Susan Stewart von der regierungsberatenden Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hat in einem auch in der ZEIT und auf EurActiv.de veröffentlichten Artikel gefordert, Russland aus dem Europarat auszuschließen, da es keine Rechtfertigung mehr für dessen Verbleib gebe.
Dabei bemüht sie zwei Argumente, die nicht überzeugen können: das Verhältnis Russlands zu Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und die Menschenrechtssituation auf der Krim. Die dahinter stehende Auseinandersetzung läuft auf die Frage hinaus, ob man auf eine Verhärtung der Blockkonfrontation setzt oder sich aber bemüht, für eine gesamteuropäische Einigung mit Russland die Kommunikations- und Einflusskanäle offen zu halten.
Europäische Menschenrechtskonvention gilt in Russland
Stewart setzt offenbar auf Konfrontation und will dafür den Europarat instrumentalisieren. Denn ihr erstes Hauptargument besagt, man könne nicht mehr damit rechnen, dass Russland die Urteile des EGMR akzeptiere und umsetze. Sie verweist dabei auf eine Gesetzesänderung, die auf ein russisches Verfassungsgerichtsurteil zurückgeht. Allerdings urteilte das deutsche Bundesverfassungsgericht ähnlich, dass das Grundgesetz über der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) steht und es keine absolute Bindung an die Urteile des Gerichtshofs gibt. Die Kritik, dass das EGMR-Urteil über Wahlrechte für inhaftierte Personen in Russland nicht umgesetzt wird, ist zwar berechtigt. Es ist aber kein überzeugendes Ausschlussargument, wenn man bedenkt, dass Großbritannien entsprechende Urteile seit 2005 nicht umsetzt. Erwähnenswert wäre hingegen, dass das russische Gericht im Urteil explizit erklärt, dass Russland unter Strasbourgs Jurisdiktion bleibt – ohne Opt-out bei der Vollstreckung der Urteile – und weiterhin individuelles Klagerecht besteht. Entsprechend berichtete auch der Generalsekretär des Europarates im November, dass sich die russische Seite in der Frage kompromissbereit zeige.
Menschenrechtslage auf der Krim
Das zweite Argument ist das „problematische Menschenrechtsklima“ auf der Krim. Hier behauptet Stewart, die russische Führung habe „bewusst (die) Entscheidung getroffen, … Menschenrechte wie das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und Sicherheit oder das Recht auf Meinungsäußerung zu missachten“. Stewart erwähnt selbst den Bericht der Europaratsdelegation auf der Krim, die im Januar 2016 als erste internationale Organisation die menschenrechtliche Lage seit dem Anschluss an Russland beobachten konnte.[1] Doch dieser Bericht gibt trotz konkreter Probleme keinen Anlass für Stewarts Einschätzung. Das Recht auf Leben wird einmal erwähnt, aber keinerlei Missachtung durch russische oder lokale Behörden festgestellt – schon gar keine systematische. Zum Recht auf Freiheit und Sicherheit stellt der Bericht lediglich fest, dass es gegenüber der lokalen Strafjustiz im Zusammenhang mit Korruptionsproblemen Anschuldigungen über ungerechtfertigte Verhaftungen und Untersuchungshaft gibt. Gleichwohl erinnert der Bericht daran, dass bereits vor dem Anschluss der Krim in diesem Bereich Verletzungen der EMRK durch den EGMR festgestellt wurden. Zum Recht auf Meinungsäußerung wird keine Missachtung, sondern eine Verringerung der Vielfalt beklagt. Aber eine Bewertung wird vermieden, und darauf verwiesen, dass jede Einschränkung der
Meinungsfreiheit nur unter den Bedingungen von Artikel 10, Absatz 2, erfolgen darf, die auch notwendige Einschränkungen „für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit“ umfassen. In der Ukraine gibt es spiegelbildliche rechtliche Einschränkungen und staatliche und andere Drohungen gegen „extremistische Inhalte“ zur Frage der Krim. Doch Stewart blendet den Kontext des Ukraine-EU-Russland-Konflikts aus und legt doppelte Standards gegenüber Russland an.
