IMI-Standpunkt 2014/035b
Flugzeugabschuss: Steilvorlage für nächsten Eskalationsschritt im Ukraine-Konflikt?
von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 12. August 2014
Am 17. Juli 2014 stürzte über dem Osten der Ukraine eine Boeing 777 der Malaysia Airlines (MH-17) mutmaßlich aufgrund eines Raketenbeschusses ab. Obwohl die genaueren Umstände und insbesondere die Urheber der Tragödie, bei der 298 Menschen ums Leben kamen, bis heute vollkommen ungeklärt sind, waren sich interessierte Kreise im Westen – nämlich diejenigen, die ohnehin seit langem einen Eskalationskurs gegenüber Russland befürworten – sicher, dass hierfür Moskau und/oder die von ihm unterstützten separatistischen Kräfte im Osten zur Verantwortung gezogen werden müssten.
So gab US-Präsident Barack Obama bereits kurz nach dem Ereignis bekannt, ihm lägen Erkenntnisse vor, dass die Maschine von Rebellen in der Ost-Ukraine abgeschossen worden sei und Russland eine direkte Mitschuld trage. Selbst nachdem die US-Geheimdienste Tage später einräumen mussten, über keinerlei Informationen zu verfügen, die eine direkte russische Beteiligung nahe legen würden, wird diese Version unverdrossen aufrechterhalten. Auch die deutsche Politik und insbesondere die Medien befleißigen sich eines russophoben Tons, der die Schwelle zur Kriegstreiberei schon lange überschritten hat.
Nichts ist unmöglich, auch nicht, dass der Abschuss tatsächlich auf das Konto der Separatisten oder Russlands geht – nur ob dies wahrscheinlich ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Tatsächlich stützen zahlreiche Indizien Moskaus Sicht, die Tat sei von ukrainischen Regierungstruppen verübt worden. Doch hiervon gänzlich unbeeindruckt, wird hierzulande weiter an der Eskalationsschraube gedreht, obwohl dies angesichts der bislang westlicherseits präsentierten hochgradig widersprüchlichen und in keiner Weise konklusiven „Beweise“ jeglicher Grundlage entbehrt.
Die Frage, weshalb um alles in der Welt Russland eine Tat begehen sollte, die vollkommen vorhersehbar allein seinen Gegnern in die Karten spielen würde, wird überhaupt nicht gestellt. Dies und die Erfahrung, dass wohl nahezu alle Kriege – insbesondere auch die des Westens in der jüngeren Vergangenheit – mit dreisten Lügenkonstrukten gerechtfertigt wurden, sollte eigentlich eine Warnung vor vorschnellen Vorverurteilungen sein. Was es nun bedarf ist eine genaue Untersuchung und nicht ein militaristisches Säbelrasseln, das genau in die Eskalation führen könnte, die sich viele im Westen scheinbar ohnehin herbeisehnen.
Kriegslügen
Kriegslügen haben eine lange Geschichte, wir der Historiker Wolfram Wette ausführt: „Aischylos (525-456 v. Chr.), der griechische Dichter und Schöpfer der griechischen Tragödie, erkannte den Zusammenhang bereits in voller Klarheit: ‚Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer.‘ Diese Erkenntnis ist seitdem in verschiedenen Varianten vieltausendfach wiederholt worden. Das kann kein Zufall sein. Es muss damit zusammen hängen, dass die historische Wirklichkeit den Sachverhalt immer wieder bestätigt hat.“[1]
Doch auch wenn man nicht gewillt ist, so weit in die Vergangenheit zurückzugehen, findet sich auch in jüngerer Zeit kaum ein Konflikt bzw. eine Militärintervention mit westlicher Beteiligung, in dem Kriegslügen nicht eine wesentliche Rolle gespielt haben, um die augenscheinlich angestrebte Eskalation herbeiführen und legitimieren zu können: Die Brutkasten-Lüge (Irak-Krieg 1990[2]), das angebliche „Massaker“ von Racak (Jugoslawien-Krieg 1999[3]), Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen (Irak-Krieg 2003[4]) und die vorgebliche Bombardierung von Zivilisten (Libyen-Krieg 2011[5]) sind hier nur einige „Highlights“ in diesem Zusammenhang.
Selbst der auf den ersten Blick „eindeutigste“ Fall, der Angriff der USA auf Afghanistan (2001) aufgrund der Unterstützung Osama Bin Ladens durch die Taliban, wirft bei näherer Betrachtung eine Menge Fragen auf. Denn in jedem Fall entspricht die Behauptung, die Taliban seien nicht zur Auslieferung Bin Ladens bereit und ein Angriff somit – aus US-Sicht – unumgänglich gewesen, nicht der Wahrheit. Schon vor dem 11. September 2001 kam es mehrfach zu Verhandlungen mit den USA, in denen die Taliban die Auslieferung Bin Ladens angeboten hatten[6] und auch danach blieb diese Tür durchaus offen, sie wurde jedoch von den USA bewusst zugeschlagen, obwohl – oder wohl besser: weil – hierdurch ein Krieg hätte verhindert werden können.[7]
Zuletzt wurde die syrische Regierung beschuldigt, Chemiewaffen gegen Aufständische eingesetzt zu haben. Doch auch dieser Vorwurf stand mit der Zeit auf immer wackligeren Beinen, während sich die Indizien mehrten, dass tatsächlich die Aufständischen selbst die Urheber waren, um hierdurch eine westliche Militärintervention zu ihren Gunsten herbeizuführen.[8] Zumindest eines sollten diese Erfahrungen dringend nahe legen: Eindeutige Wahrheiten sind in Kriegssituationen mehr als einmal zu hinterfragen und vorschnelle Verurteilungen sind nichts anderes als verantwortungslose Kriegstreiberei.
