IMI-Aktuell 2015/286

Taktischer Rückzug

von: 9. Juni 2015

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Gregor Gysi erklärte am 7. Juni 2015, im Herbst nicht wieder für den Fraktionsvorsitz im Bundestag kandidieren zu wollen.  Seine vermeintliche Abschiedsrede enthält einen Katalog dessen, was an »Fortschritt« durch die LINKE zu erzielen wäre, wenn sie denn – als »10-Prozent-Partei« – in die Regierung einträte.  Selbst wenn die LINKE auf doppelt so viele Prozente käme, wäre Gysis Liste immer noch ambitioniert für eine Partei, die absehbar den ›Juniorpartner‹ in der Koalition stellte.  Ebenso kühn ist seine durch nichts belegte Behauptung, dass 90 Prozent der LINKE-WählerInnen sich eben diese Regierungsbeteiligung wünschten.

Natürlich sieht Gysi die Hürden auch auf dem Feld der Außenpolitik.  Um hier nur einen Aspekt herauszugreifen:

»Wenn uns im Verhältnis zu Russland Deeskalation gelänge, wenn Russland in Europa wieder integriert werden würde, und dadurch auch das Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Volkes wiederhergestellt werden könnte – welch ein gewaltiger Fortschritt wäre dies?«

Dieser Fragesatz läßt sich so und auch anders lesen.  Jedenfalls ist er auch anschlussfähig an die verquere ›Logik‹ der Mainstream-Russland-Politik und -Berichterstattung, wonach Russland die Haupt-, wenn nicht die alleinige Schuld am Ukraine-Konflikt trägt.  Nichts gegen Entspannung in Europa und eine Wiederaufnahme der Kooperation mit Russland.  (Davon sprechen alle.)  Aber ist es wirklich so, dass das »Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Volkes« von einer Deeskalation im Verhältnis zu Russland abhängt?  Hier scheint die in Teilen der LINKEN verbreitete Äquidistanz durch.

Welche Seite hat denn der Ukraine ein Freihandelsabkommen samt militärischer Komponente aufgezwungen und damit das »Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Volkes« mißachtet?  War das keine Eskalation?  Kein Wort davon, welche Seite einen Regimewechsel herbeigeführt hat.  Kein Wort von den ultranationalistischen und faschistischen Hilfstruppen, mit denen der Umsturz betrieben wurde und die am Krieg im Donbass beteiligt sind.

Nicht nur, dass in Gysis Fragesatz bestenfalls eine sehr verkürzte Perspektive auf den Konflikt zum Ausdruck kommt.  Dieser Fragesatz zeugt auch von gefährlichen Illusionen über Triebkräfte und Interessen, Bedingungen und Ziele (hinter) der bundesrepublikanischen Außenpolitik – und übergeht die fatale Rolle von EU und NATO.  Vielleicht handelt es sich auch gar nicht um Illusionen.  Denn Gysi ist ein Befürworter der Mitgliedschaft Stefan Liebichs in der »Atlantikbrücke«.  Liebich hatte sich konzeptionell an der Denkschrift »Neue Macht – Neue Verantwortung« beteiligt. (Cha)