IMI-Analyse 2014/022 - in: AUSDRUCK (August 2014)

Feindbildkonstruktion als Offenbarungseid

Was sich aus Teilen der deutschen Russland-Kritik lesen lässt

von: Mirko Petersen | Veröffentlicht am: 11. Juli 2014

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„Vielleicht ist das der Beginn der vereinigten Staaten von Europa.“ Dieser optimistische Satz ist schon vielen PolitikerInnen zu verschiedensten Gelegenheiten über die Lippen gekommen, doch die Idee dahinter scheint in den letzten Jahren, in der nachhaltigen Krise der Europäischen Union und ihrer Institutionen, in immer weitere Ferne gerückt zu sein. Doch nachdem sich die weitere Vertiefung der europäischen Integration weder durch Verträge noch Verfassungsentwürfe und schon gar nicht durch Wahlen zu einem einflussarmen Europa-Parlament realisieren ließ, könnte sie nun durch das außen- bzw. militärpolitische Engagement gegen Russland hergestellt werden – zumindest wenn es nach dem ehemaligen deutschen Außenminister Joschka Fischer geht, der den oben zitierten Satz auf einer Veranstaltung zur Krise in der Ukraine aussprach.[1]

Die dominante europäische und US-amerikanische Lesart legt schon seit Jahren nahe, dass die anhaltenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen auf eine russische Großmachtpolitik zurückzuführen seien, die in allererster Linie durch die Person Wladimir Putin vorangetrieben werde. Dass Russlands Außenpolitik seit der Machtübernahme Putins zu großen Teilen als Reaktion auf das Vordringen von NATO und EU in den ehemaligen Ostblock zu betrachten ist, wird selten erwähnt.[2] Die Konstruktion eines russischen Feindbildes hat mit dem Sturz des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch, der Aufnahme der Krim durch Russland und den anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen in der östlichen Ukraine nun jedoch eine völlig neue Dimension erreicht.

19. vs. 21. Jahrhundert?

Ein beliebtes Gegensatzpaar, das bei der Betrachtung des Konflikts in der Ukraine aufgemacht wird, ist das eines rückwärts gewandten Russland gegenüber dem eines modernen EUropa. Auch der bereits erwähnte Joschka Fischer meint: „Die, die im Kreml an der Macht sind, denken in Supermacht-Kategorien des 19. Jahrhunderts.“[3] In einem Kommentar in der „Süddeutschen Zeitung“ fügte er noch hinzu: „Wladimir Putin verfolgt seit seiner ersten Amtszeit als russischer Präsident die Wiedererlangung des Weltmachtstatus für Russland als sein strategisches Ziel. […] Vor unseren Augen vollzieht sich der Umsturz der postsowjetischen Staatenordnung in Osteuropa, am Kaukasus und in Zentralasien. Großmachtpolitik sowie das Denken in Einflusszonen und den machtpolitischen Spielen des 19. Jahrhunderts drohen das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Unverletzlichkeit der Grenzen, die Herrschaft des Rechts und demokratische Grundprinzipien abzulösen. […] Dieser Umsturz wird tief greifende Auswirkungen auf Europa und die europäisch-russischen Beziehungen haben. Er wird darüber entscheiden, nach welchen Regeln die Staaten und Völker auf dem europäischen Kontinent in Zukunft leben werden: nach denen des 19. oder des 21. Jahrhunderts?“[4] Der Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“, Josef Joffe, äußerte sich ähnlich. Die Aussage von Kanzlerin Angela Merkel, dass „Putin in einer anderen Welt lebe“ ergänzte er durch den Kommentar: „Nicht in einer Wahnwelt, sondern in der des 18. und 19. Jahrhunderts. In der war Macht gleich Besitz – und Krieg um diese oder jene Provinz, um Meerengen und Handelsrouten die ständige Begleitmusik.“ In seinem Plädoyer für Sanktionen gegen Russland benutzt Joffe zudem den Vergleich zu Figuren der russischen Geschichte, die aus westlicher Sicht die Inkarnation des Bösen darstellen. Sanktionen gegen Russland könnten ihm zufolge bewirken, dass Putin „der Welt ein anderes Gesicht zeigen [will] als die Visage von Iwan dem Schrecklichen oder Josef Stalin.“[5]