Anschuldigungen und Drohungen
Für den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko ist die Sache eindeutig: Bei dem Flugzeugabschuss handele sich um einen „terroristischen Akt“ der Rebellen, weshalb der Westen ihn bzw. sein Land im Kampf gegen diese Kräfte nun noch stärker unterstützen müsse.[9] Der ukrainische Parlamentsvorsitzende Alexander Turtschinow forderte ebenfalls, es sei „Zeit für die zivilisierte Welt“, der Ukraine zu helfen, „die Terroristen zu vernichten, wo immer sie sein mögen, durch den Beginn der Lieferung von modernen Waffen und militärischer Ausrüstung an uns“.[10]
Auch US-Präsident Barack Obama war sich der Sachlage schnell sicher: „Die Indizien deuten darauf hin, dass das Flugzeug von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen wurde, die von einem Gebiet in der Ukraine gestartet wurde, das sich unter Kontrolle von Russland unterstützter Separatisten befindet.“[11] Noch weit über diese Anschuldigung hinaus geht jedoch der Vorwurf, Russland habe die Rebellen mit dem notwendigen Waffensystem ausgerüstet und sei demzufolge direkt zur Verantwortung zu ziehen. Beispielhaft äußerte sich US-Außenminister John Kerry: „Es ist ziemlich klar, dass dieses System von Russland in die Hände der Separatisten gelangte.“[12] Dies wiederum bildet die Grundlage für Forderungen, den bisherigen antirussischen Kurs noch weiter zu verschärfen. Ganz vorne mit dabei einmal mehr der einflussreiche ehemalige republikanische Präsidentschaftskandidat, Senator John McCain: „Sollte sich herausstellen, dass Russland oder die Separatisten hinter dieser Katastrophe stecken, dann blüht ihnen die Hölle auf Erden. Dann hat das schreckliche Konsequenzen.“[13]
Hierzulande meldete sich u.a. Unionsfraktionsvize Andreas Schockenhoff zu Wort, der einen Blauhelmeinsatz mit deutscher Beteiligung forderte: „Wir sind jetzt in einer Phase, in der wir über einen Blauhelmeinsatz unter dem Dach der Vereinten Nationen mit einem entsprechenden Mandat nachdenken müssen. […] Wenn eine solche Mission zustande kommen sollte, würde auch Deutschland gefragt sein.“[14] Auch in der SPD gibt es Stimmen, die den Vorschlag befürworten. So wird Hans-Peter Bartels, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses des Bundestags, mit den Worten zitiert: „Zunächst muss eine Lösung für den Frieden in der Ukraine gefunden werden. Wenn es dann darum geht, eine Vereinbarung zu überwachen, wäre ein Blauhelm-Einsatz denkbar.“[15]
Dies alles geschieht, wie gesagt, ohne dass die genauen Umstände auch nur im Entferntesten aufgeklärt wären. Ganz vorne mit dabei sind hier vor allem auch die wichtigsten deutschen Leitmedien, die mit der von ihnen gewohnten journalistischen Sorgfaltspflicht betonen, es gäbe noch keine 100 Prozent sicheren Erkenntnisse, wer zu beschuldigen sei, es aber trotzdem eigentlich doch schon ganz genau wissen.
Ganz besonders in die Eskalationskerbe haute Klaus-Dieter Frankenberger, der in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ bereits einen Tag nach dem Absturz die „Indizien“ folgendermaßen zu deuten wusste: „Im Moment kann man sich nur auf Vermutungen stützen […] Aber es gibt Indizien, die es plausibel erscheinen lassen, dass es ein rücksichtsloser, ruchloser militärischer Akt war, verübt von prorussischen Separatisten in der Ostukraine, die das Flugzeug auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur mit einer Boden-Luft-Rakete abschossen; möglicherweise haben sie es mit einem ukrainischen Militärflugzeug verwechselt. […] Die Europäische Union wiederum wird nun entscheiden müssen, ob sie die Sanktionsschraube kräftig anzieht oder ob sie weiterhin Illusionen nachläuft.“[16]
Auch der stets interventionsfreudige Stefan Kornelius, Leiter des außenpolitischen Ressorts der „Süddeutschen Zeitung“, warnte am Tag nach dem Ereignis zwar davor, dies als abschließende Beweise misszuverstehen, dennoch seien die „Indizien“ aber „erdrückend“: „Der Absturz der malaysischen Maschine wird diesen Krieg entscheidend beeinflussen. Die Ukraine wird alle Unterstützung brauchen, um ihre Grenzen schließen und sichern zu können. Sollte am Ende die Beweiskette gegen die prorussischen Separatisten und die Waffenlieferanten aus Moskau geschlossen sein, dann wird Russland die volle Wucht der Sanktionen treffen müssen – auch und gerade aus Europa.“[17]
Besonders tat sich auch Wolfgang Münchau, Gründer und Co-Chefredakteur der „Financial Times Deutschland“ hervor, dem der „Spiegel“ ein Forum für seine anti-russischen Ergüsse bot: „Der letzte Beweis steht noch aus, aber Russland scheint politisch für den Tod der Menschen an Bord von MH17 verantwortlich zu sein. Harte Sanktionen im Finanz- und Rohstoffbereich sind die richtige Antwort – auch wenn das deutschen Managern nicht gefällt. […] Putin-Freunde in Deutschland werden weiterhin formaljuristisch insistieren, dass es keine ‚Beweise‘ dafür gibt, dass Russland irgendetwas mit dem Abschuss von Flug MH17 zu tun hatte. Doch die Anzeichen sind überdeutlich. […] Die Indizien reichen für ein politisches Urteil der Situation aus. Und um ein politisches Urteil geht es. Hier entscheidet kein Gericht. […] Wie man es richtig macht, haben die Amerikaner in der letzten Woche demonstriert – noch vor dem Abschuss von MH17. Sie setzen auf Finanzsanktionen. Damit schneiden sie den russischen Firmen die Luft ab. […] Nicht nur Schröder ist das Problem. Der Bundeswirtschaftsminister sollte den Vorstandschefs deutscher Unternehmen klarmachen, dass Kontakte mit Putin und seiner Umgebung offiziell unerwünscht sind. Russland wird bis auf weiteres als Zielort deutscher Investitionen ausfallen. Der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft sollte jetzt helfen, den strategischen Rückzug aus Russland für deutsche Unternehmen zu organisieren.“[18]
