IMI-Studie 2012/04
Der Libyen-Krieg und die Interessen der NATO
von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 15. Februar 2012
Der folgende Artikel ist ein Vorabdruck, der in folgendem in Kürze erscheinenden Buch veröffentlicht wird: Johannes M. Becker, Gert Sommer (Hg.): Der Libyen-Krieg. Das Öl und die „Verantwortung zu schützen“ Reihe: Schriftenreihe zur Konfliktforschung Bd. 26, 240 S., 24.90 EUR, br., ISBN 978-3-643-11531-7
Unter Berufung auf die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates begann eine Koalition, angeführt von Frankreich, Großbritannien und den USA, am 19. März 2011 die „Operation Odyssey Dawn“ und damit die Bombardierung Libyens. Bar jeder rechtlichen – ganz zu schweigen von einer moralischen – Grundlage interpretierten dabei die kriegführenden Mächte die Sicherheitsratsresolution zu einer Lizenz zum Sturz des libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi um (siehe den Beitrag von Norman Paech). Am 31. März ging die Kriegführung von der ad-hoc-Koalition auf die „Operation Unified Protector“ (OUP) der NATO über.[1] Es folgten bis zur Beendigung der Intervention sieben Monate später 26.500 Lufteinsätze, bei 9.700 davon erfolgten Bombardierungen.
Ganz eindeutig handelte es sich hierbei um eine letztlich ausschlaggebende „gewaltsame Parteinahme zur Entscheidung eines Bürgerkriegs“ (Merkel 2011). Nicht der Schutz der Zivilbevölkerung, sondern der Sturz Gaddafis stand an erster Stelle der Interventionsagenda, wie etwa Bundeswehr-General Klaus Reinhardt kritisiert: „Der Hauptgrund war, dass man Gaddafi absetzen wollte, und ihn von seiner Position vertreiben wollte. Das war ja ganz zu Beginn gleich politisch wieder und wieder gesagt worden. Und das wurde ja auch letztendlich zum zentralen Thema dieses Einsatzes und hat mit dem ursprünglichen Plan, [die] Zivilbevölkerung zu schützen, nur sehr begrenzt zu tun.“ (Flocken 2011) Bereits Ende März 2011 räumte der französische Außenminister Alain Juppé offen ein: „Dank unserer Militäroffensive ist das Gleichgewicht hergestellt. Gaddafi hat seine Luftwaffe und einen Teil seiner Artillerie verloren. Das erlaubt den Kräften in Libyen, die die Freiheit wollen, in die Offensive zu gehen.“ (Tagesschau, 28.03.2011) Mitte April 2011 veröffentlichten die Präsidenten der wichtigsten am Krieg beteiligten Staaten, Nicolas Sarkozy, David Cameron und Barack Obama, einen gemeinsamen Brief, in dem sie unmissverständlich klarmachten, es sei „unmöglich, sich eine Zukunft für Libyen vorzustellen, in der Gaddafi weiter an der Macht ist.“ (Obama, Cameron und Sarkozy 2011)
Damit war die Tür für eine Verhandlungslösung, wie sie u.a. von der Afrikanischen Union vorgeschlagen wurde, endgültig zugeschlagen – sie war augenscheinlich auch nicht gewollt: „Es gab kein Drängen auf einen schnellstmöglichen Waffenstillstand und eine Konfliktschlichtung der Kontrahenten. […] So wurde auch die Rolle regionalpolitisch wichtiger Akteure, wie die der Afrikanischen Union, durch die Ereignisse geschmälert, wenn nicht gar negiert. Die von ihr vorgeschlagenen Wege zu einem Waffenstillstand und zu Verhandlungen zwischen den Bürgerkriegsparteien wurden von der multinationalen Koalition mit der Zielsetzung eines Regimewechsels ausgebremst und bei ihrem weiteren Vorgehen nicht berücksichtigt.“ (Kursawe 2011, S. 575 und 581)