Diejenigen, die sich nicht vorbehaltlos hinter die westliche Ukraine-Politik stellen, werden in den deutschen Diskussionen vermehrt als „Russland-“ oder „Putin-Versteher“ bezeichnet. Der Journalist Richard Herzinger hat auch klare Vorstellungen davon, wer Putin in Deutschland unterstützt: „Der nationalkonservativen Rechten, wie man sie etwa im Milieu der AfD antrifft, imponiert das brachiale Selbstbewusstsein, mit dem Putin die Machtpolitik des 19. Jahrhunderts restauriert – ohne die ‚idealistischen Flausen‘ universalistischer, menschenrechtlicher Prinzipien. […] Linke Regenbogenaktivisten und libertäre Antikapitalisten mögen Putin eben diese reaktionäre Werte-Agenda verübeln, in seiner Rolle als Stifter einer ‚multipolaren Weltordnung‘ und unbeugsamer Gegenspieler des westlichen ‚Imperialismus‘ applaudieren sie ihm gleichwohl, zumindest insgeheim. Da treffen sie sich mit traditionssozialistischen und ‚antifaschistischen‘ Sowjetnostalgikern, die ihn als Rächer der Schmach von 89/90 wahrnehmen, als die Verlockungen der westlichen Konsumgesellschaft das kommunistische Zukunftsbollwerk zum Einsturz brachten.“[6] Auch Joseph Joffe ist bemüht, Argumente zur Erklärung  der russischen Außenpolitik als Relikte eines überkommenen Denkens darzustellen: „Die Argumente der ‚Russlandversteher‘ mögen plausibel erscheinen: dass Russland sich ‚eingekreist‘ fühle, den Imperiumsverlust nicht verschmerzen könne, die EU mit ihrem Assoziierungsangebot an die Ukraine in altes russisches Kernland vorgestoßen sei, die Krim gar von 1783 bis 1954 russisch gewesen war. Nur sind alte Besitztitel und ‚vorgreifende Verteidigung‘ Klassiker aus vergangenen Jahrhunderten, vorgeschoben von Potentaten, die ihre Reiche arrondieren wollten. Dagegen lebt das neue Europa mit neuen Regeln: Gewaltverzicht, Friedensgrenzen, Verträge, gemeinsamer Gewinn statt Nullsummenspiel.“[7]

Es gibt keine Gründe, Argumente zur Verteidigung des russischen Autoritarismus anzuführen, dessen  Ideologiekonstruktion Elemente des Zarismus, der Sowjetunion und eines neuen Nationalismus enthält. Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, dass die russische Außenpolitik in Kategorien der Vergangenheit verhaftet sei, während die EU bzw. das transatlantische Bündnis uns in ein neues Zeitalter von Konfliktfreiheit geführt habe, ist absurd – insbesondere mit Blick auf die Politik gegenüber Russland, die eben nicht auf einen „gemeinsamen Gewinn“ abzielt. Während der russischen Seite außenpolitischer Größenwahn attestiert wird, sei der Westen angeblich nicht mehr in einem Denken in Einflusssphären verhaftet. Doch es war der westliche Expansionsdrang, der Russlands globalen Einfluss nach dem Ende des Kalten Krieges mit allen Mitteln zu minimieren versuchte. Zudem lässt die Art und Weise, wie die Staaten des ehemaligen Ostblocks peripher – als „verlängerte Werkbank“[8] in die EU und als strategische Brückenköpfe in die NATO – eingegliedert wurden, die weiterhin bestehende geopolitische und geoökonomische Machtprojektion der europäischen Zentrumsstaaten und der USA deutlich werden. Der einflussreiche russische Politologe Sergej Karaganow weist darauf hin, dass die Sicht des Kremls auf das westliche Vordringen ein weniger harmonisches Bild vor Augen hat: „Russlands politische Klasse war besonders von der systematischen Täuschung, Heuchelei und den gebrochenen Versprechungen irritiert. Westliche Funktionäre verwarfen das Konzept der Einflusssphären an sich als obsolet, während sie ihre ‚nicht existente‘ Einflusssphäre ständig ausbauten. Ich weiß, dass viele im Westen ihren Worten glaubten oder glauben wollten. Aber in Russland und dem Rest der Welt, der nach einem anderen Regelwerk lebte, wurde dieser eklatante Widerspruch mit nichts als Hohn und Misstrauen begegnet.“[9]

