IMI-Studie 2016/04 - in: AUSDRUCK (April 2016)

Nach dem Ende der Geschichte: Geopolitik, Migration und die Krise der Demokratie

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 11. April 2016

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„Wer Waffen sät, wird Flüchtlinge ernten“ ist nur ein Beispiel von vielen, mit denen auch linke Bewegungen die sog. „Flüchtlingskrise“ aufgreifen und mit ihren Anliegen verknüpfen. Tatsächlich fliehen gerade mehr Menschen als je zuvor vor Kriegen und bewaffneten Konflikten. Die Unterscheidung zwischen „Kriegsflüchtlingen“, anderen Ursachen und Formen der Migration sind jedoch unscharf und oft primär politisch bestimmt, wie zunächst anhand von Beispielen verdeutlicht werden soll. Im Folgenden wird dem Zusammenhang zwischen Geopolitik und Migration grundsätzlicher nachgegangen werden. Zum besseren Verständnis der Migrationsbewegungen weltweit soll deshalb eine Theorie aus den 1970er Jahren ins Gedächtnis gerufen werden, welche jenseits politisch-juristischer Definitionen und Unterscheidungen zwischen freiwilliger Migration, Flucht vor physischer und Flucht vor struktureller Gewalt die individuellen Migrationsentscheidungen erklären und mit der aktuellen Geopolitik nach dem „Ende der Geschichte“ auch deren Zunahme begründen kann.

Bürgerkrieg und Asyl in Deutschland…

Die aktuelle „Flüchtlingsdebatte“, die nun seit knapp einem Jahr die Nachrichten und wesentliche Teile des öffentlichen bzw. politischen Diskurses dominiert, „Überfremdungsängste“ provoziert und aus verschiedenen politischen Richtungen instrumentalisiert wird, gründet sich auf der wachsenden Zahl von Asylbewerber_innen, die in Deutschland ankommen. „Anlass zur Sorge“ sei, so Innenminister de Maizière bei der Vorstellung des Migrationsberichts 2015 im Januar 2016, dass im vergangenen Jahr mehr als eine Million Flüchtlinge in Deutschland angekommen seien – mehr als je zuvor.[1] Zugleich relativierte der Innenminister diese Zahl der Erstregistrierungen nach dem EASY-Verfahren, da es auch einzelne Menschen mehrfach erfasst haben könnte und viele, die bereits in ein anderes Land weitergezogen sind. Letztlich bildet diese Zahl also vielmehr ein administratives Verfahren der elektronischen Datenverarbeitung ab, das sich in Abhängigkeit vom tatsächlichen Migrationsgeschehen noch dazu ändert. Transitreisende, die Deutschland passieren, um in einem anderen Land Asyl zu beantragen, werden etwa mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit erfasst, wenn sie mit Sonderzügen fahren, als wenn sie reguläre innereuropäische Zügen nutzen, die lange nur stichprobenartig kontrolliert wurden.

Die tatsächliche Zahl der Asylerstanträge lag 2015 bei 441.899 und damit deutlich höher als in den Vorjahren 2014 (173.072) und 2013 (109.580). Die Staaten, die am häufigsten als Herkunftsländer angegeben wurden, waren Syrien (35,9%), Albanien (12,9%), Kosovo (7,6%), Afghanistan (7,1%) und der Irak (6,7%).[2] Dadurch liegt es nahe, die steigenden Flüchtlingszahlen mit der Eskalation der Konflikte in Afghanistan, Syrien und dem Irak zu erklären. In Wirklichkeit liegt der rasante Anstieg jedoch in den letzten Jahren vielmehr im Zusammenbruch der v.a. von Deutschland vorangetriebenen „Vorverlagerung des Grenzschutzes“ und des Dublin-Systems begründet, durch die Grenz- und Anrainerstaaten des Schengenraumes dazu gezwungen wurden, die Weiterreise von Flüchtlingen zu unterbinden. Italien und Griechenland waren bereits seit Jahren mit der Situation konfrontiert, dass jährlich hunderttausende Menschen – meist mit Zielen in anderen europäischen Staaten – versorgt werden mussten, ohne dass dies in Deutschland als Krise wahrgenommen wurde. Bereits 2014 ging das UNHCR von 7,6 Menschen aus, die innerhalb Syriens auf der Flucht wären; 2,2 Mio. weitere seien in Länder des Mittleren Ostens und Nordafrikas (insbes. Ägypten, Irak, Jordanien und Libanon) sowie alleine 1 Mio. innerhalb eines Jahres in die Türkei geflohen.[3] Nicht zuletzt aus dem Kalkül heraus, in Europa Rückendeckung für den eigenen Kurs in Syrien und gegenüber den Kurden zu erhalten, lockerte die Türkei dann 2015 die Überwachung der Grenze, woraufhin auch Griechenland und die weiteren Staaten der sog. „Balkan-Route“ ihre Grenzen zunehmend öffneten und eine Weiterreise nach Westeuropa ermöglichten.