Dieser Kritik wird vielfach entgegengehalten, dass der Sturz Gaddafis die notwendige Bedingung zum Schutz der Menschenrechte gewesen sei (Schütte 2011, S. 726). Doch es gibt zu viele Hinweise darauf, dass diese allenfalls für die Legitimation des Einsatzes wichtig waren, ansonsten aber eine vollkommen untergeordnete Rolle in den Erwägungen der kriegsführenden Staaten spielten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Interessen tatsächlich im Vordergrund standen. Dabei zeigt sich auch in diesem Fall, dass Entscheidungen für einen Kriegseinsatz in den seltensten Fällen auf eine einzige Motivationslage zurückzuführen sind. Zumeist sind sie das Ergebnis verschiedener sich überlappender und ergänzender Interessen, die dann zusammengenommen eine kritische Masse erzeugen. Dieses „komplexe Gemisch“ (Cremer 2011) reicht von dem konkreten Interesse, sich eines unliebsamen Machthabers zu entledigen sowie sich die Ressourcen Libyens – insbesondere natürlich das Öl – zu sichern, über den Versuch, eine Art Gegenoffensive zur Zurückdrängung der arabischen Revolutionen zu starten, bis hin zum Ziel, nach den desaströsen Resultaten der Intervention in Afghanistan, ein neues Rahmenwerk zu etablieren, mit dem NATO-Kriege künftig „erfolgreicher“ und „effizienter“ durchgeführt werden können sollen.
Krieg für Menschenrechte?
Es gibt wenig eindrücklichere Beispiele für den scheinheiligen und instrumentellen Umgang, den die westlichen Staaten bei Menschenrechtsverletzungen an den Tag legen, wie die Aussagen Robert Coopers kurz nach Beginn der Bombardierung Libyens. Der enge Berater der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton gilt seit vielen Jahren als einer der einflussreichsten europäischen Sicherheitspolitiker (vgl. Foley 2007). Er wurde am 22. März 2011 im Auswärtigen Ausschuss des Europäischen Parlaments befragt, was er denn zu den Vorgängen in Bahrein sage, wo seit Wochen mithilfe des saudischen Militärs Proteste brutal niedergeschlagen und Menschenrechte ebenfalls massiv verletzt wurden. Erst am Tag zuvor waren bei Auseinandersetzungen 200 Menschen verletzt und 4 getötet worden. Cooper tat dies lapidar mit dem Kommentar ab, „Unfälle kommen vor“. Aufschlussreich ist seine Begründung: „Man muss verstehen, dass die Autoritäten das Recht hatten, Ruhe und Ordnung wieder herzustellen und das ist es, was sie getan haben.“ (Rettman 2011)
Augenscheinlich entscheidet die Interessenlage, in welchem Land unter Verweis auf die Menschenrechte eingegriffen wird und in welchem nicht: „Weshalb – an diesem Beispiel verdeutlicht – mit zweierlei Maß gemessen wird, offenbart der ehemalige US-Botschafter in Deutschland John Kornblum. Auf die Frage von ‚Deutschlandradio Kultur‘: ‚Was ist denn der Unterschied zwischen einer Intervention in Libyen, um dort die Aufständischen zu unterstützen, und einer möglichen Intervention in Bahrain, in Jemen, in Syrien, möglicherweise sogar, wenn das schlimmer wird, auch in Saudi Arabien?‘ antwortete John Kornblum: ‚Das Problem ist (…), dass die Interessen des Westens anders sind – vor allem unsere Interessen in Saudi Arabien und in den Golfstaaten. Es gibt (…) bestimmt mindestens einen, Bahrain, der wirklich wichtig ist für die Vereinigten Staaten. (…) Da hat man die Prinzipien jetzt ein bisschen verletzt, indem man zumindest in die andere Richtung geschaut hat, als die Saudis militärisch eingegriffen haben, um eine demokratische Bewegung zu unterdrücken.‘ Diese Doppelmoral hat natürlich Gründe: In Bahrain befindet sich das Hauptquartier der Fünften Amerikanischen Flotte, der wichtigste Militärstützpunkt der USA im Nahen Osten. Die Mehrheit der Demonstranten sind Schiiten, die verdächtigt werden, die Sache des schiitischen Iran, des großen Gegners in der Region, zu vertreten. Gleichzeitig ist Saudi Arabien der engste Verbündete des Westens, der für 2011 Waffen im Wert von Milliarden Dollar beziehen wird.“ (Haid 2011a, S. 11) Offensichtlich wurden hier die Menschenrechte ganz unverhohlen auf dem Altar der Interessenspolitik verhökert: „Am Ende gab es einen Deal zwischen Außenministerin Clinton und dem Königshaus der Sauds: Wir haben nichts dagegen, wenn ihr in Bahrein einmarschiert; im Gegenzug besorgt ihr das Votum der Arabischen Liga dafür, dass wir Gaddafi aus Libyen hinauswerfen.“ (Crome 2011, S. 21)