Die oben angeführten Meinungsäußerungen stellen nur einige von vielen Beispielen der Abgrenzung gegenüber Russland dar, dessen Politik sich vermeintlich so elementar von der eigenen unterscheide. Umso kurioser ist es, dass dieselben Menschen, die nicht müde werden zu behaupten, EUropa hätte dem Denken in Einflusssphären und Geopolitik eine Absage erteilt, nun unter Verweis auf Russland, eine Renaissance genau dieses Denkens – und vor allem Handelns – einfordern.

Ruf nach mehr Militarismus

Der Konflikt in der Ukraine ließ Stimmen lauter werden, die die russische Außenpolitik als Legitimation für eine härtere Außenpolitik bis hin zur Militarisierung der EU ansehen und nutzen wollen. Michal Kokot beschwert sich in einem Artikel mit dem Titel „Brüssel zaudert, Moskau lacht“[10] in der „Zeit“  darüber, dass die Sanktionen gegen Russland deutlich zu weich gewesen seien und diese die Machtlosigkeit der EU verdeutlichten. In einer Verdrehung von Ursache und Folge behauptet der Autor: „Putin spielt mit der EU, indem er immer weiter vorrückt und auf die Reaktionen wartet.“ Zudem sei angeblich Russland der Akteur, der sich nicht an Absprachen hielte. Auch Kokot stellt einen Rückbezug zur Vergangenheit her und gibt der EU den Rat, sich auf eine preußische Formel zu besinnen: „Der Westen wunderte sich darüber [über nicht gehaltene Absprachen], was nicht von großem Realismus zeugte. Schließlich ahnte schon Otto von Bismarck, dass die Vereinbarungen mit Russland nicht das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt sind.“ Diese Aussage kann als klare Absage an Verständigung und Diplomatie mit Russland verstanden werden.

Zwei weitere Beiträge in der „Zeit“ werden hier noch deutlicher. Der ehemalige Chefredakteur dieses Blattes, Theo Sommer, fordert in einem Kolumnenbeitrag: „Die Welt sortiert sich gerade neu, daran hat Russland großen Anteil. Deshalb muss Europa wieder Geopolitik lernen, Strategie, Machtdenken. Und es braucht eine Armee.“[11] Zunächst gibt Sommer noch zu Papier, dass eine permanente Stationierung von NATO-Truppen in Osteuropa, eine Wiedereinführung der Wehrpflicht und eine Erhöhung des Verteidigungsbudgets Überreaktionen wären. „Aber verstärkte Überwachungsflüge, auch gelegentliche Manöver mit zeitweise eingeflogenen Nato-Einheiten und eine sichtbare Belebung der Nato-Response Force“ seien seiner Meinung nach „vertretbare Vorsichtsmaßnahmen“ und „Europa [sollte] es da nicht bloß den Amerikanern überlassen, einige Warnzeichen zu setzen.“ Sommer möchte diese „Warnzeichen“ jedoch nicht nur Putins Russland gegenüber gesetzt sehen, sondern ordnet dies in den größeren Kontext einer Welt mit sich ändernden Kräfteverhältnissen ein: „In Shanghai hat Putin […] Obamas Schwenk nach Asien nachvollzogen; der auf 30 Jahre angelegte Milliarden-Gas-Deal mit China läutet eine neue Ära ein. Im Mittleren Osten pendelt sich die Kräftebalance neu ein. In Japan wie in Indien denkt eine neue Führungsgeneration wieder in Kategorien militärischer Stärke. Die Friedensmacht Europa kann davor nicht einfach die Augen verschließen. Es ist höchste Zeit, dass es sich auf eine gemeinsame Strategie, eine koordinierte Beschaffungspolitik und eine ernstzunehmende Truppenaufstellung für alle Fälle verständigt – in anderen Worten: auf eine europäische Armee.“