Knapp 160.000 Menschen aus Syrien und je etwa 30.000 aus dem Irak und Afghanistan kamen so 2015 nach Deutschland und stellten einen Asylantrag. Das taten auch Menschen aus dem Kosovo (ca. 33.000) und Albanien (ca. 53.000). Während den Menschen aus Syrien und anderen Kriegsgebieten, die im Fokus westlicher Medien standen, etwa in Deutschland anfangs noch recht viel Verständnis und Aufnahmebereitschaft entgegengebracht wurde, wurden jene aus den Balkanstaaten schnell als „Armutsflüchtlinge“ gebrandmarkt und ihnen selbst von Seiten der tendenziell migrationsbejahenden grünen Partei signalisiert, dass sie keine Chance auf Asyl und damit keine Bleiberechtsperspektive hätten.

Bleiben wir kurz beim Beispiel Kosovo. Die Menschen dort lebten noch in den 1990ern vor der gewaltsamen und v.a. von Deutschland unterstützten Zerschlagung Jugoslawiens noch in einem gemeinsamen Staat mit ihren Nachbarn. Heute gelten Slowenen und Kroaten als EU-Bürger_innen, erstere genießen volle „Arbeitnehmerfreizügigkeit“, letztere können visafrei einreisen und grundsätzlich auch eine Beschäftigung aufnehmen. Menschen aus anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens können zwar visafrei einreisen, sofern sie einen biometrischen Pass besitzen, jedoch nur für begrenzte Zeit und ohne einer Beschäftigung nachzugehen. Wer aus dem ehemaligen Jugoslawien also heute als Arbeitnehmer_in, Tourist_in oder „Armutsflüchtling“ kommt und folglich Asyl beantragen muss, wird entschieden durch die bilateralen Beziehungen dieser neuen Staaten zur EU (die wesentlich auch von der Bereitschaft zur Mitgliedschaft in der NATO abhängen). Um die Asylanträge aus dem Kosovo schneller ablehnen zu können und Abschiebungen zu erleichtern, wurde dieser nun zum „sicheren Drittstaat“ erklärt – obwohl völkerrechtlich durchaus umstritten ist, ob es sich beim Kosovo überhaupt um einen Staat handelt und dort nach wie vor Bundeswehr (KFOR) und Europäische Polizeieinheiten (EUJUST LEX) stationiert sind, um „den Aufbau eines friedlichen, multiethnischen und demokratisch-rechtsstaatlichen Umfeldes zu unterstützen und militärisch abzusichern“.

Fließende, administrative Grenzen

Bereits Mitte 2015 schlug das UN-Kommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) Alarm. 2014 hätten sich weltweit 59,5 Mio. Menschen auf der Flucht befunden – so viele wie nie zuvor.[4] Die Tendenz ist eindeutig, die Zahlen sind es weniger. Der Anteil der von den einzelnen Staaten anerkannten Flüchtlinge basiert auf Schätzungen und ist von den jeweiligen nationalen Definitionen, der jeweiligen Interessenlage und Außenpolitik abhängig. Denn die Genfer Konvention sieht ein Recht auf Asyl im Wortlaut nur für Personen vor, die etwa aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen oder religiösen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung individuell „begründete Furcht vor Verfolgung“ haben müssen. Das deutsche Asylgesetz folgt dieser Definition, ergänzt um die Verfolgung aufgrund des Geschlechts. Damit ist nur ein kleiner Teil der Bürgerkriegsflüchtlinge oder Menschen, die vor Klimaereignissen oder Hunger fliehen, formal asylberechtigt. Der Anteil der nach der Flüchtlingskonvention „Anerkannten“ schwankt erheblich und offenbart große juristisch-administrative Spielräume – natürlich in Abhängigkeit von jeweils etablierten Migrationsrouten und den geografischen, politischen und militärischen Möglichkeiten, diese zu blockieren. Gegenwärtig werden Menschen aus Syrien (77%) und dem Irak (74%) in Deutschland überwiegend als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt – die „Schutzquote“ lag 2014 (mit subsidiärem Schutz oder bei festgestelltem Abschiebehindernis) insgesamt bei 89,7% bzw. 74%. Afghanische Staatsangehörige wurden nur zu 27% als Flüchtlinge anerkannt, wobei die Schutzquote bei 46,7% lag. Selbst diese lag bei Menschen aus Somalia (24,96) und der Demokratischen Republik Kongo (23,53) bereits unter einem Viertel, aus Asylanträgen von sudanesischen oder nigerianischen Staatsbürgern ging nur bei jedem zehnten irgendeine Form des Schutzstatus hervor.[5] Nachdem zuvor die größten Teile Malis zum Einsatzgebiet einer französisch geführten UN-Truppe erklärt wurden, an der sich mittlerweile auch die Bundeswehr mit Bodentruppen beteiligt, weil dort angeblich islamistische Terrormilizen die Kontrolle ausübten, erhielten nur 1,61% der Asylantragstellenden aus Mali in Deutschland 2014 irgendeine Form von „Schutz“.