Wer diese doppelten Standards kritisiert, bekommt von Menschenrechtsinterventionisten stets entgegengehalten, es sei schließlich besser wenigstens in einem Fall militärisch die Menschenrechte zu schützen, als nirgendwo. Schließlich sei es ja unmöglich, überall einzumarschieren (Kristof 2011; Schütte 2011, S. 722). Die Auflösung des staatlichen Souveränitätsrechts sowie die Aushebelung des völkerrechtlichen Nicht-Angriffsverbots im Namen des Menschenrechtsschutzes wird so jedoch zum Türöffner, der es interessierten Großmächten erlaubt, nahezu beliebig zur Durchsetzung ihrer Interessen in kleineren Ländern anzugreifen. Dies gilt umso mehr, da die Erfahrung zeigt, dass Menschenrechtsverletzungen häufig extrem übertrieben, manchmal sogar frei erfunden (oder fabriziert) werden, um eine Militärintervention zu rechtfertigen. Die unglaublichen Lügen im Zusammenhang mit angeblichen Menschenrechtsverletzungen im Vorfeld des Angriffskrieges gegen Jugoslawien im Jahr 1999 sind hierfür nur ein, wenn auch besonders drastisches und warnendes Beispiel (vgl. Hofbauer 2011).
Auch im Falle Libyens deutet vieles in eine ähnliche Richtung. Zwar war das libysche Regime unter Gaddafi zweifellos sehr repressiv (vgl. Amnesty International 2012, S. 16ff.), das sind jedoch viele andere, mit dem Westen „befreundete“ Regime auch. Vor allem aber steht die Argumentation, auf deren Grundlage sich auf die angebliche „Verantwortung zum Schutz“ (Responsibility to Protect, RTP) berufen wurde, auf extrem wackeligen Füßen: Nämlich dass Gaddafi-Truppen – gezielt und systematisch – Zivilisten getötet hätten, ja in Bengasi sogar ein Massaker gedroht habe. Auf die vielen fragwürdigen oder nachgewiesen falschen Annahmen für diese Behauptungen wurde an anderen Stellen ausführlich verwiesen (vgl. etwa Merkel 2011; Kuperman 2011 und Sommer i.d.B.).
Darüber hinaus hat der Krieg gegen Libyen einmal mehr gezeigt, dass der Menschenrechtsschutz auf den hintersten Rängen der NATO-Prioritätenliste rangiert. So weigerte man sich etwa kategorisch, den Einsatz hochschädlicher Uranmunition explizit auszuschließen (vgl. Leukefeld 2011). Auch die Tatsache, dass unter den geschätzt 30-50.000 Kriegstoten zahlreiche Zivilisten waren, die laut Recherchen der „New York Times“ Bombardierungen der NATO zum Opfer gefallen sind, spricht Bände (vgl. Chivers und Schmitt 2011). Dass die Allianz sich nicht einmal die Mühe macht, zu untersuchen, wie viele Zivilisten ihre Luftschläge das Leben kostete, untermauert zusätzlich, wie scheinheilig es ist, wenn genau dieses Bündnis unter der Fahne des Menschenrechtsschutzes zu den Waffen greift. Wenn den NATO-Staaten außerdem wirklich etwas daran gelegen gewesen wäre, den Menschen in Libyen und der Region zu helfen, so hätten sie hierzu eine einfache und effektive Möglichkeit gehabt: Sie hätten für alle Menschen, die der Militarisierung der Proteste und der Eskalation des Bürgerkrieges entgehen wollten, die Grenzen öffnen können. Stattdessen wurde die Überwachung und Abschottung der EU-Außengrenzen sogar intensiviert.