Endgültig schoss der Spiegel dann mit seinem Titelbild vom 28. Juli 2014 den Vogel ab: Es bildete Gesichter der Opfer des Flugzeugabsturzes ab, verbunden mit der unmissverständlichen Aufforderung: „Stoppt Putin jetzt!“ Mit diesem bestenfalls geschmacklosen, aber wohl eher zielsicher kriegstreiberischen Titelblatt hatte die anti-russische Hetze des Magazins einen neuen unrühmlichen Höhepunkt erreicht. Wie das Blatt selbst einräumte, hätte dies „einige heftige Reaktionen“ ausgelöst, weshalb es sich genötigt sah, sich mit dem Beitrag „Wer ist der Kriegstreiber?“ auf Spiegel Online den Kritikern zu stellen. Doch auch in diesem Text war von irgendeiner Einsicht keine Spur: Im Prinzip wurde darin die Auffassung vertreten, man habe alles richtig gemacht und unter den Kritikern seien ohnehin viele „organisiert auftretende, anonyme User“ – gemeint sind offensichtlich von Russland finanzierte Agenten – gewesen. Dann wurden noch einmal „harte wirtschaftliche Sanktionen“ gefordert. Als Begründung hierfür wurde angeführt: „Diese Forderung ähnelt […] der von 52 Prozent der Deutschen, die laut einer repräsentativen SPIEGEL-Umfrage Sanktionen auch dann unterstützen würden, wenn sie viele Arbeitsplätze gefährden sollten.“[19] Auf den Haken an dieser Umfrage hat aber u.a. Telepolis hingewiesen: „Die Frage, die laut Spiegel TNS-Infratest im Auftrag vom Spiegel stellte: ‚Sollen nach dem Abschuss des malaysischen Flugs MH17 die Strafmaßnahmen gegen Russland verschärft werden?‘ Eine Suggestivfrage, die suggeriert, Russland sei an dem Abschuss schuld, obwohl es dazu bisher keine Beweise oder Untersuchungen gibt.“[20] Danach folgte noch der lapidare Verweis, der kritische Leser solle doch noch einmal in den unten aufgeführten Leitartikel blicken, dort seien schließlich alle Beweise niet- und nagelfest zusammengetragen, aus denen sich die Haltung des Magazins schlüssig ableiten ließe – doch die dort genannten „Beweise“ für eine Täterschaft der Rebellen bzw. Russlands waren bestenfalls fragwürdig oder schon seit Tagen klar widerlegt.[21]
Selbst einigen Medienkollegen scheint es angesichts der Vehemenz, mit der sich aktuell anti-russische Ressentiments Bahn brechen, mulmig zu werden. Vor der beobachtbaren „geistigen Mobilmachung“ warnte etwa der Herausgeber des Handelsblattes, das in einem gleichzeitig auch auf englisch und russisch lancierten Artikel – sicherlich auch mit Blick auf die Interessen der vom Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft vertretenen Unternehmen – die deutschen Medien scharf attackierte: „Der deutsche Journalismus hat binnen weniger Wochen von besonnen auf erregt umgeschaltet. Das Meinungsspektrum wurde auf Schießschartengröße verengt. Blätter, von denen wir eben noch dachten, sie befänden sich im Wettbewerb der Gedanken und Ideen, gehen im Gleichschritt mit den Sanktionspolitikern auf Russlands Präsidenten Putin los. […] Der ‚Tagesspiegel‘: ‚Genug gesprochen!‘ Die ‚FAZ‘: ‚Stärke zeigen‘. Die ‚Süddeutsche Zeitung‘: ‚Jetzt oder nie‘. Der ‚Spiegel‘ ruft zum ‚Ende der Feigheit‘ auf: ‚Putins Gespinst aus Lügen, Propaganda und Täuschung ist aufgeflogen. Die Trümmer von MH 17 sind auch die Trümmer der Diplomatie.‘ Westliche Politik und deutsche Medien sind eins.“[22]
Angesichts der ultrascharfen Rhetorik verschlägt es einem dann endgültig die Sprache, wenn man einen Blick auf die „Indizien“ wirft, auf die allenthalben so großspurig rekurriert wird, um die anti-russischen Tiraden zu rechtfertigen.
Und die deutlichen Beweise…
Die ukrainische Regierung legte nahezu unmittelbar nach dem Absturz erste „Beweise“ vor, die ihrer Ansicht nach zweifelsfrei die Urheberschaft der Rebellen nachweisen würden. Diese wurden nicht nur von den bereits oben zitierten Leitmedien für bare Münze genommen, auch die „Bild“ sprang hier von Anfang an mit ins Boot und präsentierte sämtliche „Indizien“ bündig auf ihrer Internetseite: „Alle Spuren führen zu ihm“ – „Gab Rebellen-Chef Igor Strelkow den Befehl, auf Flug MH-17 zu schießen?“ – „Auf Facebook feierte er den Abschuss!“ – „Verräterischer Funkverkehr!“[23]
Zunächst wurden vor allem zwei „klare Hinweise“[24] für eine Urheberschaft der Separatisten genannt: Strelkow, der in den Medien als „Verteidigungsminister“ der „Republik Donezk“[25] bezeichnet wird, soll auf VKontakte, dem russischen Facebook-Pendant, den Abschuss einer Antonow AN-26 gemeldet haben. Dieser Eintrag – so die gängige Interpretation – sei gelöscht worden, nachdem sich herausgestellt habe, dass es sich stattdessen um die zivile MH-17 gehandelt habe. Strelkov soll also eine 24 Meter lange Antonow mit einer 74 Meter langen Boeing verwechselt haben, deren Flughöhen 5.000 bzw. 10.000 Meter betragen. Dies ist zumindest zweifelhaft, wie weiter unten noch näher ausgeführt wird, da der Betrieb eines Buk-Systems Kenntnisse erfordert, die nahezu zwingend bedeuten, eine zivile von einer militärischen Maschine unterscheiden zu können. Demgegenüber lautet die Version der Rebellen, es habe sich überhaupt nicht um Strelkovs Account gehandelt, sondern um eine „Fake-Seite“ von Unterstützern, die den Absturz fehlgedeutet hätten.[26]
Auch die „Beweiskraft“ der – ausgerechnet – vom ukrainischen Geheimdienst SBU abgehörten Telefongespräche, aus denen hervorgehe, dass eine Rebelleneinheit hierfür verantwortlich gewesen sei, lässt zu wünschen übrig. Einer der eher seltenen Fälle, in denen in den Medien versucht wurde, sorgsam abwägend die präsentierten „Fakten“ zu beurteilen, findet sich im „Focus“: „Unklar bleibt, ob diese Funksprüche tatsächlich so stattgefunden haben und ob die Gesprächspartner tatsächlich die genannten sind. In der Krise haben die ukrainische Regierung, proeuropäische Kräfte aber auch Russland und prorussische Kräfte die sozialen Netzwerke und die staatlichen Medien immer wieder für ihre eigenen, propagandistischen Zwecke genutzt. Derzeit gibt es noch keine Anhaltspunkte, die die Funksprüche einerseits verifizieren oder andererseits als gezielte Manipulation entlarven könnten.“[27]
So, das war zunächst alles, mehr lag anfangs nicht vor und trotzdem wurde auf Grundlage dieser vollkommen schwammigen und durch nichts verifizierten Indizien allenthalben festgestellt, der Fall sei eindeutig.