Entsprechend schwanken auch die Zahlen der durchschnittlichen Anerkennungsquoten und auch derer einzelner Herkunftsstaaten innerhalb der EU erheblich, ebenfalls abhängig von den jeweiligen politischen Interessen, der administrativen Praxis und dem tatsächlichen Migrationsgeschehen. So erkannte Italien zwar 2014 insgesamt nur 10% aller Antragssteller_innen als Flüchtlinge an (Deutschland: 34%), seine „Schutzquote“ lag jedoch zugleich mit 58% (Deutschland: 42%) EU-weit mit am höchsten. Noch höher war diese in Schweden mit 67%, in Großbritannien (39%) und Frankreich (22%) jedoch deutlich niedriger, wobei hier – anders als in Schweden (26%) fast alle Betroffenen als Flüchtlinge anerkannt wurden.[6]

Zugleich ist aber die Zahl der von den UN erfassten Zuwanderern auch im Vereinigten Königreich (UK) und Frankreich in den letzten fünf Jahren deutlich gestiegen: Im UK von 4,7 Mio. auf 8,5 Mio. und in Frankreich von 6,2 Mio. auf 7,8 Mio.[7] Nennenswerte Teile der Zuwanderung in Frankreich (ca. ein Drittel) erfolgen vom afrikanischen Kontinent und im UK aus Indien und Pakistan und damit aus Ländern, die in anderen europäischen Staaten v.a. als Herkunftsländer von Flüchtlingen wahrgenommen werden. Ähnliche Effekte wie gegenüber den ehemaligen Kolonien Frankreichs und des UK zeigen sich in Deutschland gegenüber Menschen aus der Türkei. Sie spielen in der aktuellen Asylstatistik keine nennenswerte Rolle, da auch hier viele, die durchaus Asylgründe geltend machen könnten, stattdessen den Weg der Familien- oder Arbeitsmigration gehen und damit Wohnsitzauflagen und Arbeitsverbote vermeiden. Auch Menschen aus Zentral- und Lateinamerika werden innerhalb des Schengenraumes so gut wie nie als Flüchtlinge wahrgenommen, weil sie visafrei einreisen können.

Auch die Zahl der vom UNHCR geschätzten Flüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik dürfte mit 412.000 noch zu niedrig angesetzt sein, nachdem dort große Teile der muslimischen Bevölkerung seit 2013 vertrieben wurden. Viele von diesen kamen jedoch in den Nachbarstaaten Tschad und Kamerun unter, wo sie Familienangehörige hatten oder deren Staatsangehörigkeit sie bereits besaßen. Obwohl selbst nach den Zahlen des UNHCR die Zentralafrikanische Republik auf Platz acht der Herkunftsstaaten rangiert, aus denen die meisten Flüchtlinge stammen, spielen diese etwa in Europa kaum eine Rolle. Selbst der Krieg in der Ukraine tangiert die EU-Staaten wenig, weil der Großteil der Flüchtlinge von hier (über eine Viertel Million im Jahr 2014) in die russische Föderation auswandert. Dort waren 2012 gerade mal 3.400 Menschen als Flüchtlinge registriert,[8] während hunderttausende aus den autoritär regierten Staaten Zentralasiens als Arbeitsmigrant_innen in Russland leben. Ähnliches zeigt sich für Menschen aus den gewaltgeprägten Provinzen Pakistans in den Golfmonarchien. Menschen aus Sri Lanka, das bereits seit über zehn Jahren ebenfalls als eines der Hauptherkunftsländer anerkannter Flüchtlinge gilt und wo die Zahl der Binnenvertriebenen aktuell auf 30.000 geschätzt wird, arbeiten häufig etwa in Italien in der Altenpflege oder im Libanon als Haushaltshilfen (für die sich dort mittlerweile insgesamt der Begriff der „Srilankiye“ als Bezeichnung etabliert hat).

