IMI-Analyse 2015/022 - in: AUSDRUCK (Juni 2015)
Mehr Engagement in den Herkunftsländern?
Katastrophale Bilanz der EU-Afrika-Politik
von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 5. Juni 2015
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Es gehört zu den besonders üblen Phänomenen der aktuellen „Flüchtlingsdebatte“, dass sie derzeit von zahlreichen Akteuren dazu instrumentalisiert wird, eine „engagiertere“ westliche Afrika-Politik, einschließlich militärischer Interventionen, einzufordern. Dabei war und ist es nicht zuletzt diese Politik, die maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass die Situation in vielen afrikanischen Ländern derart katastrophal ist, dass viele Menschen bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um ihr zu entkommen.
Instrumentalisierung der Flüchtlingskatastrophe
So nahmen etwa Ronja Kempin und Ronja Scheler von der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer u.a. bei Tagesspiegel.de und Zeit.de veröffentlichten Stellungnahme die Katastrophe mit mehreren hundert Ertrunkenen auf dem Mittelmeer zum Anlass, eine aktivere militärische Außenpolitik der Europäischen Union einzufordern. Ihr Beitrag schließt mit den Worten: „Der Einsatz militärischer Mittel ebenso wie zahlreiche andere Maßnahmen, die die aktuelle Debatte beherrschen – die Ausweitung der Seenotrettung, die Revision des Dublin-Systems oder die Erleichterung legaler Migration – müssen … in eine aktive und umfassende Außenpolitik in den Herkunftsländern der Migranten integriert werden … Dabei dürfen EU und Mitgliedstaaten nicht davor zurückschrecken, sich auch in Konflikte, etwa in Syrien, einzumischen … Eine militärische Operation im Mittelmeer mag den Migrationsdruck auf die EU-Außengrenzen verringern. Den Flüchtlingen hilft indes nur ein umfassendes außenpolitisches Engagement Europas.“(1)
Ganz ähnlich argumentiert Henryk M. Broder auf Welt.de. Nachdem er zunächst seine Unkenntnis über das Internationale Flüchtlingsregime unter Beweis stellt und reichlich Ängste vor einer „Flüchtlingswelle [, die] auf Europa zu[rollt]“ schürt, ruft er nach dem Gewaltmonopol des Staates, um sogleich die Sationierung der Bundeswehr in mehreren afrikanischen Staaten einzufordern – aber natürlich nur, um den Flüchtlingen „wirklich“ zu „helfen“: „Wer ihnen wirklich helfen will, der müsste sich um ein ‚robustes Mandat‘ für die Bundeswehr bemühen, in Afrika ’sichere Zonen‘ zu etablieren, in denen Recht und Ordnung herrschen und niemand wegen seines Glaubens, seiner Hautfarbe oder seiner Herkunft verfolgt wird. Ein halbes Dutzend solcher ’safe havens‘ zwischen Nyala im Osten, Bamako im Westen und Annaba im Norden würde das Problem nicht lösen, aber erst einmal das große Sterben stoppen. Das sind wir den Afrikanern schuldig. Vor allem wir als Deutsche.“(2) Schon vor den aktuellen Tragödien war diese Argumentation u.a. von Herfried Münkler im Rahmen der vom Auswärtigen Amt angestoßenen „Review 2014“ vorbereitet worden. Hier schrieb der Historiker und beliebte Vordenker einer aggressiveren deutschen Außenpolitik: „Die größte sicherheitspolitische Herausforderung des 21. Jahrhunderts wird nicht in der Gefährdung von Grenzen durch feindliche Militärverbände, sondern im Überschreiten dieser Grenzen durch gewaltige Flüchtlingsströme bestehen … Also bedarf es einer präventiven bzw. präemptiven Stabilisierungspolitik in der europäischen Peripherie, die verhindern soll, dass solche Flüchtlingsströme infolge ethnischer bzw. religiös-konfessioneller Auseinandersetzungen, wirtschaftlichem Elend sowie der damit verbundenen Perspektivlosigkeit oder aber machtpolitischer Rivalitäten in der Region entstehen.“(3)