Wenn also Rhetorik und Praxis derart weit auseinanderliegen, spricht vieles dafür, dass die beschworene Schutzverantwortung wohl eher eine Schutzbehauptung war und die Intervention auf weniger altruistische Motive zurückzuführen ist.
Gaddafi – der unsicherer Kantonist
Jahrzehntelang stand Gaddafi weit oben auf der Liste westlicher Staatsfeinde. Allerdings hatte sich das libysch-westliche Verhältnis spätestens ab dem Jahr 1999 sichtlich entspannt. Die UN-Sanktionen gegen das Land wurden schrittweise aufgehoben, wodurch amerikanische und europäische Investitionen möglich wurden – insbesondere im extrem lukrativen Ölsektor. In der Folge gaben sich westliche Staatsoberhäupter in Tripoli die Klinke in die Hand, Libyen erklärte 2004 den Verzicht auf Massenvernichtungswaffen und wurde von der Liste der „Schurkenstaaten“ gestrichen. Ferner kooperierte das Land auch eng mit der Europäischen Union bei der Abschottung gegen „illegale“ Migranten (siehe auch den Beitrag von Gertrud Brücher).
Eigentlich entwickelte sich das beiderseitige extrem wechselhafte Verhältnis aus westlicher Sicht auf den ersten Blick also eher in eine positive Richtung. Ganz so rosig stellte sich die Lage bei genauerer Betrachtung aus Sicht der NATO-Staaten denn aber doch nicht dar. Denn Gaddafi unterschied sich weiterhin deutlich von seinen kurz zuvor abgesetzten Spießgesellen in Ägypten und Tunesien. Während Hosni Mubarak und Zine el-Abidine Ben Ali eindeutig westliche Marionettenfiguren waren, an denen deshalb auch so lange festgehalten wurde, wie es nur irgendwie ging, traf dies für Gaddafi nicht zu. Für ihn stand stets die eigene Agenda im Vordergrund, für die er auch immer wieder bereit war, sich mit dem Westen anzulegen. Vor allem die Afrika-Politik Gaddafis, die auf eine stärkere Unabhängigkeit des Kontinents abzielte, war vielen im Westen ein Dorn im Auge (siehe den Beitrag von Naakow Grant-Hayford).
So besehen war Gaddafi also vor allem eines: ein (zu) unsicherer Kantonist: „Was Gaddafi unterschied und zu einem westlichen Kriegsziel machte, war die Tatsache, dass er nicht ausreichend fügsam war – ein unzuverlässiger und instabiler Diener des Westens.“ (Greenwald 2011)
Krieg für Öl und Profit
Libyen ist ein verhältnismäßig reiches Land: „Die staatlichen Fonds, die der ‚Libyan Investment Authority‘ (LIA) verwaltet, werden auf rund 70 Milliarden Dollar geschätzt. Sie betragen über 150 Milliarden Dollar, wenn die Auslandsinvestitionen der Zentralbank und anderer Organe mitgerechnet werden.“ (Dinucci 2011) Große Teile dieser Gelder wurden in den USA und der Europäischen Union investiert und noch vor Beginn der Angriffe von diesen Staaten eingefroren. Der Verdacht liegt also nahe, dass nach Freigabe der Gelder Ende 2011 die Investitionsströme im Sinne der westlichen Interventen fließen sollen (vgl. ebd.) Noch wichtiger aber dürfte die Quelle für diesen Reichtum im Kalkül der kriegführenden Staaten gewesen sein: Das libysche Öl.