Obwohl also bereits die 60 Mio. vom UNHCR geschätzten Flüchtlinge weltweit die aktuelle „Flüchtlingskrise“ in Europa zur Randerscheinung machen, erfassen sie bei weitem nicht alle, die vor physischer Gewalt und v.a. nicht jene, die vor struktureller Gewalt, Hunger, Armut und Perspektivlosigkeit fliehen. Durch zahlreiche Beispiele wurde gezeigt, dass nicht nur die einzelstaatlichen Statistiken zum Asyl, sondern auch diejenigen des UNHCR unvollständig sind und v.a. von regionalen Grenzregimen und nationalen Definitionen und Rechtsprechungen verzerrt werden. Deshalb ist es womöglich sinnvoller, anstatt der Flüchtlinge als politisch definierte Teilmenge der Migrationsbewegungen die internationale Migration insgesamt in den Blick zu nehmen. Nach Angaben der UN ist die Zahl jener, die dauerhaft in einem Land leben, in dem sie nicht geboren sind oder dessen Staatsbürgerschaft sie nicht besitzen, in den letzten fünf Jahren von 222 Mio. (2010) auf 244 Mio. (2015) und seit dem Jahr 2000 um 41% gestiegen.[9]

Exit, Voice and Loyality

Bereits in den 1970er Jahren entstand eine Theorie der Migration, welche ohne Unterscheidung der Migrationsentscheidungen und Fluchtursachen nach physischer und struktureller Gewalt auskommt. Durch kleinere Modifikationen ermöglicht sie auch, Migrationen in ihrer Vielfältigkeit nicht nur mit Waffenexporten und direkten militärischen Interventionen, sondern mit der Geopolitik als Ganzes in ein Verhältnis zu setzten. Das Modell stammt von Alfred O. Hirschmann und wurde zunächst entwickelt, um die Bindung von Kunden an Unternehmen zu beschreiben. Seine zentralen Begriffe sind: Loyality, Exit und Voice.[10]

Als „Loyality“ sind unter den Bedingungen eines theoretisch vorausgesetzten freien Marktes jene Faktoren zu verstehen, die dazu führen, dass ein_e Konsument_in einem Produkt oder einer Firma „treu“ bleibt – also etwa die Sympathie gegenüber dem Unternehmen, positive Erfahrungswerte und Vertrautheit mit den Produkten. Wenn diese Loyalität abnimmt, etwa weil die Produkte in ihrer Qualität sinken oder sich verteuern, bleiben den Konsument_innen zwei Alternativen. Unter „Exit“ wird sozusagen die Auflösung der Kundenbindung verstanden, es werden Produkte eines anderen Herstellers gekauft und eine neue Kundenbindung aufgebaut. Unter „Voice“ sind Bemühungen zu verstehen, dem Missstand – in diesem Falle die sinkende Qualität der Produkte – durch individuelle Beschwerde oder kollektiven Protest entgegenzuwirken. Modifiziert man jedoch die Begriffe ein wenig und ergänzt man sie um das Konzept der öffentlichen Güter, ergibt sich eine Theorie, die womöglich für Migrationsbewegungen als Ganzes anwendbar ist und deren Zunahme vor dem Hintergrund aktueller Weltpolitik recht plausibel erklären kann.

Angewandt auf Staaten muss natürlich insbesondere der Begriff „Loyality“ deutlich weiter verstanden werden. Darunter sollen im Folgenden nicht nur Sympathie und Zugehörigkeit zu einer Nation oder einem Staatswesen verstanden werden, sondern auch eine weitergehende, rein praktische Bindung an ein Gebiet über die Sprache, die Anerkennung von Bildungsabschlüssen und Berufsqualifikationen, die Nähe zu Freunden und Verwandten usw. Eine zentrale Rolle hinsichtlich der Ausprägung von „Loyality“ spielen jedoch auch hier die bereitgestellten Güter, in diesem Falle die öffentlichen Güter. Hierzu gehören u.a. Schulbildung, Gesundheitsversorgung, soziale Absicherung, Berufs- und Lebensperspektiven sowie Sicherheit in einem umfassenden Sinne, die Menschen auch vor Übergriffen aufgrund von Religion, Geschlecht und Meinungsäußerungen schützt. Offensichtlich steht es um die Bereitstellung dieser öffentlichen Güter in weiten Teilen der Welt gegenwärtig sehr schlecht. Den betroffenen Menschen bleiben nun nach der ökonomistischen Theorie Hirschmanns zwei Optionen: Unter „Voice“ wären in diesem Fall individuelle und kollektive Versuche zu verstehen, die Politik der jeweiligen Länder und damit auch die bereitgestellten öffentlichen Güter zu verändern bzw. sich dafür zu engagieren, dass solche Güter überhaupt wieder bereitgestellt werden. Unter „Voice“ ist somit in einem umfassenden Sinne Partizipation zu verstehen. Die zweite Option, „Exit“, besteht in diesem Fall nicht aus dem Wechsel zu einem anderen Unternehmen, sondern in der Emigration in einen anderen Staat.