Dass die Flüchtlinge dabei in übelster Weise instrumentalisiert werden, um die notorischen Forderungen nach einem verstärkten deutschen und EUropäischen Engagement in einer „erweiterten europäischen Nachbarschaft“, die es „friedlich und demokratisch zu gestalten“ gelte, zu erheben, zeigt dabei etwa ein Blick auf eine frühere gemeinsame Veröffentlichung der beiden oben zitierten SWP-Autorinnen. Anfang 2013 geißelten sie gemeinsam noch die „Berliner Blockade“ bei der Zerschlagung Libyens durch die europäischen Partnerstaaten: „Besonders symbolisch für die Berliner Blockadehaltung steht die Enthaltung Deutschlands im März 2011, als der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1973 verabschiedete und den Weg ebnete, ‚alle notwendigen Maßnahmen‘ zum Schutze der libyschen Bevölkerung zu ergreifen … Mit ihrer Enthaltung versagte die Regierung Merkel ihren europäischen Partnern Frankreich und Großbritannien die Unterstützung bei der nachfolgenden Luft- und Seeblockade sowie den Luftangriffen auf libysche Regierungstruppen und Militäreinrichtungen“.(4) Die damit angeblich heraufbeschworene „Spaltung wegen der Libyenkrise“ sei ein wesentlicher Grund dafür, dass „das operative Engagement der Mitgliedsstaaten spürbar abgenommen“ habe. Zuvor habe sich „die GSVP [Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik] zu einem dynamischen Politikbereich der EU“ entwickelt: „Allein zwischen 2003 und 2008 konnte die EU im Durchschnitt jährlich drei bis vier neue Missionen oder Operationen auf den Weg bringen. Die Tatkraft der EU-Mitgliedsstaaten geriet jedoch alsbald ins Stocken.“ Offensichtlich bildet die „Tatkraft“ das einzige Kriterium, denn eine Bilanz dieser Einsätze in der „erweiterten europäischen Nachbarschaft“ bleibt ebenso wie beim Libyenkrieg vollständig aus. Es sind nämlich nicht nur in Libyen und den angrenzenden Ländern eben die verheerenden Konsequenzen dieser „Tatkraft“, welche die Flüchtlingskatastrophen mit verursachen.
Umfassendes Militarisierungsprogramm von G8 und EU
Soweit Afrika betroffen war, haben die Interventionen der EU im genannten Zeitraum (2003-2008) in der Demokratischen Republik Kongo, im damaligen Sudan, dem Tschad, der Zentralafrikanischen Republik und Guinea-Bissau stattgefunden. Keines dieser Länder wurde dabei stabilisiert oder demokratisiert. Am Kongo wurde der Bürgerkrieg weiter internationalisiert, im Sudan eine Sezession mit anschließendem Bürgerkrieg und in Guinea-Bissau ein Putsch befördert. In allen betroffenen Staaten wurden im Zuge der Interventionen „Sicherheitskräfte“ aufgebaut oder ausgebildet, die sich an anschließenden innerstaatlichen Gewaltkonflikten beteiligten und bis heute die Zivilbevölkerung bedrohen. Aktuell finden EU-Missionen weiterhin am Kongo, in Mali, Niger, der Zentralafrikanischen Republik, in Somalia, am Golf von Aden und der Ostafrikanischen Küste von Djibouti bis nach Tansania sowie (auf Grund der Sicherheitslage praktisch ausgesetzt) in Libyen statt. Im Mittelpunkt dieser Missionen steht meist die Ausbildung lokaler Milizen, Polizei- und Militärkräfte. Die zugrunde liegende Strategie wurde von den G8-Staaten 2004 auf dem Gipfel in Sea Island als „Global Peace Operations Initiative“ (GPOI) formuliert. Vorgänger war das ACOTA-Programm (African Contingency Operations Training and Assistance) der USA, das hierin aufging. Begründet wurden diese Programme mit der Argumentation, dass in Afrika nicht ausreichend (gut ausgebildete) Soldaten vorhanden wären, um sich an „Friedensmissionen“ in anderen afrikanischen Staaten zu beteiligen. Im Rahmen von ACOTA waren zuvor bereits über 17.000 Soldaten aus afrikanischen Staaten trainiert worden, im Rahmen von GPOI sollten es zunächst 75.000 werden, doch dieses Ziel wurde bei weitem überschritten. Bis 2012 wurden im Rahmen von GPOI 153.000 Soldaten unmittelbar und weitere 43.000 durch Partnerstaaten ausgebildet, was sich alleine die USA 767 Mio. US$ kosten ließen. Von diesen knapp 200.000 Soldaten gehörten 168.000 den Armeen afrikanischer Staaten an, etwa 2.000 davon waren Frauen. Begleitend zur Ausbildung stellten die USA zusätzlich oft noch Ausrüstung und logistische Unterstützung bereit. Parallel dazu führten Spezialkräfte der US-Army ab 2007 unter der Leitung des neu eingerichteten US-Oberkommandos für Afrika (AFRICOM) – und teilweise mit Beteiligung des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr – Übungen und gemeinsame Einsätze mit bewaffneten Gruppen in zahlreichen afrikanischen Staaten, insbesondere in der Sahel-Region und den Grenzgebieten zwischen der Zentralafrikanischen Republik, dem (Süd-)Sudan, Uganda und der Demokratischen Republik Kongo durch.