Die Relevanz der libyschen Ölvorkommen steht außer Frage, sie sind mit 46,4 Mrd. Barrel die größten Afrikas (BP 2011, S. 6). Besonders für die Europäische Union, die zehn Prozent ihrer Ölversorgung aus Libyen deckt, ist das Land von enormer Bedeutung. Im Falle Italiens machen die Libyen-Importe sogar 24 Prozent des Gesamtbedarfs aus, bei Frankreich sind es zehn Prozent und Deutschland importiert sechs Prozent aus dem nordafrikanischen Land (Strategic Forecast 2011). In Zeiten abnehmender Ölvorkommen bei gleichzeitig zunehmenden Auseinandersetzungen um die verbleibenden Ressourcen, sind diese Vorkommen aber nicht nur von enormer wirtschaftlicher Bedeutung, sie sind auch „systemrelevant“ für die Energieversorgung Europas (Buro und Ronnefeldt 2011, S. 3).
Zwischenzeitlich hoffte die westliche Ölindustrie auf extrem profitable Geschäfte mit Gaddafi. Denn wer über Libyen spricht, spricht nicht zuletzt über riesige potenzielle Gewinne für die einflussreiche Ölindustrie. Zumal große Teile des Landes bislang noch unerschlossen sind: „Nur etwa ein Drittel der Fläche ist bisher konzessioniert. Bei einem gegenwärtigen Rohölpreis von 115 Dollar je Barrel errechnet sich für Libyen ein Wert für die nachgewiesenen Ölressourcen von über 5 Billionen Dollar.” (Henken 2011)
In der Tat hatten westliche Firmen während Gaddafis Herrschaft erhebliche Summen in den libyschen Ölsektor investiert bzw. Verträge mit astronomischen Summen abgeschlossen – insgesamt ist von einem Gesamtvolumen in Höhe von über 50 Mrd. Dollar die Rede (vgl. Sanati 2011). Allerdings machte sich aufseiten der Ölindustrie schnell Ernüchterung breit: „Die libysche Regierung vergab Lizenzen an die ausländischen Konzerne nach einem System namens EPSA-4, wonach der staatlichen libyschen Ölfirma NOC (National Oil Corporation of Libya) der höchste Anteil des geförderten Öls gesichert blieb. Angesichts des starken Wettbewerbs lief das auf einen Anteil von ungefähr 90 Prozent hinaus. ‚Die EPSA-4-Verträge hatten die härtesten Bedingungen der Welt,‘ sagt Bob Frylund, früherer Präsident der libyschen Niederlassung des US-amerikanischen Unternehmens ConocoPhillips.“ (Dinucci 2011)
Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass diese mageren Profitmargen für extremen Unmut in der Ölbranche sorgten. Noch gravierender war aber sicherlich, dass bereits ab 2007 der Druck auf die im Land operierenden Firmen enorm anwuchs: „Nach der letzten Bieterrunde im November 2007 entschied die LNOC jedoch, vorerst keine neuen Ausschreibungen durchzuführen, sondern stattdessen die bestehenden Verträge nachzuverhandeln. Laut einer von WikiLeaks veröffentlichten Botschaftsdepesche aus Tripolis sah sich z.B. Petro-Canada gezwungen, alle Verträge an den neuen Standard anzupassen und dafür eine Abschlussgebühr von einer Milliarde Dollar zu bezahlen, sowie Investitionen in Höhe von knapp vier Milliarden Dollar für die Erneuerung alter und die Erforschung neuer Öl- und Gasvorkommen zuzusichern. Gleichzeit mussten die Kanadier auch noch einem reduzierten Anteil von 12 Prozent am geförderten Rohöl akzeptieren.“ (Guillard 2011, S. 9)