Anwendungsbeispiel Arabischer/Afrikanischer Frühling

Um die Konsequenzen dieser Perspektive zu veranschaulichen, ließe sich etwa spekulieren, ob die aktuelle Zunahme von Migration nicht mehr mit den Erfahrungen des sog. „Arabischen Frühlings“ zusammenhängen, als mit den konkreten, aber nur teilweise aus diesem hervorgegangenen Konflikten. Der „Arabische Frühling“ steht für eine Kette von Ereignissen 2011, in denen in mehreren, despotisch regierten arabisch geprägten Staaten Massenproteste stattfanden. Weniger blutig und mit weniger internationaler Aufmerksamkeit schlossen sich hieran weitere Proteste in anderen afrikanischen Staaten an: Nachdem der senegalesische Präsident Abdoulaye Wade Mitte 2011 seine Kandidatur für eine dritte Amtszeit ankündigte, formte sich eine Protestbewegung unter dem Namen Mouvement du 23 Juin, die wesentlich zu seiner Niederlage in der Stichwahl beitrug. Die Parole „Y’en a marre“ (es reicht) hallte in vielen frankophonen Staaten nach und inspirierte auch in Mali die Zivilgesellschaft, die sich größtenteils hinter einen Putsch junger Offiziere gegen den Langzeitpräsidenten Amadou Toumani Touré stellte und umfangreiche Konsultationen über Reformen einforderte. Zuletzt führten Massenproteste im Oktober 2014 in Burkina Faso zu einem Putsch des Militärs gegen Blaise Compaoré, der ebenfalls eine weitere Amtszeit anstrebte.

Insgesamt lässt sich zusammenfassen, dass sich in den vergangenen Jahren in mehreren arabischen und afrikanischen Staaten Massenproteste formiert haben, in denen sich v.a. auch viele jüngere Menschen organisierten und auf die Straße gingen, sich also kollektiv für die Option „Voice“ entschieden haben. Die Ergebnisse jedoch sind ernüchternd: In Bahrain und Djibouti wurden die Proteste von nackter Repression bereits im Keim erstickt, in Syrien wurden sie zu einem Bürgerkrieg eskaliert, in Ägypten führten sie in eine Militärdiktatur mit tausenden zum Tode verurteilten Oppositionellen. Als einziger Lichtblick galt zunächst Tunesien, wo in weitgehend demokratischen Wahlen eine neue Regierung gewählt wurde, die vieles anders machen wollte, aber nicht konnte. Weiterhin tief verschuldet und an internationale Abkommen gebunden, konnte sie nichts an der sozialen Misere ändern, die weite Teile der Bevölkerung gefangen hält. Während in den Provinzen auch deshalb immer wieder Unruhen und Proteste ausbrachen, rückten zunehmend wieder Mitglieder des alten Regimes in Spitzenpositionen. Am 1. März 2015 einigte sich der tunesische Premierminister, Habib Essid, der selbst in den USA studieren konnte, mit dem deutschen Innenminister De Maizière auf eine bessere Zusammenarbeit bei der Abschiebung mutmaßlicher tunesischer Staatsbürger. Diese Zusage, die den Interessen der eigenen Bevölkerung diametral widerspricht, ließ er sich durch die Lieferung von Geländewagen und der Zusage deutscher Unterstützung beim Aufbau einer biometrischen Polizeidatenbank belohnen. Auch in Algerien und Tunesien versprach der deutsche Innenminister eine verbesserte Zusammenarbeit in der Kriminalitätsbekämpfung.[11]