Der europäische Beitrag der Ausbildungsinitiative fokussierte auf explizit für den Einsatz in destabilisierten Gebieten aufgebaute „robuste“ Polizei- und Gendarmeriekräfte. Hierzu wurde im italienischen Vicenza das Center of Excellence for Stability Police Units (CoESPU) aufgebaut, an dem, wiederum mit US-amerikanischer Unterstützung, bis Dezember 2010 3.500 Polizeisoldaten überwiegend aus Afrika ausgebildet wurden. Das CoESPU koordiniert darüber hinaus gemeinsame Trainingszyklen sowohl europäischer Gendarmeriekräfte untereinander, als auch mit Drittstaaten. Das seit 2007 jährlich stattfindendende “European Union Police Forces Training” etwa wurde 2010 für nicht-EU-Staaten geöffnet und 2011 zu einem dreijährigen Programm ausgebaut, das Übungen in Spanien, Frankreich, Kenia, Kamerun, den Niederlanden und Italien umfasste. Beteiligt waren u.a. Gendarmeriekräfte aus Ghana, Nigeria, Ruanda und Südafrika.
Insbesondere aber legte sich die EU finanziell ins Zeug. Bereits im Dezember 2003 hatte der Ministerrat die Einrichtung einer Afrikanischen Friedensfazilität (APF) beschlossen, bei der es sich im Grunde um eine Umwidmung jener Mittel handelt, die zuvor im Rahmen des Europäischen Entwicklungsfonds ausbezahlt wurden. Zunächst wurden so 250 Mio. für den Zeitraum von drei Jahren für den Aufbau und Einsätze afrikanischer Truppen bereitgestellt, später wurde das Programm verlängert und das Budget kontinuierlich erhöht. Bis 2013 wurden über die APF fast 1.2 Mrd. Euro bereitgestellt, von denen über 90% in die Finanzierung von „Friedenseinsätzen“ in Afrika, 8.3% in den Kapazitätsaufbau und 1.3% in sogenannte Early Response-Mechanismen (ERM) flossen. Unter Kapazitätsaufbau werden dabei nicht nur Aufbau und Unterhalt (bis hin zur Zahlung der Gehälter) jener Strukturen der Afrikanischen Union (AU) und ihrer subregionalen Organisationen verstanden, die für die Zusammenarbeit mit der EU bei der politischen Vorbereitung und Entscheidung über Militäreinsätze zuständig sind, sondern auch internationale Manöver zur Führung multinationaler Truppen und Ausbildungszentren für Militärs auf kontinentaler und regionaler Ebene. Eine zivile und präventive Komponente stellen allenfalls die ERM dar, wobei auch etwa die Erarbeitung von Operationsplänen für Militäreinsätze hierüber finanziert wurde.