Sodann wurde sich der Frage gewidmet, wie die Rebellen in den Besitz einer Waffe, höchstwahrscheinlich ein Buk-System (auch: SA-11), gelangt sein konnten, mit der ein Flugzeug, das Angaben zufolge in etwa 10.000 Meter Höhe flog, abgeschossen werden konnte. Denn gesichert ist lediglich, dass sie über schultergestützte Boden-Luft-Flugabwehrraketensysteme (Manpads) verfügen; mit ihnen können aber „nur“ Ziele bis zu einer Höhe von etwa 4.500 Meter abgeschossen werden.
Von ukrainischer Seite wird dabei betont, aus eigener Kraft seien die Rebellen – entgegen früheren Angaben – nicht an ein solch fortgeschrittenes Buk-System gelangt – was gleichzeitig den Weg freimacht, im selben Atemzug Russland hierfür verantwortlich zu machen: “Die prorussischen Separatisten in der Ostukraine haben nach Kenntnis ukrainischer Behörden keine Raketenflugabwehrsysteme vom Typ ‚Buk‘ für den Abschuss von Flugzeugen in ihrem Besitz gehabt. Die Aufständischen hätten – anders als von ihnen selbst im Juni behauptet – keine einsatzfähigen Waffensysteme dieser Art erobert, sagte der ukrainische Generalstaatsanwalt Witali Jarema am Freitag in Kiew Medien zufolge. Aus Sicht der Ukraine führt die Spur nach Russland.“[28]
Einigkeit besteht weitestgehend darüber, dass es sich hierbei – im Gegensatz zu Manpads – um ein „kompliziertes und anspruchsvoll zu bedienendes System“ handelt[29]: „Es bedarf einer Menge Trainings und umfassender Koordination, um so ein Ding abzuschießen und etwas zu treffen. […] Das ist nicht die Sorte Waffe, die ein paar Typen aus der Garage ziehen und abfeuern können.“, wird etwa der pensionierte Brigadegeneral Kevin Ryan zitiert.[30] Die Komplexität des Systems dient dabei wiederum als weiterer „Beweis“ für eine Involvierung Moskaus, die noch über die „bloße“ Lieferung der Systeme hinausreiche. So betonte Samantha Power, die US-Botschafterin bei der UN, dass es „aufgrund der technischen Komplexität der SA-11 unwahrscheinlich ist, dass die Separatisten das System ohne Hilfe von kenntnisreichem Personal betreiben könnten. Deshalb können wir eine technische Unterstützung durch russisches Personal beim Betrieb des Systems nicht ausschließen.“[31] Auch andere hochrangige Regierungsvertreter pochten auf diese Interpretation: „US-Vertreter sagen unter der Hand, dass sie von einer tieferen Verstrickung der Russen ausgehen als lediglich der Lieferung von Waffensystemen an die Rebellen. Konteradmiral John Kirby, Pressechef des Pentagon, sagte am Freitag, dass die SA-11 ‚ein anspruchsvolles System‘ sei und ‚man muss schon sehr leichtgläubig sein, wenn man meint, dass die Separatisten dieses ohne eine gewisse russische Unterstützung und technische Hilfe bedienen können.‘“[32]
Doch dieses Konstrukt hat einen riesigen Schönheitsfehler – ihm wurde von den US-Geheimdiensten faktisch der Boden unter den Füßen weggezogen. Mutmaßlich unter Druck gesetzt durch Russland, das für seine Sichtweise Belege vorlegte und die USA aufforderte, gefälligst dasselbe zu tun, hielten auch die USA am 22. Juli 2014 eine Pressekonferenz ab, zu der „ausgewählte“ Journalisten geladen wurden. Eigentlich sollten dort drei Geheimdienstler – unter der Bedingung der Anonymität – den Reportern hieb- und stichfest erörtern, weshalb die Regierung zu den jeweiligen Schlussfolgerungen gelangt war. Das Ergebnis war jedoch das genaue Gegenteil: „Der US-Geheimdienst hat nach Regierungsangaben bislang keine Beweise für eine direkte Beteiligung Russlands an dem mutmaßlichen Abschuss eines Passagierflugzeuges in der Ostukraine.“[33]
Festgehalten wird allerdings weiter daran, die Rebellen für verantwortlich zu halten, da man Erkenntnisse habe, dass die Rakete von einem Gebiet abgeschossen worden sei, das sich unter ihrer Kontrolle befunden habe: „Der US-Geheimdienst geht mittlerweile davon aus, dass pro-russische Separatisten den Flug MH17 aus Versehen abgeschossen haben.“[34] Allerdings wurden hierfür erneut keine schlüssigen Beweise vorgelegt. Stattdessen antwortete einer der Geheimdienstler auf die Frage, was über diejenigen bekannt sei, die die Rakete abgefeuert hätten: „wir kennen keine Namen, wir kennen keinen Rang und wir sind nicht einmal 100% sicher, was deren Nationalität anbelangt.“[35]