Überaus aufschlussreich ist ein Beitrag in der „Washington Post“, der die von WikiLeaks veröffentlichten US-Dokumente zu Libyen auswertete. So warnte eine Depesche der US-Botschaft in Tripolis bereits im November 2007: „Die Leute, die über die politische und wirtschaftliche Orientierung Libyens entscheiden, verfolgen im Energiesektor eine zunehmend nationalistische Politik.“ Gaddafi habe sich zunehmend erbost darüber gezeigt, dass die westlichen Ölfirmen, trotz aus seiner Sicht weit reichender Zugeständnisse, sich einen immer größeren Anteil am libyschen Ölkuchen sichern wollten, anstatt, wie er forderte, höhere Beträge in die Infrastruktur zu investieren. Dies habe dann im Februar 2008 zu einem Treffen zwischen Jim Mulva, dem Geschäftsführer von ConocoPhillips, und Gaddafi geführt. Auf dem Treffen habe Gaddafi laut einer Depesche des US-Außenministeriums „angedroht, die libysche Ölproduktion drastisch zu reduzieren und/oder […] US-amerikanische Öl- und Gasfirmen aus dem Land zu werfen.“ (Mufson 2011)
Im Jahr 2009 überschritt Gaddafi dann eine rote Linie, als er „Eigentum“ der in Libyen operierenden kanadischen Ölfirma Verenex verstaatlichte (vgl. Walkom 2011). Natürlich war die Ölindustrie alles andere als begeistert von dieser Entwicklung, wie ein Branchenreport aus demselben Jahr zeigt: „Wenn Libyen die Nationalisierung von Privatbesitz androhen kann; wenn es bereits verhandelte Verträge neu aufmacht, um sein Einkommen zu vergrößern oder ‚Tribut‘ von Firmen zu extrahieren, die hier arbeiten und investieren wollen; […] dann wird den Unternehmen die Sicherheit verweigert, die sie für langfristige Investitionen benötigen. […] Libyen hat es versäumt, eine stabile Plattform bereitzustellen.“ (Zweig 2009, S. 9) Inmitten des sich immer weiter zuspitzenden Konfliktes ging Gaddafi dann noch einen Schritt weiter: „Am 13. März 2011 traf sich Gaddafi in Tripolis mit den Botschaftern Chinas, Indiens und Russlands. Dabei habe er diesen drei Staaten den Vorschlag gemacht, die bereits zu diesem Zeitpunkt wegen der Unruhen geflüchteten westlichen Ölunternehmen mit jeweils eigenen Konzernen zu ersetzen.“ (Buro und Ronnefeldt 2011, S. 3)
Aus Sicht der Ölindustrie bot sich also mit dem Aufstand die Möglichkeit, sich des Diktators zu entledigen. Andererseits bestanden in den Reihen der Ölmultis aber auch große Sorgen, dass aus den Auseinandersetzungen eine Regierung hervorgehen könnte, die sich womöglich sogar noch unaufgeschlossener gegenüber ihren Profitinteressen erweisen könnte, als es das Gaddafi-Regime war. So schreibt das Magazin Fortune: „Unglücklicherweise könnten diese großen Deals mit hoher Wahrscheinlichkeit wertlose Papierfetzen werden, sollte Gaddafi das Land verlassen müssen. Jede Regierung, die an die Macht gelangen wird, wird zweifellos eine Neuverhandlung der Verträge wollen, was zu weniger Profiten aufseiten der Ölfirmen führen könnte. Eine neue Regierung könnte sogar die Industrie vollständig nationalisieren und alle Ausländer aus dem Land werfen.“ (Sanati 2011)
Wie man es also dreht und wendet, für die Ölindustrie und die westlichen Regierungen bestand Handlungsbedarf. Ohne den Aufstand hätte man wohl mit Gaddafi leben und sich irgendwie arrangieren können: Mit einem Bürgerkrieg und fortgesetzten Unruhen, die nicht nur die Ölversorgung gefährden, sondern auch die „Flüchtlingsgefahr“ erhöhten, jedoch nicht. Die Rechnung scheint – leider – aufzugehen, wie Presseberichte von Anfang 2012 zeigen: „Libyen belohnt jene Länder, die gegen den früheren Diktator auftraten, mit Öl. […] Ali Tarhouni, im libyschen Übergangsrat für die Finanzen zuständiger Minister, sprach in Washington davon, dass sein Land ‚den Freunden‘ zu Dank verpflichtet sei. Als befreundete Nationen, in deren Schuld man stehe, nannte er in absteigender Reihenfolge: Frankreich, die USA, Großbritannien und Italien.