Neben der APF hat die Europäische Union mit dem Instrument für Stabilität (IfS) einen weiteren, noch deutlich flexibleren und nicht auf Afrika beschränkten Finanzierungsmechanismus eingerichtet, der es u.a. ermöglicht, an ungeliebten Regimen (etwa in Zimbabwe) vorbei direkt Organisationen der Zivilgesellschaft zu unterstützen. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch auch hier, dass ein wesentlicher Teil in den Aufbau so genannter Sicherheitskräfte floss und zwar häufig in jenen Ländern, wo diese anschließend an innerstaatlichen Auseinandersetzungen beteiligt waren. Der Jahresbericht 2012 etwa gibt – sehr ungenau – Auskunft über 196 Mio. Euro, die für kurzfristige Maßnahmen zur Krisenreaktion ausgegeben wurden, etwa ein Drittel davon auf dem afrikanischen Kontinent. Hiervon flossen 13.4 Mio. Euro nach Libyen, das angeblich in diesem Jahr „signifikante Fortschritte auf dem Weg zu demokratischen Transition“ vollzogen habe und wo u.a. eine Bedarfsanalyse für eine EU-Mission zur Verbesserung des Integrierten Grenzschutzes finanziert wurde. Im angrenzende Staat Niger wurde mit 10.9 Mio. Euro u.a. eine EU-Mission zur Ausbildung von Gendarmeriekräften finanziert, weitere Projekte in Sub-Sahara-Afrika betrafen den Tschad (5 Mio.), die Zentralfrikanische Republik (4 Mio.) und Nigeria (4.5 Mio.). 2013 umfasste das IfS insgesamt knapp 310 Mio. Euro, von denen wiederum etwa ein Drittel auf Projekte in Afrika entfiel. Von den insgesamt 210 Mio. Euro für kurzfristige Maßnahmen gingen 20 Mio. nach Mali, um das dortige EU-Projekt zur Terrorismusbekämpfung sowie die EU-Trainingsmission für malische Soldaten zu flankieren. Weitere, nicht näher genannte Summen flossen wiederum nach Niger, Tschad und in die Côte d’Ivoire, wo die EU 2011 mit Sanktionen und Embargomaßnahmen einen Regimechange unter Führung Frankreichs unterstützt hatte. 44 Mio. Euro wurden für längerfristige Maßnahmen zur Bekämpfung überregionaler Bedrohungen ausgegeben. Darunter fiel u.a. die Stärkung der Bekämpfung des Drogenhandels in Westafrika, die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Geheimdiensten und Militärs bei der Bekämpfung des Terrorismus im Sahel (Niger, Mali, Mauretanien, Algerien, …) und die Bekämpfung der Piraterie am Golf von Guinea sowie vor der ostafrikanischen Küste.
Perpetuierung der Bürgerkriege
Alleine bis Ende 2013 flossen insgesamt knapp 580 Mio. Euro aus der APF in den Einsatz AMISOM mit gegenwärtig 22.000 Soldaten überwiegend aus Uganda (6.223), Burundi (5.432), Äthiopien (4.395), Kenia (3.664) und Djibouti (1.000) in Somalia. Sie bekämpfen seit 2008 jene Milizen und Fraktionen, die sich nach einer US-gestützten Invasion Äthiopiens nicht an einer von den UN, USA und EU eingesetzten und aus Exilpolitikern bestehenden Übergangsregierung beteiligen wollten und danach überwiegend in der radikalislamistischen Gruppe Al Shabab zusammengeschlossen haben. Flankiert von einer Trainingsmission der EU und weiteren bilateralen Ausbildungsprogrammen Frankreichs, Großbritanniens und der USA baut sie außerdem eine neue Nationale Armee für die überwiegend vom Ausland aus operierende Regierung aus. Letztlich handelt es sich dabei um ein Programm zur weiteren Militarisierung Somalias und Internationalisierung des Bürgerkriegs. De Facto bauen sowohl die beteiligten NATO-Staaten, wie die afrikanischen Nachbarstaaten hier jeweils auch untereinander konkurrierende und schwer zu kontrollierende Truppen auf. Ein besonderer Hemmschuh für eine friedliche Entwicklung besteht dabei darin, dass an AMISOM vor allem Nachbarstaaten Somalias beteiligt sind, die offensichtlich ein Interesse an einem schwachen und instabilen Somalia haben (Somalia hegt Gebietsansprüche auf den Territorien Kenias, Äthiopiens und Djiboutis).
Bis Anfang 2014 haben die EU und ihre Mitgliedstaaten insgesamt grob eine Mrd. Euro in diesen internationalen Bürgerkrieg gepumpt, indem sie die Einsätze der Nachbarstaaten finanziert und deren Soldaten ausgebildet haben. Etwa 300 Mio. Euro flossen aus der APF zwischen 2004 und 2007 in die AMIS-Mission in Darfur, welche die EU zusätzlich durch Militär- und Polizeiausbilder sowie strategischen und taktischen Lufttransport unterstützte. Im Anschluss begann 2008 – begleitet von Interventionsdrohungen der USA gegen den Sudan – eine EU-Mission in den westlich an diesen grenzenden Staaten Tschad und Zentralafrikanische Republik. Von der proklamierten Zielsetzung her kam dieser Einsatz der Schaffung von ‚Safe Havens‘ recht nahe, wurde er doch mit dem Schutz von Flüchtlingen aus Darfur begründet. Tatsächlich jedoch war er natürlich gegen das Regime in Khartum gerichtet, das in der Folge Rebellen im Tschad aufrüstete, woraufhin dort die Lage eskalierte und französische Kampfflugzeuge und Elitesoldaten der dortigen Regierung zu Hilfe eilen mussten.