Einen Tag nach der desaströsen Pressekonferenz machte Reuters einen erneuten Versuch, die bisherige Version des Tathergangs – „Separatisten unter Beteiligung Russlands“ – salonfähig zu machen: „Ein mächtiger Rebellenanführer hat bestätigt, dass pro-russische Separatisten über eine Flugabwehrrakete von der Bauart verfügten, von der Washington behauptet, mit ihr sei der Malaysische Flug MH-17 abgeschossen worden und dass es ursprünglich aus Russland stammt.“[36] Doch hier handelt es sich wohl um eine grob aus dem Zusammenhang gerissene Falschmeldung, wie eine russische Nachrichtenagentur glaubhaft argumentiert: „Der Kommandeur des ukrainischen Volkswehr-Bataillons Wostok, Alexander Chodakowski, hat die ihm von Reuters zugeschriebenen Worte, dass die Volkswehr über Boden-Luft-Raketen vom Typ Buk verfügt hat, nie gesagt. Das belegt die Videoaufnahme des Interviews, die nun RIA Novosti vorliegt. […] ‚Nein, dem Wostok-Bataillon wurden keine Buk übergeben. Das sage ich Ihnen ganz eindeutig. Das ist absolut sicher. Wir haben tragbare Fla-Raketen, die haben jedoch eine beschränkte Schusshöhe‘, so Chodakowski im Wortlaut.“[37]
Ein weiteres gewichtiges Argument spricht zusätzlich gegen die Variante „versehentlicher Abschuss unter russischer Beteiligung“, nämlich die Komplexität des Waffensystems, die eine Verwechslung mit einer Antonow-26 oder einen Unfall sehr unwahrscheinlich machen. Denn wer ein solches System überhaupt bedienen kann, für den ist ein ziviles Flugzeug nach Aussagen von Experten von einer feindlichen Maschine relativ problemlos zu unterscheiden: „Die Abwehrstellung kann zivile Flugzeuge normalerweise mit Hilfe der sogenannten Freund-Feind-Erkennung, auch bekannt als IFF (Identification Friend or Foe), erkennen. ‚Jedes zivile Linienflugzeug hat einen IFF-Transponder‘, sagt Karl-Josef Dahlem, Chefberater für Luftverteidigungssysteme beim europäischen Rüstungskonzern MBDA. […] Selbst ohne IFF-Antwort hätte es für die Buk-Mannschaft deutliche Anzeichen gegeben, dass es sich um eine zivile Maschine handelte. […] Ein Unfall durch einen Bedienungsfehler sei deshalb unwahrscheinlich, meint Dahlem.“[38]
Diese Einschätzung deckt sich mit der von Nicholas Scherrer, Aviation-Experte für Flugzeugvorfälle bei der Schweizerischen Flugsicherung: „Zivile Flugzeuge sind auf einem Radar, auch einem militärischen, ganz klar gekennzeichnet, beschriftet, wenn Sie so wollen. Das Abfeuern einer Boden-Luft-Rakete, um ein Ziel in knapp zwölf Kilometern Höhe zu treffen, braucht ja einiges an Vorbereitung. Wir sprechen hier von Highend-Technik. Sie können da nicht einfach auf einen Knopf drücken. Sie müssen Software programmieren, Einstellungen vornehmen und so weiter, das ist alles nicht so einfach, weil Sie ein Objekt treffen wollen, das sich mit 800 Stundenkilometern vorwärtsbewegt. […] Ich gehe davon aus, dass jene, die auf den Knopf drückten, um die Rakete abzufeuern, Profis waren. Als Amateur wären Sie gar nicht in der Lage, so ein komplexes System zu bedienen. Also, wenn Sie als Profi eine Militärmaschine abschiessen wollen, warum fokussieren Sie als Ziel dann ein ziviles Flugzeug?“[39]
Wie man es dreht und wendet: Auch Wochen nach dem Absturz von MH-17 liegt nichts vor, was die westlichen Vorwürfe auch nur in Ansätzen hinreichend untermauern könnte. So lautete auch das Urteil mehrerer früherer hochrangiger US-Geheimdienstmitarbeiter, unter ihnen William Binney, der frühere Technische Direktor der NSA. Mitte August 2014 wandten sie sich in einem offenen Brief an US-Präsident Barack Obama: „Was den Flug MH17 betrifft, so halten die von Ihrer Regierung veröffentlichten Beweise einer genauen Prüfung nicht stand. Und sie erlauben schon gar nicht, ein Urteil zu fällen. Auf Grund unseres Berufslebens neigen wir fast instinktiv dazu, die Russen zu verdächtigen. Unsere jüngsten Erfahrungen aber, insbesondere die Art und Weise in der Außenminister Kerry sich vollkommen uneinsichtig an einen falschen Bericht nach dem anderen als ‚Beweis‘ geklammert hat, hat uns dazu gebracht, unsere bisherige Neigung (nämlich instinktiv den Russen die Schuld zu geben) gehörig zu revidieren.“[40]
Dass dennoch bereits an Tag eins nach der Tragödie eine seither nicht abreißende anti-russische Propaganda ertönt, ist angesichts der Faktenlage ein absoluter Skandal. Zumal dabei die russischen Bemühungen, gegenläufige Indizien zu präsentieren, zumeist geflissentlich ignoriert werden.