“ (Die Presse, 09.01.2012) Kein Wunder, dass der russische Premierminister Wladimir Putin die Motive der kriegführenden Staaten mit folgenden Worten überdeutlich kritisierte: „Übrigens lagern in Libyen die größten Ölreserven Afrikas. Den Gasvorräten nach nimmt Libyen den vierten Platz auf dem Kontinent ein. Da stellt sich die Frage, ob das nicht der Hauptgrund für das Interesse jener ist, die jetzt dort tätig sind.“ (RIA Novosti, 26.04.2011)
Kaperung der Revolutionen
Vielfach wurden innenpolitische Motive für die extrem aggressive Haltung von Sarkozy und Cameron angeführt (vgl. Crome 2011, S. 23), wichtiger dürften hierfür jedoch die sich zuspitzenden Konflikte zwischen Frankreich und Großbritannien auf der einen sowie Deutschland auf der anderen Seite gewesen sein, auf die an anderer Stelle ausführlich eingegangen wird (siehe den Beitrag von Uli Cremer). In beiden Fällen hatte die Entscheidung zur westlichen Intervention nur bedingt etwas mit der Situation in Libyen selbst zu tun – ebenso bei einem weiteren wichtigen Interesse.
Die revolutionären Umbrüche in Nordafrika werden von EU-Strategen in erster Linie als Bedrohung der eigenen Interessen begriffen, gleichzeitig eröffnen sie aber auch die Chance, die Region (noch) stärker unter Kontrolle zu bringen. Schon länger wird mehr oder minder offen im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik darauf hingearbeitet, einen von Brüssel dominierten imperialen Großraum zu schaffen (vgl. Rogers 2011; Wagner 2011). Für diese Ambitionen waren die arabischen Revolutionen ein schwerer Rückschlag, und es spricht vieles dafür, dass, neben den unmittelbaren ökonomischen und strategischen Interessen am libyschen Öl, hier einer der wichtigsten weiteren Gründe für die westliche Kriegsentscheidung zu finden ist.
Der Krieg ist damit zuallererst auch als eine Art Gegenoffensive zu sehen, mit dem zunächst einmal sichergestellt werden sollte, dass aus den libyschen Konflikten pro-westliche Machthaber hervorgehen würden. Die von den NATO-Staaten maßgeblich mitverursachte Militarisierung der Proteste erwies sich hierfür als „probates“ Mittel: „Auch in Libyen gingen – wenn auch nicht so zahlreich – junge Leute, Akademiker, Anwälte etc. gewaltfrei mit der Forderung nach mehr Freiheit, mehr Demokratie auf die Straße, veröffentlichten Manifeste oder bildeten Arbeitsgruppen, die eine demokratische Verfassung ausarbeiten wollen. In dem Maß, wie die militärischen Auseinandersetzungen eskalierten, wurden sie jedoch von den bewaffneten Aufständischen und den nun in Erscheinung tretenden abtrünnigen Regierungspolitikern und Führern der Exil-Opposition an den Rand gedrängt. Mit Beginn der NATO-Intervention waren sie endgültig aus dem Spiel. Selbst wenn die libysche Protestbewegung zu Beginn das fortschrittliche Potential hatte, das viele Linke in ihr sahen, so war dies nun passé. Die mit der libyschen Opposition sympathisierende Frauenrechtsorganisation MADRE brachte dies schön auf den Punkt: ‚Wandelt man eine von den Bürgern selbst kontrollierte Volksbewegung in eine hierarchisch organisierte, ausländische Militäroperation, nimmt man den Leuten den Kampf aus den Händen. Dies garantiert, dass egal welches Regime auch immer folgen wird, es kein Produkt der Macht des Volkes, sondern der Macht der NATO sein wird, und dass das neue Regime vom Westen abhängig sein wird.