Wie Rücknahmeabkommen widersprechen auch die mit der EU vereinbarten Fischereiabkommen westafrikanischer Staaten völlig offensichtlich den Interessen der jeweiligen Bevölkerung, indem den mit EU-Subventionen aufgebauten Fangflotten europäischer Staaten zugebilligt wird, auf Kosten der ansässigen Bevölkerung in den jeweiligen Küstengewässern zu fischen. Macky Sall, der – obwohl mit dem vorangegangenen Regime eng verwoben – mit der Rückendeckung der Protestbewegung „Y’en a marre“ im März 2013 zum Präsidenten gewählt wurde, zögerte jedoch nicht, bereits 2014 wieder ein solches Abkommen mit der EU zu unterzeichnen. Bereits zuvor hatte er den USA, Frankreich und Deutschland Stützpunkte in der Hauptstadt Dakar für ihre Militäroperationen im Sahel zur Verfügung gestellt. Tatsächlich überraschen sollte das nicht, denn zumindest Frankreich und die USA hatten bereits im Wahlkampf Sympathie für Sall und die hinter ihm stehende Bewegung signalisiert. Zwei Jahre zuvor, während des „Arabischen Frühlings“ 2011, waren Frankreich und die USA federführend daran beteiligt, zwei Regime auf dem afrikanischen Kontinent mit militärischer Gewalt zu ersetzen: Der libysche Machthaber Gaddafi, der dafür gesorgt hatte, dass große Teile der Öleinnahmen der Bevölkerung zugutekamen und der eine Afrikanische Entwicklungsbank aufbauen wollte, um die Hegemonie von IWF und Weltbank zu brechen, wurde durch einen fünfmonatigen Luftkrieg der NATO der Macht enthoben und abschließend ermordet. Der Präsident der Côte d’Ivoire, Laurent Gbagbo, der die Gesellschaft für den Handel mit dem wichtigsten Exportgut Kakao nationalisiert und monopolisiert hatte, um höhere Preise auf dem Weltmarkt zu ermöglichen, war nach einer umstrittenen Wahl von Milizen aus dem Norden des Landes, unterstützt von französischen Spezialkräften, UN-Truppen aus Liberia und einem EU-Embargo festgenommen, misshandelt und nach Den Haag ausgeliefert worden. Noch ein drittes Regime wurde im selben Jahr auf dem afrikanischen Kontinent mit massiver Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und unter militärischen Drohungen zumindest der USA neu installiert: Im Juli 2011 erklärte der ölreiche Südsudan seine Unabhängigkeit und die Rebellengruppe SPLM/A wurde unter internationalem Beifall zur neuen Regierung und zur offiziellen Armee des Landes. Wenig später kamen die bereits zuvor aus den USA gelieferten Waffen zum Einsatz, nachdem Regierung wie Armee auseinanderbrachen und sich gegenseitig bekämpften.

Krieg gegen den Terror und Migration

Die häufig als „Sahel“ bezeichnete Region zwischen diesen drei genannten Staaten wird bereits seit Jahren umfangreich militarisiert. Seit 2002 bilden US-Spezialkräfte – teilweise unterstützt vom KSK der Bundeswehr – hier verschiedene bewaffnete Gruppen in der „Terrorismusbekämpfung“ aus.[12] Die Europäische Union investierte Millionen in den Aufbau neuer Datenbanken und geheimdienstlicher Lagezentren.[13] Nach der französischen Intervention in Mali – mit der auch hier flux ein neues Regime installiert wurde – hat Frankreich 2014 die dortige Mission zur Bekämpfung des Terrorismus auf die gesamte Region – Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger und den Tschad – ausgeweitet. Mittlerweile haben sowohl Frankreich als auch die USA in mehreren dieser Staaten Stützpunkte für Drohnen installiert. Zwar werden diese Maßnahmen meist mit einem diffusen Set von Bedrohungen begründet, die vom Schmuggel über illegale Migration bis hin zum Terrorismus reichen; tatsächlich haben die westlichen Staaten jedoch massive Interessen im Sahel und Westafrika, die auch weit über den Fischfang hinaus reichen. Zu nennen wäre diesbezüglich etwa die Versorgung der französischen Kernkraftwerke mit Uran, das ganz überwiegend aus dem Niger stammt. Zu den vielen Rohstoffen, die in der Region abgebaut werden, gehört neben Gold auch Phosphat, das für die globale industrielle Landwirtschaft gegenwärtig unverzichtbar ist. Überlegungen der NATO zur Energiesicherheit bzw. Diversifikation der Energiequellen führten in den frühen 2000er Jahren außerdem zu Plänen, in der Region großflächige Anlagen zur Gewinnung von Strom aus Wind- und Sonnenenergie zu errichten und über ein Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsnetz hiermit auch Europa zu versorgen. Für diese Pläne wurde noch 2011 unter der Bezeichnung „Desertec“ von einer gleichnamigen Industrieinitiative unter Beteiligung der Deutschen Bank und RWE kräftig geworben, während Wissenschaft und Zivilgesellschaft insbesondere Armut und Bevölkerungswachstum zu Ursachen von Instabilität erklärten. 2011 etwa luden das GIGA-Institut und die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit gemeinsam zu einer Veranstaltung unter dem Titel: „Westafrika – Fragile Demokratien und westliche Sicherheitsinteressen“. In der Einladung hieß es: „In dieser politisch instabilen Region leben derzeit eine Viertelmilliarde Menschen. Bis 2050 werden es eine halbe Milliarde sein, die anhaltender Armut und Perspektivlosigkeit ausgesetzt sind. Vor allem bei der schnell wachsenden jungen Bevölkerung führt dies zunehmend zu Unzufriedenheit und häufig auch zu Radikalisierung. Die Flucht über das Mittelmeer nach Europa oder illegaler Drogenhandel erscheinen vielen als Auswege aus ihrer desolaten Situation. Was bedeutet das für Deutschland und Europa?“.