Gegenläufige Indizien
Wie bereits erwähnt, lud Russland noch vor den USA zu einer Pressekonferenz ein und legte dort seine Erkenntnisse vor, die zwar ebenfalls kein glasklares Bild abgeben, aber allemal stichhaltiger sind als das, was vom Westen bislang präsentiert wurde: „Im einzelnen konnten die Russen die Machthaber in Kiew mehrfach der Lüge überführen. Diese hatten behauptet, keines ihrer Kampfflugzeuge habe sich in der Nähe der Absturzstelle befunden. Hier nun wurde nachgewiesen, daß ein üblicherweise mit R-60-Luft-Luft-Raketen bewaffneter Jäger vom Typ SU-25 auf die Flughöhe der Boeing 777 geklettert war, um sich ihr kurz vor ihrem Absturz auf 3500 Meter zu nähern und in diesem Abstand bis zum Absturz verblieb. Unerklärt bleibt vorläufig auch die Tatsache, daß die ukrainischen Buk-Radarstationen ausgerechnet an diesem Tag auf Hochtouren liefen, während sie davor und danach mit ein viertel Last oder nur halber arbeiteten. Moskau konnte mit Hilfe von detaillierten Satellitenaufnahmen den Kiewern eine weitere faustdicke Lüge nachweisen: Am Tag des Absturzes war ein Buk-Luftabwehrsystem direkt an der Front, etwa 50 Kilometer südlich der Hauptstadt des Gebietes, Donezk, im freien Feld, d.h. offensichtlich in Kampfstellung, eingesetzt. Es befand sich in Reichweite zu Flug MH-17 und zur Absturzstelle.“[41]
Einige Tage darauf präsentiert Moskau ein weiteres Puzzlestück dessen, was passiert sein könnte, indem die staatliche Nachrichtenagentur „RIA Novosti“ eine anonyme „Quelle in den bewaffneten Strukturen der Ukraine“ zitierte, derzufolge es sich um einen Unfall im Rahmen eines ukrainischen Manövers gehandelt haben könnte: „Dem Chef des 156. Fla-Raketenregiments war befohlen worden, am 17. Juli eine Übung abzuhalten, bei der es um die Deckung der Bodengruppierung in einem Vorort von Donezk ging“, so die Quelle, die zur Aufgabe der Übung folgendes angibt: „Das Beobachten von Zielen zu trainieren und die ganze Reihenfolge der Begleitung und der Vernichtung von Zielen mit einer Rakete vom Typ Buk-M1 im Trainingsmodus auszuführen.“ Zwar seien keine Raketenstarts vorgesehen gewesen, den Chefs der Batterien wären aber die Schlüssel zu den Startanlagen ausgehändigt worden. Auch zwei Kampfflugzeuge sollen an der Übung beteiligt und möglicherweise der Auslöser der Katastrophe gewesen sein, so die Einschätzung der Quelle: „Zur Teilnahme an der Übung wurden zwei Kampfjets des Typs Su-25 vom Luftwaffenstützpunkt der 229. Brigade der taktischen Fliegerkräfte Kulbakino in Nikolajew nach Dnepropetrowsk geschickt. […] Als eines dieser Flugzeuge in den Erfassungsbereich des Fla-Raketensystems Buk kam, wurde es von der Batterie in der Nähe des Ortes Sarostschenskoje unter Kontrolle genommen. Der tragische Zufall könnte dazu geführt haben, dass die Flugrouten der malaysischen Boeing und der Su-25, die sich auf unterschiedlichen Höhen befanden, sich überkreuzten und auf dem Bildschirm als ein großer Punkt erschienen, was für die Zivilmaschine fatal wurde, weil sich das Beobachtungssystem in dem Fall automatisch auf das größere Ziel umstellt.“[42]
In dieses Bild passt ebenfalls, was der Investigativreporter Robert Parry, der u.a. für „Associated Press“ und „Newsweek“ über den Iran-Contra-Skandal berichtet hatte, von einer anderen anonymen Quelle aus US-Kreisen erfahren haben will: „Was mir von einer Quelle, die bei vergleichbaren Themen in der Vergangenheit korrekte Informationen geliefert hat, gesagt wurde, ist, dass die US-Geheimdienste detaillierte Satellitenfotos der Raketenbasis haben, von der die verhängnisvolle Rakete wahrscheinlich abgefeuert wurde, aber dass die Basis den Anschein macht, als sei sie unter Kontrolle ukrainischer Regierungstruppen mit ukrainischen Uniformen gewesen.“[43]
So besehen würden auch einige verklausulierte Angaben in der Pressekonferenz der US-Geheimdienstler einen Sinn ergeben: „US Offizielle sagten, es sei möglich, dass die SA-11 von einem Überläufer der ukrainischen Armee abgefeuert worden sei, der darauf trainiert gewesen sei, ähnliche Systeme zu benutzen.“[44] Robert Parry interpretiert dies folgendermaßen: „Das Statement über mögliche ‚Überläufer‘ könnte erklären, weshalb einige Analysten dachten, sie hätten Soldaten in ukrainischen Uniformen gesehen […]. Aber es gibt eine andere offensichtliche Erklärung, die die US-Geheimdienste scheinbar aber nicht akzeptieren wollen: dass die Rakete von jemandem abgefeuert worden sein könnte, der für das ukrainische Militär arbeitet. Mit anderen Worten könnte es sich um einen weiteren Fall handeln, bei dem die US-Regierung die Geheimdiensterkenntnisse an die gewünschten politischen Ergebnisse ‚anpasst‘, wie es bereits im Vorfeld des Irak-Krieges der Fall war.“[45]
Seit mehr und mehr Details über die Wrackteile bekannt werden, gewinnt jedoch eine andere Erklärung an Plausibilität: „Verschiedene Befunde passen nicht zur BUK-Theorie. So stammt von Michael Bociurkiw, dem Sprecher der OSZE-Sondermission in der Ukraine, folgender Hinweis (CBC-Interview vom 29.7.2014): ‚Zwei oder drei Teile des Flugzeugrumpfes, die pockennarbig durchlöchert sind, es sieht fast so aus wie Maschinengewehrfeuer. Sehr, sehr schwerer Maschinengewehrbeschuss, was diese eindeutigen Spuren hinterlassen hat, die wir nirgendwo anders gesehen haben.‘”[46]
Solche Einschüsse können definitiv nicht von einem BUK-System stammen, wohl aber von den durch Russland in der Nähe von MH-17 gesichteten ukrainischen SU-25-Kampfflugzeugen. Sie könnten die Zivilmaschine zuerst mit einer Luft-Luft-Rakete flugunfähig gemacht und anschließend unter Maschinengewehrfeuer gesetzt haben.[47] In dieselbe Richtung deutet auch ein Artikel in der malaysischen „New Straits Times“, eine Zeitung mit einer Auflage von 200.000 Exemplaren – allerdings wiederum, wie in solchen Fällen üblich, unter Verweis auf anonyme Quellen: „Geheimdienstanalytiker in den USA sind bereits zu dem Schluss gelangt, dass der malaysische Flug MH-17 von einer Luft-Luft-Rakete abgeschossen wurde und dass die ukrainische Regierung etwas damit zu tun hat.“[48]
Um es deutlich zu sagen: Auch bei all diesen Quellen – die zudem auf sich widersprechende Erklärungsmöglichkeiten hindeuten – handelt es sich ebenfalls um alles andere als hieb- und stichfeste Beweise. Sie genügen aber allemal, um erhebliche Zweifel an der westlicherseits präsentierten Version aufkommen zu lassen.
Cui bono?
