle in Syrien zur Eskalation beigetragen hat, hat sie jedes Eingreifen ihrer Mitglieder in den syrischen Bürgerkrieg unterstützt. Besonders früh und eklatant war das bezüglich der Türkei der Fall, was zunächst die Stärkung islamistischer Kräfte innerhalb der Opposition und dann die drohende Konfrontation mit Russland zumindest begünstigt haben dürfte. Nicht zuletzt gilt diese Rückendeckung auch für den seit Mitte 2015 wieder entfesselten Krieg der türkischen Armee gegen die Kurden im eigenen Land. Von dieser Rückendeckung konnten jedoch auch alle anderen NATO-Staaten profitieren, die sich – auch mit unterschiedlichen Zielen und Verbündeten – verstärkt in Syrien engagieren wollten und wollen. Auf eine führende Rolle, die einen umfangreichen Luftkrieg bedeuten würde, konnte sie sich jedoch bis zuletzt nicht einigen, u. a. weil unter ihren Mitgliedern große Vorbehalte gegenüber den von der Türkei verfolgten Zielen bestehen (und eine Situation wie in Libyen verhindert werden soll). So trat an Stelle der „typischen“ vollumfänglichen und offenen NATO-Intervention, wie sie noch in Libyen stattgefunden hat, in Syrien eher jene Mischung aus informeller Einflussnahme, Zusammenarbeit mit irregulären Truppen und strategischer Kommunikation zum Ziele der Destabilisierung, wie sie unter dem Schlagwort „hybride Kriegführung“ sonst gegenwärtig v.a. Russland vorgeworfen wird. Inwiefern die NATO auf die Berichterstattung über das Massaker von Hula, den Abschuss des türkischen Kampfjets, den Giftgaseinsatz bei Ghouta und andere spektakuläre Zwischenfälle, die häufig in unmittelbarer Nähe zu ohnehin anberaumten Treffen stattfanden, Einfluss nahm, bleibt Spekulation. Gewisse Ähnlichkeiten zum „Massaker von Racak“ im Vorfeld des Jugoslawienkrieges oder dem vermeintlich drohenden „Massaker von Bengasi“ drängen sich jedenfalls auf und auch im ansonsten umfangreich medial abgebildeten Syrienkonflikt legt sich über die konkreten Kampfhandlungen der NATO-Verbündeten jener bilderlose Mantel des Schweigens, wie er bei NATO-Interventionen bislang stets zu beobachten war: Bilder von startenden und landenden Flugzeugen werden gezeigt, nicht aber die von ihnen verursachte Zerstörung.[18]

 

Anmerkungen

[1]      Der NATO-Generalsekretär Rasmussen selbst berichtet von dieser Erwartungshaltung, etwa auf einer Pressekonferenz am 28.2.2012: „Ich höre sehr oft diese Frage: ‚Warum konntet Ihr in Libyen intervenieren, aber nicht in Syrien.‘ Aber in Libyen hatten wir ein sehr klares Mandat der Vereinten Nationen und aktive Unterstützung von einigen Staten in der Region. Keine dieser Bedingungen ist in Syrien erfüllt“. Press conference by NATO Secretary General Anders Fogh Rasmussen and Supreme Allied Commander Transformation General Stéphane Abrial at the ACT Seminar, nato.int,  28.22012.

[2]      Daniel Byman, Michael Doran, Kenneth Pollack, Salman Shaikh: Saving Syria: Assessing Options for Regime Change, Brookings Institution Middle East Memo #21, März 2012.

[3]      New NATO – new Turkey – Speech by NATO Secretary General Anders Fogh Rasmussen held in Ankara, Turkey, nato.int, 17.2.2012.

[4]      Press point by NATO Secretary General Anders Fogh Rasmussen following the joint North Atlantic Council meeting in Foreign Affairs and Defence Ministers session, nato.int, 18.04.2012.

[5]      Das Massaker von Hula hat stattgefunden, geht aber mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auf das Konto der Regierungskräfte, da gezielt Angehörige dreier Familien getötet wurden, die sich dem Aufstand nicht angeschlossen hatten. Vielmehr deutet auf ein Kriegsverbrechen islamistischer Milizen mit lokaler Unterstützung am Rande regulärer Gefechte zwischen syrischer Armee und FSA hin. Siehe: Rainer Hermann: Eine Auslöschung, Faz.net vom 13.6.2012.

[6]      Markus Kaim, Günter Seufert: Deutsche Patriot-Raketen in der Türkei – Symbolik statt Strategie, SWP-Aktuell 1, Januar 2013. Sowie Bundestags-Drucksache 17/13515.

[7]      Doorstep statement delivered by the NATO Secretary General, Anders Fogh Rasmussen following the meeting of the North Atlantic Council, nato.int, 26.6.2012.

[8]      Dominic Johnson: „Eingreifen! Jetzt!“, taz.de, 16.10.2012.

[9]      „Nato droht Syrien mit ‚unverzüglicher Reaktion’“ titelte etwa der Tagesspiegel (tagesspiegel.de, 4.12.2012), der Wortlaut des NATO-Generalsekretärs findet sich hier: Doorstep statement by the NATO Secretary General at the start of the Foreign Affairs Ministers meeting, nato.int, 4.12.2012.

[10]     Zu der widersprüchlichen öffentlichen und internen Charakterisierung der „Aufständischen“ durch westliche Regierungen siehe: Christoph Marischka: Syrien – Wie Luftabwehr und Völkerrecht ausgehebelt wurden, IMI-Analyse 2015/029, imi-online.de, 6.8.2015. Der Hinweis auf das Erstarken islamistischer Kräfte war mit der Aufforderung verbunden, die FSA mit mehr und besseren Waffen zu unterstützen.

[11]     Beschluss 2013/109/GASP des Rates der Europäischen Union. Zum Kontext: Christoph Marischka: EU erweitert Instrumentarium – Aufrüstung von Bürgerkriegsparteien als Teil des Sanktionsregimes, IMI-Standpunkt 2013/012, in: AUSDRUCK (April 2013).

[12]     NATO-Russia Council Statement of Support for the OPCW-UN Joint Mission, nato.int, 04.12.2013.

[13]     Wales Summit Declaration – Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Wales, nato.int, 05.10.2015.

[14]     Press conference by NATO Secretary General Jens Stoltenberg following the meeting of the North Atlantic Council at the level of Defence Ministers, nato.int, 11.02.2016.

[15]     Deutscher Bundestag – Verteidigungsausschuss: Ausschussdrucksache 18(12)652 vom 18.3.2016.

[16]     Ebd.

[17]     BMVg, Auswärtiges Amt: Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag zur Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der Integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung (Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen) sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates vom 4. Dezember 2012, versandt an die Fraktionsvorsitzenden am 7. April 2016.

[18]     Dass die NATO insbesondere in Bezug auf Luftkriegführung ihre Strategische Kommunikation optimiert, stellen die Beiträge von Christopher Schwitanski in dieser Broschüre dar.