In einem Gastbeitrag in der „Zeit“[12] betont auch Hans W. Maull von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP), die Lehre aus der Krise in der Ukraine müsse eine weniger strikte Trennung zwischen Diplomatie und Militär sein: Dass es keine „militärischen Alternativen“ zu „diplomatischen“ oder „politischen Lösungen“ gäbe, gehört zu den ebenso gängigen wie ärgerlichen Gemeinplätzen der außenpolitischen Debatte um die Ukraine-Krise in Deutschland. Ärgerlich ist dieser Gemeinplatz nicht deshalb, weil er ganz falsch wäre (das sind Gemeinplätze selten), sondern weil er dem ernsthaften Nachdenken über Außenpolitik im Wege steht. Tatsächlich ist die angebliche Alternativlosigkeit der Diplomatie ein Beispiel für mangelhafte analytische Präzision, vulgo: für Denkfaulheit.“ Dieser angeblichen Denkfaulheit setzt Maull das Beispiel der Appeasement-Politik gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland entgegen. Aufgrund der militärischen Überlegenheit des Dritten Reiches gegenüber Frankreich und England sei die Möglichkeit der kriegerischen Expansion Deutschlands möglich gewesen. Ohne weitere Beispiele zu nennen, schließt der Autor daraus: „Dass Diplomatie nichts mit Militär, dass politische Lösungen nichts mit Machtverhältnissen – und damit letztlich auch mit Gewaltpotenzialen – zu tun haben, ist also ein Irrtum, der historisch immer wieder sehr teuer bezahlt werden musste.“ Bei der Übertragung dieses Befundes auf die heutige Situation scheint die Rollenverteilung klar zu sein: „Es hängt von Wertvorstellungen ab, ob und wie Gewalt ins Spiel kommt. Wenn alle Beteiligten sich einig sind, auf Gewalt zu verzichten, dann stehen die Chancen gut, friedliche Lösungen zu finden. In der Ukraine gibt es diese Einigkeit zwischen dem Westen und Russland offensichtlich nicht; es fehlt an den viel beschworenen ‚gemeinsamen Werten‘, zumindest in diesem entscheidenden Punkt.“ Es sei also Russland zuzuschreiben, dass im Konflikt in der Ukraine eine gewaltfreie Lösung in weiter Ferne ist. Die Schlussfolgerung des Autors ist, ebenfalls zu Gewalt zu greifen oder zumindest ein Bedrohungsszenario gegenüber Russland aufzubauen.

Für den Aufbau dieses Bedrohungspotential müssten dann auch die entsprechenden finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden, was gleichermaßen konsequent unter Verweis auf die aktuelle Krise eingefordert wird. Wenn auch als Pro-Contra-Artikel angelegt, in dem zwei Taz-Redakteure über das Für und Wider diskutieren, ob die EU nun militärische Stärke gegen Russland zeigen müsse, ist es doch entlarvend, welche Positionen hier mittlerweile als diskussionsfähig erachtet werden. So fordert Klaus-Helge Donath in seinem Beitrag: „Russland huldigt als Staat und Gesellschaft noch immer Gewalt und Macht an erster Stelle. Soft power kennt die ‚russische Welt‘ (Putin) nur als fremde Erzählung. Wer bei Konfliktlösungen nicht auf Gewalt setzt, gilt als Schlappschwanz. Schwächlinge trifft Verachtung und es wird nachgetreten. Moskau will der Welt wieder diesen Umgang aufzwingen. Damit es nicht so weit kommen muss, sind klare Entscheidungen im Westen angesagt. Alle EU-Staaten sollten gemeinsam beschließen, den Verteidigungshaushalt um mindestens ein Drittel anzuheben, parallel zum Aufstocken konventioneller Streitkräfte und technologischer Innovationen. Das würde in Moskau zur Kenntnis genommen werden.“[13]