Was in jedem Fall gesagt werden kann ist, dass die Beweislage – vorsichtig formuliert – bis heute äußerst lückenhaft ist und in jedem Fall die allenthalben stattfindende Vorverurteilung Russlands und/oder separatistischer Kräfte in keiner Weise rechtfertigt. Wenn sich doch herausstellen sollte, dass es sich um einen Abschuss seitens der Rebellen oder Russlands handelte, der nun vertuscht werden soll, sind die Verantwortlichen sicher in der ein oder anderen Weise zur Rechenschaft zu ziehen. Die vielfachen Forderungen nach einer weiteren Eskalation lassen sich hiermit aber in keiner Weise rechtfertigen. Zumal es tatsächlich mehr als unwahrscheinlich ist, dass es sich um eine beabsichtigte Tat gehandelt hätte. Denn sollte das Flugzeug aus der Luft attackiert worden sein, scheiden Russland und Rebellen als Täter nahezu sicher aus.
Handelte es sich aber um eine Boden-Luft-Rakete vom Typ Buk, so stellt sich die Frage, folgt man den Vermutungen der oben zitierten Experten Karl-Josef Dahlem und Nicholas Scherrer, dass es sich um einen beabsichtigten Abschuss und nicht um ein Versehen handelte, wer hiervon eigentlich einen Nutzen hätte, umso dringlicher. Und hier bleibt die Feststellung, dass es kein erdenkliches Szenario gibt, in dem sich Russland und/oder die ukrainischen Rebellen hiervon einen wie auch immer gearteten Vorteil hätten versprechen können. Ganz anders verhält es sich hier mit der Gegenseite, wie der italienische Journalist Tony Cartalucci zu Recht feststellt: „Der Abschuss der malaysischen Boeing 777 hätte für die NATO und ihr Stellvertreter-Regime in Kiew zu keinem günstigeren Zeitpunkt kommen können. Kiews Truppen wurden im Osten der Ukraine auseinandergenommen, einige Einheiten eingekreist und zerstört. Im Westen des Landes mehrte sich der Widerspruch durch Ukrainer, die keine Bereitschaft hatten, in den Kampf zu ziehen. […] Russland und die Kämpfer im Osten der Ukraine haben nichts durch den Abschuss einer Zivilmaschine zu gewinnen, aber alles zu verlieren.“[49]
Anmerkungen
[1] Wette, Wolfram: Historische Kriegslügen, in: Wissenschaft & Frieden 2013-1 (Dossier Nr. 72).
[2] „Als Brutkastenlüge wird die Behauptung bezeichnet, irakische Soldaten hätten bei der Invasion Kuwaits im Jahr 1990 kuwaitische Frühgeborene getötet, indem sie sie aus ihren Brutkästen rissen und auf dem Boden sterben ließen. Sie hatte großen Einfluss auf die öffentliche Debatte über die Notwendigkeit eines militärischen Eingreifens zugunsten Kuwaits und wurde unter anderem vom damaligen US-Präsidenten George H. W. Bush und von Menschenrechtsorganisationen vielfach zitiert.“ (Wikipedia: Brutkastenlüge)
[3] „Die Bilder von 40 Toten in Racak gingen kurz vor dem Kriegseintritt der Nato gegen Serbien um die Welt. Viele sahen in den Bilder den Beweis, dass die Serben planmäßig Albaner umbringen. Doch wie sich jetzt herausstellt, scheint es in Racak kein Massaker gegeben zu haben.“ (Kosovo-Krieg: Keine Beweise für Massaker von Racak, Spiegel Online, 17.02.2001)
[4] „Als Begründung für den Irakkrieg 2003 gab die angreifende ‚Koalition der Willigen‘ unter der Führung der USA vor allem eine akute Bedrohung durch Massenvernichtungsmittel seitens des irakischen Diktators Saddam Hussein an. Diese und weitere Begründungen waren vor dem Irakkrieg stark umstritten. Daher verweigerte der UN-Sicherheitsrat die Legitimation des Krieges durch ein UN-Mandat, so dass er völkerrechtlich als illegaler Angriffskrieg gilt. Die genannten Kriegsgründe sind historisch widerlegt und werden oft als absichtliche Irreführung der Weltöffentlichkeit bewertet, da im Irak weder Massenvernichtungsmittel noch Beweise akuter Angriffsabsichten gefunden wurden. Stattdessen wird angeführt, die USA habe durch den Krieg lediglich wirtschaftliche Interessen, insbesondere im Zusammenhang mit Erdöl verfolgt.“ (Wikipedia: Begründung für den Irakkrieg)
[5] In der Antwort auf eine Anfrage der LINKEN wurde eingeräumt: „Der Bundesregierung liegen keine detaillierten Informationen über Angriffe der libyschen Luftwaffe auf Zivilisten vor.“ (Drucksache 17/5666, 26.04.2011)
[6] Verhandlungen: Taliban wollten angeblich Bin Laden loswerden, Spiegel Online, 29.10.2001.
[7] Die Taliban stellten bestimmte Bedingungen, die aber alles andere als unerfüllbar gewesen wären – hätte ein ernsthaftes Interesse bestanden, den Krieg noch abzuwenden: „Itar-Tass berichtete ohne Quellenangaben aus Islambad, die Taliban verlangten, dass Bin Laden in einem neutralen Land der Prozess gemacht wird und dass die internationalen Strafmaßnahmen gegen Afghanistan aufgehoben werden. Eine weitere Bedingung sei, dass das Ausland keine Waffen mehr an die gegnerische Nord-Allianz liefere und sie auch sonst nicht länger unterstütze, meldete die Agentur.“ (Taliban stellen Bedingungen für Laden-Auslieferung, Welt Online, 18.09.2001)
[8] Wagner, Jürgen: Syrien: UN-Giftgasbericht als Interventionsvorwand?, IMI-Standpunkt 2013/052.
[9] Poroschenko nennt Flugzeugtragödie „terroristischen Akt“, Focus Online, 18.07.2014.
[10] Springstein, Hans: Nachrichtenmosaik Ukraine Folge 35, 18.07.2014.
[11] Obama says Malaysia Airlines plane was shot down in rebel-controlled Ukraine, Sidney Morning Herald, 19.07.2014.
[12] USA sehen Verbindung Russlands zum Abschuss von MH17, Wall Street Journal, 20.07.2014.
[13] Chaotische Zustände am Wrack von Flug MH17, shz.de, 20.07.2014.