Bemerkenswert ist hieran nicht nur, dass die oben genannten strategischen „Sicherheitsinteressen“ gänzlich unerwähnt bleiben, sondern auch, dass offensichtlich nicht damit gerechnet wird, dass sich  „Armut und Perspektivlosigkeit“ irgendwie reduzieren ließe. Damit bleibt gegen die identifizierten Bedrohungen letztlich nur ein stärkeres „sicherheitspolitisches Engagement“.

Militarisierung und Entdemokratisierung

Mittlerweile zeigt sich jedoch zunehmend, dass diese Militarisierung selbst die genannten Symptome verstärkt. Die International Crisis Group beschrieb dies in einem Bericht vom Juni 2015 eindrücklich am Beispiel Niger. Auch hier wurde 2011 unter internationalem Beifall ein neuer Präsident gewählt, der eine Renaissance ankündigte. Bereits 2012 jedoch habe er „regionale Unsicherheit und eine einsetzende Ernährungskrise als Rechtfertigung dazu angeführt, dass er das Gesamtbudget um 52% anhob, wobei der Verteidigungshaushalt verdoppelt und in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Ernährungssicherheit gekürzt wurde.“ Kurz darauf wurden nicht nur französische Soldaten im Land stationiert, sondern auch eine EU-Mission in der Hauptstadt, welche die Gendarmerie für die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, des Terrorismus und der Migration ausbilden soll und sich zumindest nachrichtendienstlich auch selbst entsprechend betätigt. 2014 habe die Regierung nur knapp über die Hälfte der erhaltenen Gelder aus der Entwicklungszusammenarbeit verausgabt, was sie kaum rechtfertigen habe müssen, „da die innenpolitische und internationale Aufmerksamkeit auf die Terrorismusbekämpfung gerichtet wurde“. Dadurch habe sich die Situation insbesondere der jungen Bevölkerung weiter verschlechtert und sich ihre Bindung an den Staat weiter aufgelöst. In diese Kerbe schlagen auch die Islamisten, welche die Regierungen als „korrupt, sekulär und verwestlicht“ beschimpfen und stattdessen eine „moralisch reinere, islamistische“ Regierungsform in Aussicht stellen.[14] Sehr klar beschrieb schon zuvor die Oxford Research Group v.a. die Folgen der Errichtung von Drohnenbasen für die Perspektiven von Protest und politischer Opposition: „Operationen zur Bekämpfung des Terrorismus, Militärbasen oder logistische Infrastruktur in der Sahel-Sahara-Region erfordert [gute] Beziehungen und Stationierungsabkommen mit den nationalen Regierungen: den lokalen Partnern. Dies hat eine Anzahl undemokratischer Regime gestärkt, da ihre Wahrnehmung als verlässlicher Partner im ‚Krieg gegen den Terror‘ eng mit den Investitionen autoritärer Regime in ihren Sicherheitsapparat zu korrelieren scheint. Der algerische Machtapparat, das quasi-Militärregime in Mauretanien und insbesondere das Regime Déby im Tschad wurden so zu Pfeilern externer Strategien zur Terrorismusbekämpfung und weitgehend immun gegenüber Druck, den repressiven Umgang mit ihrer Bevölkerung und politischen Gegnern zu verbessern“.[15]