Was die Konstruktion des russischen Feindbildes offenbart

Bei der Auseinandersetzung mit Russland im Kontext der Ukraine-Krise geht es um mehr als um einen speziellen Ausnahmefall, nämlich um grundlegende Weichenstellungen in der EU-Außenpolitik. Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte hat sich eine Sammlung an Begriffen (u.a. „Zivilmacht“, „Hard Power“/„Soft Power“/„Smart Power“, „Wertegeleitete Außenpolitik“)[14] gebildet, deren Ziel es ist, die EU als geopolitischen, weltweit handelnden Akteur zu etablieren, ohne das Image eines auf Frieden basierenden Kontinents aufzugeben. Doch die meist ohnehin nur als Begriffskonstrukt existierende EUropäische Zurückhaltung[15] (und in diesem Zusammenhang auch die vermeintliche deutsche Zurückhaltung) soll im Konflikt mit Moskau noch weiter zurückgefahren werden. Wie bereits angedeutet, ergibt sich daraus folgendes Paradox: Unter Verweis auf „verinnerlichte“ EUropäische Werte – Gewaltverzicht, Diplomatie, wirtschaftliche Unterstützung peripherer Länder und eine generelle Absage an eine Einflusssphärenpolitik – kommt es zu einer ideologischen Abgrenzung gegenüber Russland; im selben Atemzug werden aber eben jene Werte rücksichtslos geopfert, da dies ein „aufgeklärter Realismus“ nun eben erfordere.

Dass die Bindewirkung der vermeintlich EUropäischen Werte weit weniger verbreitet zu sein scheint als vielfach behauptet, zeigt darüber hinaus auch, mit welcher Inbrunst mittlerweile wieder die Rückkehr zu machtpolitischen Praxen der Vergangenheit eingefordert wird. So pocht etwa der Politikprofessor Christian Hacke in der „Politischen Meinung“, dem „intellektuellen Flaggschiff im christdemokratischen Umfeld“[16], geradezu auf eine Rückkehr zu den Werten des Kalten Krieges: „Inzwischen wird deutlich, dass Brüssel, Washington und andere europäische Hauptstädte zu lange an der Zielsetzung einer „strategischen Partnerschaft“ festgehalten haben. Die Hoffnung auf ein ‚Reset‘ der Beziehungen mit Moskau hat sich als weltfremd erwiesen. […] Im demokratischen Europa ist man heute offensichtlich immer weniger bereit, für Freiheit und die internationale Ordnung Truppen bereitzustellen und das Leben von Soldaten zu riskieren. Wenn das so ist, dann gehört die Logik der Abschreckung, die im Kalten Krieg die zentrale Voraussetzung für Frieden in Europa gewesen ist, der Vergangenheit an. Welche Konsequenzen hat das?“[17] Laut der hier durch Hacke vertretenen Sichtweise sind die Konsequenzen ausschließlich negativ und daher gelte es nun aktiv und offensiv zu einer „harten“ Außenpolitik zurückzukehren – und zwar nicht nur gegenüber Russland, sondern generell: „Macht und Prestige werden im Westen gern nach der Maßgabe von ‚Soft Power‘ gemessen: Good Governance und zivilisatorische Attraktivität sind hier im postmodernen Selbstverständnis richtungsweisend. Aber im Rest der Welt gehört zum Ansehen eines Landes oder einer Staatengemeinschaft auch die Fähigkeit von ‚Hard Power‘ – politische Entschlossenheit, militärische Stärke und die Bereitschaft, angesichts eklatanter Rechtsbrüche einem Bedrohten oder Schwächeren beizustehen. Rücksichtslose Machtpolitik ist leider Gottes kein Relikt der Steinzeit, sondern bleibt Teil der internationalen Realität. Wer sich nicht auf diese Realitäten einstellt, wird sich weder selbst behaupten noch die Völkerrechtsordnung wahren oder gar wiederherstellen können.“[18] Wie viel bleibt bei solchen Forderungen noch von dem ideologischen Gewand der heutigen Europäischen Union übrig?