Die EU-Mission lieferte zwar wertvolle ‚Lessons Learned‘, also Erkenntnisse für zukünftige Einsätze in Wüstengebieten, konnte jedoch nur mit Unterstützung russischer Helikopter durchgeführt werden und wurde Anfang 2009 durch eine UN-Mission im Tschad und eine Mission der Afrikanischen Union in der Zentralafrikanischen Republik abgelöst. Beide hatten die Ausbildung von Polizei- und Gendarmeriekräften zum Ziel, in die auch die Mittel aus dem Instrument für Stabilität flossen, der Einsatz der AU wurde darüber hinaus bis 2013 mit knapp 70 Mio. Euro aus der APF finanziert. Das in beiden Staaten ohnehin kaum vorhandene Gewaltmonopol des Staates und die eher informelle Kontrolle der Sicherheitskräfte – das Regime in Tschad stützt sich in der Hauptstadt v.a. auf französische Soldaten, während es selbst in der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik Soldaten stationiert hat, um die dortige Regierung zu „schützen“ bzw. kontrollieren – wurden durch die Aufstellung immer neuer bewaffneter Einheiten weiter unterlaufen. Ende 2010 wurde die UN-Mission im Tschad nach Aufforderung der dortigen Regierung beendet – dafür hatten US-Spezialkräfte zwischenzeitlich im Grenzgebiet zum Sudan und der Demokratischen Republik Kongo Ausbildung für und die Führung gemeinsamer Einsätze mit tschadischen (und ugandischen) Soldaten übernommen. 2011 dann spaltete sich der christlich geprägte Südsudan unter Jubel der internationalen Gemeinschaft und nach vorherigem Aufbau und Aufrüstung durch die NATO-Staaten vom islamisch geprägten Zentralstaat ab – um ab Ende 2013 seinerseits im Bürgerkrieg zu versinken. Bereits Anfang 2013 hatte ein muslimisch geprägtes Bündnis unter massiver Beteiligung tschadischer Soldaten und offensichtlich mit Rückendeckung der dortigen Regierung gegen die Regierung der Zentralafrikanischen Republik geputscht und ist anschließend in marodierende Banden zerfallen. Spontan gebildete christliche Milizen reagierten mit Übergriffen auf die muslimische Zivilbevölkerung, die daraufhin in großen Teilen von französischen Soldaten außer Landes gebracht wurde. Von den zuvor mit viel europäischem Geld aufgebauten Sicherheitskräften in der Zentralafrikanischen Republik war sofort nach dem Putsch nichts mehr zu sehen – entweder sie desertierten oder schlossen sich einer der verschiedenen Milizen und Banden an.
Entgrenzter „Krieg gegen den Terror“ und Entmündigung der Bevölkerung
Während über die Zusammenhänge zwischen der Abspaltung des Südsudan und dem Konflikt in der Zentralafrikanischen Republik nur spekuliert werden kann, bezogen sich die Sezessionisten im Norden Malis ganz offen auf diesen afrikanischen Präzedenzfall. Im April 2012 erklärten sie in Folge der Zerschlagung Libyens den zu Mali gehörenden Azawad für unabhängig, verloren jedoch in weiten Teilen schnell die Kontrolle an radikalislamistische Kräfte. Gut ein Jahr zuvor hatte der neu gegründete Europäische Auswärtige Dienst als neue Superbehörde der EU-Außenpolitik (er fasst auf EU-Ebene die Funktionen nationaler Außen- und Verteidigungsministerien mit wirtschaftspolitischen, geheimdienstlichen, humanitären und entwicklungspolitischen Funktionen zusammen) eine umfassenden Strategie für den Sahel veröffentlicht und die Region zwischen Mauretanien und Niger damit zum Schwerpunkt der EU-Außenpolitik gemacht. Bereits zuvor wurden hier zahlreiche humanitäre und sicherheitspolitische Maßnahmen mit dem Ziel der Bekämpfung des Terrorismus und der Migration miteinander verzahnt und u.a. über das Instrument für Stabilität der Bau neuer Kasernen, Gefängnisse und Lagezentren sowie der Ausbau der Polizei- und Militärkooperation mit und zwischen den Staaten der Region finanziert. Spezialkräfte der US-Armee führten spätestens seit 2005 mit Beteiligung der Bundeswehr und des Kommandos Spezialkräfte Trainingsmaßnahmen und Übungen mit „einzelne[n] militärische[n] Gruppen aus westafrikanischen Staaten“ durch.