Krise der Demokratie

Die Erfahrung, dass Revolutionen, Massenproteste und auch die Wahl von Hoffnungsträgern wenig Aussicht auf Verbesserung bringen, mussten in den vergangenen Jahren nicht nur Menschen in Afrika machen. Ähnlich frustrierende Ergebnisse zeigten sich auch nach den Protesten gegen den türkischen Präsidenten Erdogan sowie der Wahl von Syriza in Griechenland und dem dortigen Referendum gegen die Sparauflagen der Troika. Diese Ereignisse haben verdeutlicht, dass Regierungen viel mehr global formulierten und durchgesetzten Interessen folgen müssen, als denjenigen ihrer eigenen Bevölkerung. Eine Folge ist die massive Verschlechterung der bereitgestellten öffentlichen Güter, die zunächst bei Privatisierungen öffentlicher Dienstleistungen anfängt und mit der zunehmenden Erosion des Gemeinwesens auch Leib und Leben der Betroffenen gefährdet. Um sich abzusichern, machen die Regierungen keine Zugeständnisse an die Bevölkerung, sondern suchen das Bündnis mit mächtigen Partnern, was wiederum mit Liberalisierung und erhöhten Ausgaben für den Sicherheitsapparat verbunden ist, wodurch die sozialpolitischen Spielräume weiter schwinden. Da Protest unter diesen Bedingungen aussichtslos erscheint, sollte es kaum verwundern, dass religiös-fanatische Bewegungen unter diesen Umständen Zulauf erhalten, was den Regierungen, die sich lieber über internationale Bündnisse militärisch als innenpolitisch durch Sozialpolitik absichern, sogar entgegenkommt. Andererseits führt die Politik des Regime Change – oft auch durch Mobilisierung der jeweiligen Zivilgesellschaft von außen – dazu, dass selbst im hypothetischen Fall, dass eine Regierung einen anderen Weg gehen wollte – etwa durch Landreformen, Renationalisierungen von Schlüsselindustrien oder Schuldenschnitte – mit gezielter Destabilisierung rechnen, die Freiheiten einschränken und aufrüsten muss.

Was hier beschrieben wird, ist eine handfeste und globale Krise der Demokratie, die durch geopolitische Rahmenbedingungen zumindest befördert, wenn nicht gar ausgelöst wird. Zu diesen Bedingungen gehört der Krieg gegen den Terror ebenso, wie die Politik des Regime Change. Gemeinsam stehen sie für die Erosion des Völkerrechts und des Souveränitätsprinzips gepaart mit dem globalen Siegeszug des Liberalismus, der jeden Ansatz nichtkapitalistischer Entwicklung – wenn nötig militärisch – im Keim erstickt und so tatsächlich das Ende zumindest der säkularen „großen Erzählungen“ herbeigeführt hat. Dass sich unter diesen Umständen, wo „Voice“ keine Option mehr ist, immer mehr Menschen für „Exit“ entscheiden, sich auf den Weg machen, sollte niemanden verwundern. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Die, die schon auf dem Weg sind, müssen woanders die öffentlichen Güter finden, die sie brauchen und denjenigen, die noch nicht aufgebrochen sind, muss eine Stimme, eine Option auf Veränderung „gegeben“ werden. Erste Schritte hierzu wären u.a. ein Schuldenschnitt und eine radikale Abkehr von der vorherrschenden Interventionspolitik, sei sie ziviler oder militärischer Natur. Auf die Dauer werden jedoch auch neue „Große Erzählungen“ und Perspektiven nichtkapitalistischer Entwicklung vonnöten sein, sonst führt die nächste große Erzählung: ins Jenseits.

 

Anmerkungen

[1] „Migrationsbericht: De Maizière besorgt über Zuzug aus Nordafrika“, spiegel.de vom 06.01.2006.

[2] Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Aktuelle Zahlen zu Asyl (Dezember 2015).

[3] UNHCR: Global Trends – Forced Displacement in 2014.

[4] „UN warns of ‘record high’ 60 million displaced amid expanding global conflicts“, un.org vom 16.06.2015.

[5] BAMF: Migrationsbericht 2014.

[6] Europäische Kommission/Eurostat: Data in Focus 3/2015.

[7] United Nations Department of Economic and Social Affairs: International Migration 2015 („Wallchart“, siehe: unmigration.org).

[8] Alle Zahlen bisher in diesem Absatz: UNHCR: Global Trends – Forced Displacement in 2014.

[9] „Trends in International Migrant Stock: The 2015 Revision“, reliefweb.int vom 12.01.2016.

[10] Hirschman, Albert O.: Exit, Voice, and Loyality – Responses to the Decline in Firms, Organizations and States, Harvard University Press 1970, sowie: Exit, Voice, and the State, in: Jeremy Adelman (Hrsg.): The Essential Hirschman, Princeton University Press 2013.

[11] „De Maizière: Mission-Maghreb erfüllt“, dw.com vom 01.03.2016, sowie: „De Maizière will ‚effizienter und schneller‘ abschieben“, welt.de vom 27.02.2016.

[12] Christoph Marischka: US-AfriCom und KSK seit Jahren in Mali aktiv, Telepolis vom 01.07.2013.

[13] Christoph Marischka: Sahara, der Libyenkrieg und die kommende Aufstandsbekämpfung, IMI-Analyse 2012/02, in: AUSDRUCK (Februar 2012).

[14] International Crisis Group: The Central Sahel – A Perfect Sandstorm, Africa Report N°227 (25.6.2015).

[15] Richard Reeve, Zoë Pelter: From New Frontier to New Normal – Counter-terrorism operations in the Sahel-Sahara, Oxford Research Group (August 2014).