Ein kritisches Nachdenken über die Machtpolitik Moskaus ist mehr als notwendig, insbesondere wenn die durchaus berechtigten Sorgen seiner postsowjetischen Nachbarn ernst genommen werden sollen. Doch was dabei nicht aus den Augen verloren werden sollte, ist der Missbrauch der Russland-Kritik zur Durchsetzung der Militarisierung der EU. Ein kritisches Nachdenken über das als Feindbild gezeichnete Russland fängt mit der Dekonstruktion der vom Westen benutzten Distinktionsmerkmale an.

 

Anmerkungen

[1] Vgl.: Rothenberg, Christian: Fischer lobt Merkel und schweigt zu Schröder (ntv.de, 21.3.2014).

[2] Ausführlicher dazu vgl.: Petersen, Mirko:  Russland, quo vadis? Pragmatismus und Russophobie in Europa, eurasische und asiatische Orientierung in Russland, IMI Studie 5/2011; Ders.: Überlastung statt Reset. Zunehmende Spannungen zwischen Russland und den USA, Ausdruck 2/2013, S. 22-28.

[3] Zitiert nach Rothenberg: Fischer lobt Merkel und schweigt zu Schröder, s.o.

[4] Fischer, Joschka: Europa, bleibe hart! (sueddeutsche.de, 30.3.2014).

[5] Joffe, Joseph: Putins Meisterstück (zeit.de, 6.3.2014).

[6] Herzinger, Richard:  Das schwärmerische Russland-Bild der Deutschen (welt.de, 8.3.2014).

[7] Joffe, Joseph: Der Regelbruch. Die Krim – altes Denken im neuen Europa (zeit.de, 13.3.2014).

[8] Vgl. dazu: Hofbauer, Hannes: EU-Ost-Erweiterung. Historische Basis – ökonomische Triebkräfte – soziale Folgen, Wien: Promedia, 2007, besonders S. 258-262.

[9] Karaganov, Sergej: Time to End the Cold War in Europe (Russia in Global Affairs, 28.04.2014).

[10] Vgl.: Kokot, Michal: Brüssel zaudert, Moskau lacht (zeit.de, 13.5.2014).

[11] Vgl.: Sommer, Theo: Russland lehrt uns Machtprojektion (zeit.de, 27.5.2014).

[12] Maull, Hans W.: Militärische Reaktionen sind nicht gleich Kriegstreiberei (zeit.de, 23.05.2014).

[13] Was tun? (taz.de, 29.04.2014).

[14] Franco Algieri: Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Wien: Facultas, 2010. Darin lassen sich folgende grobe Definitionen für  die genannten Beispiele finden:

Zivilmacht: „Nichtmilitärisches Handeln ist die Handlungsmaxime, wobei der Einsatz von militärischen Mitteln als letzte Möglichkeit nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann (S.133)“;

Hard Power: „[…]basiert auf Anreizen (‚carrots‘) und Drohungen (‚sticks‘) (S.134)“;

Soft Power: „Dahinter steht die Fähigkeit, durch Anziehung und nicht durch Zwang das gewünschte Ziel zu erreichen. […] Die Anziehungskraft eines Soft Power ausübenden Staates ergibt sich aus dessen Kultur,  den politischen Idealen und den Politiken, was sich wiederum in der entsprechenden Außenpolitik niederschlägt (S. 134)“;

Smart Power: „Eine idealtypische Kombination von Hard Power und Soft Power […] (S.135).“

Wertegeleitete Außenpolitik: lässt sich von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit leiten (S.158).

[15] Vgl. z.B. Wagner, Jürgen: A Wolf in Sheep’s Clothing: European Security Strategy, in: transform! 12/2013; Ders. & Hantke, Martin: Außenpolitik aus einem Guss. Ein Militärisch-Auswärtiger Dienst zur Maximierung der europäischen Machtprojektion, IMI Studie 8/2011.

[16] Seitz, Norbert: „Die Politische Meinung“. Intellektuelles Flaggschiff im christdemokratischen Umfeld, Deutschlandfunk, 23.06.2014.

[17] Hacke, Christian: Revival der Hard Power. Russlands Politik fordert den Westen heraus, in: Die politische Meinung, 59. Jahrgang, Nr. 526, Mai/Juni 2014, S. 107.

[18] Ebd., S. 112.