(5) Von der lokalen Bevölkerung wurde diese Aufrüstung als Bedrohung ihrer Autonomie wahrgenommen, was gemeinsam mit dem Vorbild Südsudan und der Zerschlagung Libyens letztlich zur Unabhängigkeitserklärung führte. Diese wiederum löste in Mali einen Putsch und eine französische Militärintervention aus, die von mehreren EU-Missionen und einer UN-Mission flankiert wird. Deutschland und die EU beteiligen sich hierbei u.a. mit der Ausbildung malischer Soldaten und nigrischer Gendarmeriekräfte sowie mit einem unüberschaubaren Geflecht von Transportflügen afrikanischer Truppenkontingente quer über den Westen des afrikanischen Kontinents. Die Bundeswehr übernimmt auch die Luftbetankung französischer Kampfflugzeuge, sofern diese nach ihrer Auffassung im Rahmen des Mandates der UN-Mission tätig sind. Diese Einschränkung wurde nötig, da Frankreich seinen Einsatz in Mali mittlerweile zu einem eigenen „Krieg gegen den Terror“ ausgeweitet hat, der die Länder Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad umfasst, weitere Kontingente hat Frankreich im Senegal, der Côte d’Ivoire, der Zentralafrikanischen Republik und Djibouti stationiert – was in etwa die Großregion umreißt, in denen die USA in den vergangenen Jahren massiv die Präsenz von Überwachungsdrohnen ausgebaut haben und ebenfalls mit Unterstützung von Spezialkräften und lokalen Milizen den Terrorismus „bekämpfen“.
Weniger Ursache als Folge all dieser Aktivitäten ist die umfangreiche Militarisierung und Destabilisierung sowie die Entmündigung der lokalen Bevölkerung durch internationale Truppenpräsenz und lokale Stellvertreter, die eine Plünderung der Ressourcen und Enteignung des Landes gewährleisten. Wenn nun sinkende Flüchtlingsboote als Begründung zur Intensivierung dieser Maßnahmen herhalten, so ist es nur konsequent, dass auch die Bundesmarine ins Mittelmeer entsandt wird, um Boote zu versenken, mit denen Menschen dorthin zu kommen trachten, wo ihre Probleme – nicht nur in der Vergangenheit – ihren Ausgang nahmen.
Anmerkungen
(1) Ronja Kempin / Ronja Scheler: Migration nach Europa – Mehr außenpolitisches Engagement der EU in ihrer Nachbarschaft nötig, SWP „kurz gesagt“ vom 28.4.2015, URL: http://www.swp-berlin.org/publikationen/kurz-gesagt/eu-muss-migration-nach-europa-mit-mehr-aussenpolitischem-engagement-in-ihrer-nachbarschaft-begegnen.html.
(2) Henryk M. Broder: Wir sind den Afrikanern Bundeswehreinsätze schuldig, Welt.de vom 4.5.2015, URL: http://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article140455149/Wir-sind-den-Afrikanern-Bundeswehreinsaetze-schuldig.html.
(3) Herfried Münkler: Die gefährliche Kluft zwischen Schein und Tun – Auf die Interessen kommt es an!, Beitrag im Rahmen des Review 2014 des Auswärtigen Amtes vom 23.5.2014, URL: http://www.aussenpolitik-weiter-denken.de/de/aussensicht/show/article/die-gefaehrliche-kluft-zwischen-schein-und-tun.html.
(4) Ronja Kempin / Ronja Scheler: Berliner Blockade, Berliner Republik 2/2013. URL: http://www.b-republik.de/archiv/berliner-blockade.
(5) Quellen und Details zu diesen gemeinsamen „Übungen“ der Bundeswehr und der US-Army finden sich hier: Christoph Marischka: US-AfriCom und KSK seit Jahren in Mali aktiv, Telepolis vom 1.7.2013, URL: http://www.heise.de/tp/artikel/39/39411/1.html. Finanziert wurden sie von Seiten des Bundesverteidigungsministeriums über den Haushaltstitel „Sonstige Übungskosten“. Die Frage, in welchen Staaten hieraus zu welchem Zweck sonst noch Mittel verausgabt wurden, antwortete die Bundesregierung in Drucksache 18/1410: „Eine Datenerfassung hierzu erfolgt grundsätzlich nicht.“