[14] BKA schickt Fachleute für Identifizierung in die Ukraine, FAZ Online, 19.07.2014.
[15] Ebd.; Einen Tag später zog die Ukraine-Hardlinerin Rebecca Harms, Co-Vorsitzende der Europäischen Grünen Fraktion im Europäischen Parlament, nach: „Ich glaube, man sollte jetzt wirklich als allererstes Russland dahin bringen, dass im Zweifelsfall auch mit Blauhelmen diese Grenze zwischen Russland und der Ukraine dicht gemacht wird. Wichtig für alle Diplomatie ist, man muss die Ukraine als Staat, man muss die ukrainische Regierung in diesem Versuchen, das zu lösen, auch weiter ernst nehmen.“ (Harms fordert Einsatz „notfalls mit Blauhelmen“, Deutschlandfunk, 21.07.2014)
[16] Frankenberger, Klaus-Dieter: Massenmord über der Ostukraine, FAZ Online, 18.07.2014.
[17] Kornelius, Stefan: Das Monster, das Putin schuf, SZ Online, 18.07.2014; Der SZ-Kollege Stefan Ullrich fordert die EU-Staaten ebenfalls zu weitreichenden Konsequenzen auf: „Sie könnten die ukrainischen Dramen zum Anlass nehmen, ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu überdenken. Die Wehretats dürfen nicht länger sinken. Die EU-Staaten müssen wieder mehr für ihre Sicherheit ausgeben, zumal die USA immer widerwilliger dafür eintreten.“ (Der Krieg ist zurück, SZ Online, 20.07.2014) Eine Zusammenstellung mit den übelsten journalistischen Entgleisungen findet sich etwa auf Telepolis, 21.07.2014.
[18] Münchau, Wolfgang: Die Spur des Geldes: Die fatale Ostorientierung der deutschen Wirtschaftselite, Spiegel Online, 21.07.2014. Erstmals auf den Beitrag aufmerksam machte Urteil ohne Gericht, German-Foreign-Policy.com, 23.07.2014,
[19] Wer ist der Kriegstreiber?, Spiegel Online, 29.07.2014.
[20] Forum nach drei Stunden, Telepolis, 27.07.2014.
[21] Wagner, Jürgen: Spiegel: Shitstorm und Russlandhetze, IMI-Standpunkt 2014/037.
[22] Steingart, Gabor: Der Irrweg des Westens, Handelsblatt, 08.08.2014.
[23] http://www.bild.de/ (18.07.2014 um 13h46)
[25] „Es waren die Jungs von der Straßensperre Tschernuchin“, t-online news, 18.07.2014.
[26] Fisher, Mike: Did Ukrainian rebels really take credit for downing MH17?, Vox.com, 17.07.2014.
[27] Separatisten nach Absturz: „Haben 200 Tote gefunden! Es sind Zivilisten!“, Focus Online, 18.07.2014; Auch Russia Today (Unverified tape released by Kiev presented as ‘proof’ E. Ukraine militia downed MH17, 18.07.2014), das natürlich interessiert ist, die Quelle zu diskreditieren, weist auf eine Reihe Ungereimtheiten der Telefonate hin.
[28] Ukraine: Separatisten besitzen keine Flugabwehrsysteme, dpa, 18.07.2014; Wörtlich sagte Jarema: „Die Militärs berichten, dass die Terroristen nicht unsere ‚Buk’-Raketen haben. Das heißt, dass unsere Militärtechnik in Gestalt der ‚Buk-‚ und S-300-Komplexe nicht in die Zonen der aktiven Handlungen der Antiterroroperation gelangt ist.“ (Pravda.com, 18.07.2014) Der zweite Teil der Aussage widerspricht offensichtlich den russischen Aussagen, nachdem Buk-Systeme der ukrainischen Armee im Osten der Ukraine stationiert sein sollen.
[29] Malaysia Airlines MH17: Hinweise auf Abschuss aus Versehen, Spiegel Online, 18.07.2014.
[30] Did surface-to-air missile take down Malaysia Airlines Flight 17? CNN.com, 17.07.2014.
[31] US: Russia ‚created the conditions‘ for shoot-down, Associated Press, 22.07.2014.
[32] USA sehen Verbindung Russlands zum Abschuss von MH17, Wall Street Journal, 20.07.2014.
[33] Kein Beleg für Beteiligung Russlands an Abschuss, Focus Online, 23.07.2014.
[34] Ebd.
[35] US: Russia ‚created the conditions‘ for shoot-down, Associated Press, 22.07.2014.
[36] Ukraine rebel commander acknowledges fighters had BUK missile, Reuters, 23.07.2014.
[37] Video belegt: Reuters entstellt Äußerungen von Rebellenkommandeur über Buk-Raketen, RIA Novosti, 24.07.2014.
[38] Malaysia Airlines MH17: Hinweise auf Abschuss aus Versehen, Spiegel Online, 18.07.2014.
[39] „Jede Terrorzelle ist in der Lage, sich eine Rakete zu beschaffen“, Tagesanzeiger.ch, 19.07.2014.
[40] »Empfehlen Ihnen, die Propaganda einzustellen«, junge Welt, 09.08.2014.
[41] Politischer Sprengstoff, junge Welt, 23.07.2014.
[42] Fehler bei Fla-Übung in Ukraine als Ursache des Boeing-Unglücks?, RIA Novosti, 25.07.2014.
[43] Parry, Robert: What Did US Spy Satellites See in Ukraine?, ConsortiumNews, 20.07.2014.
[44] U.S. officials believe attack against Malaysian plane was mistake, Los Angeles Times, 22.07.2014.
[45] Parry, Robert: The Mystery of a Ukrainian Army ‘Defector’, ConsortiumNews, 22.07.2014.
[46] Cremer, Uli: Abschuss der MH17: Kiew gerät in Erklärungsnot, Grüne Friedensinitiative, 10.08.2014.
[47] Ebd.
[48] US analysts conclude MH17 downed by aircraft, New Straits Times, 07.08.2014. Auf die Artikel in der “New Straits Times“ wurde zuerst im Blog von Hans Springstein hingewiesen.
[49] Cartalucci, Tony: Malaysian Airlines Flight MH17 Downed Over Warzone Ukraine. Who Was Behind It? Cui Bono?, Globalresearch.ca, 17.07.2014.