Anti-russischer Schwenk
Vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts und den unterschiedlichen Antworten in Europa scheint Stewart also auf eine seit Jahren bestehende anti-russische und US-nahe Linie einzuschwenken. Das ist umso bemerkenswerter, da sie dabei die relevanten Argumente ihres eigenen Standpunktes von 2013, der für die Mitgliedschaft Russlands im Europarat argumentierte, außen vor lässt.[1] Der Europarat sei als „Krankenhaus der Demokratie“ zu verstehen, bei dem ein Heilprozess „nicht auf dem Ausschluss der Kranken und Verletzten basieren“ könne, schrieb sie damals. Diese Argumente sind auch mit Blick auf den EGMR als auch auf die Situation in der Krim weiterhin einschlägig. Die Stoßrichtung des Krim-Berichts des Europarats ist es, einen normalen Zugang der Monitoring-Strukturen des Europarates zur Krim zu erreichen, wie es insbesondere die Krimtataren hoffen. Ein Ausschluss Russlands würde das Gegenteil bedeuten. Doch nicht nur für die Krim, auch in den Beziehungen zu Russland fehlt bei Stewart der Leitgedanke von 2013 völlig.
Auffallend ist dagegen Stewarts seit 2013 kontinuierliche Leugnung einer Konfliktlinie im Europarat, die sich nach pro oder kontra Russland ordnet. Da wird das Verhalten der russischen Delegation hervorgehoben, obwohl leider viele Staaten und viele ihrer Abgeordneten versuchen, Kritik an ihren eigenen Regierungen abzuwenden. Dabei sind es weniger die Menschenrechtsverletzungen in Russland, die zur Schwächung der Werte des Europarates beitragen, als ihre offensichtliche Instrumentalisierung gegen Russland, die es den russischen Vertretern erlauben, durchaus berechtigte Kritik zu relativieren. Nicht zuletzt die verhinderte Wiedereröffnung des Monitoring-Verfahrens für Ungarn[2] zeigt, wie ungleich die Instrumente des Europarates angewandt werden.
Eine Eskalation des Konflikts verhindern
Die Debatte um die russische Mitgliedschaft sollte also nicht nur auf die realen institutionellen und menschenrechtlichen Probleme in und mit Russland beschränkt werden, denn es geht auch um die institutionellen Beziehungen zu Russland in Europa. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Europarat den USA ein Dorn im Auge ist, da er die einzige internationale Institution ist, in der Russland Mitglied ist und die USA nicht. So fällt auf, dass sich die Ausschluss-Forderung auf den Europarat beschränken, während die OSZE keine Erwähnung findet. Die russische Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates wurde mit Sanktionen belegt, die Delegation in der OSZE hingegen nicht. Dabei gelten in beiden Fällen dieselben Argumente.[3]
Eine Eskalation des Konflikts zwischen NATO/EU und Russland und die Ost-West-Spaltung Europas ist nicht im Interesse der Menschen in Europa. Der Europarat kann eine entscheidende Rolle spielen, in dem er Dokumentations- und Dialogleistungen erbringt, die über zwischenstaatliche Beziehungen hinausgehen und parlamentarische und zivilgesellschaftliche Akteure zusammenbringen.
Ein Ausschluss Russlands würde die berechtigte Kritik aus dem Europarat verstummen lassen und ein schlechtes Signal an die Menschen in Russland senden. Allein die Ausschluss-Forderung stärkt die Falken in Russland, die auf einen Austritt drängen. Auf beiden Seiten des Konflikts gibt es Akteure, die ein Interesse an einer Eskalation des Konflikts zwischen „dem Westen“ und Russland haben. Wir sollten dem eine europäische Lösung des Konflikts entgegenstellen, die auf Kommunikation statt gegenseitige Sanktionen und Feindbilder setzt.
Andrej Hunko ist Europapolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Der Artikel erschien zuerst auf der Homepage der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in der Rubrik „Standpunkte“.