‘“ (Guilliard 2011, S. 4). Die Entscheidung über Art, Form und Verlauf der Proteste wurde damit ganz wesentlich von den NATO-Staaten und ihrer Eskalation des Konfliktes beeinflusst. Völlig zutreffend merkte ein Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ (01.03.2011) deutlich vor Beginn der Bombardierungen kritisch an, hierdurch würde „die Machtfrage ins Ausland verlagert.“
Das Ziel bestand also darin, Einfluss auf den Ausgang der revolutionären Prozesse nehmen zu können – und zwar nicht nur in Libyen, sondern in der gesamten Region: „Die Libyer waren nicht Subjekt dieser Entscheidung, dieser Dienst war vorbereitet worden, um den sich ausweitenden Prozess der auf Revolution zielenden Umbrüche insgesamt einzufangen und zu kanalisieren. […] In Bezug auf die Umbrüche in der arabischen Welt ist es offensichtlich die historische Aufgabe dieses Krieges, dem einen Riegel vorzuschieben. Für die Mächte des Westens ging es zugleich darum, die Dominanz, die Europa gegenüber der arabischen Welt seit Jahrhunderten ausgeübt hatte, wiederherzustellen. Das ist nicht nur eine Frage von Eigentumstiteln und von Geopolitik, sondern auch eine geistige und mentale Frage. Wenn man dieses Gefühl der Überlegenheit gegenüber China und Indien schon verliert, will man es wenigstens vor der Haustür noch verspüren.“ (Crome 2011, S. 60 und 62)
Machtpolitiker wie etwa James Rogers, Chef der „Group on Grand Strategy“, die sich für eine offensive europäische Geopolitik einsetzt, machen ebenfalls keinen Hehl aus den Motiven der intervenierenden Staaten: „Über Libyen hinaus, ist die Zukunft der Europäischen Nachbarschaft noch offen. Die Europäer müssen ein strategischeres und zukunftsorientiertes Konzept für ihre Südliche Nachbarschaft, einschließlich des Mittleren Ostens entwickeln. Diese Regionen, nicht zuletzt die Levante, sind – zusammen mit der Östlichen Nachbarschaft – von zentraler Bedeutung für Europas Sicherheit. […] Was dies an ‚konkreten Politiken‘ bedeutet, ist noch unsicher: zumindest bedeutet es aber ein hohes Maß an Kontrolle über egal welche Regierungen zu behalten, die aus den Trümmern der Revolutionen hervorgehen, indem ihre Integration in die europäische Nachbarschaft ermutigt wird. Brüssel muss sich stärker damit befassen, wie eine neue Geografie europäischer Macht etabliert werden kann – und zwar schnell.“ (Rogers und Simon 2011) Die unmittelbar nach Ausbruch der arabischen Revolutionen eingeleitete Neufassung der Europäischen Nachbarschaftspolitik basiert genau auf solchen Überlegungen, hat sie doch zum Ziel, den wirtschaftsliberalen Umbau der dortigen Gesellschaften zu forcieren und die Kontrolle Brüssels über die Region auszubauen (vgl. Lösing und Wagner 2011).
Libyen-Doktrin – neuer NATO-Interventionsrahmen?
Während die katastrophalen Folgen der jüngsten Kriege gegen den Irak und Afghanistan möglichst unter den Teppich gekehrt werden, wird der Libyen-Einsatz derzeit zu einer Art Vorzeigeintervention mit Präzedenzfallcharakter deklariert. So schrieb Susan Glasser (2011) in der „Foreign Policy“: „Zum selben Zeitpunkt, an dem Schweigen bezüglich diesen beiden langwährenden Konflikten [Irak und Afghanistan, JW] herrscht, hat sich die außenpolitische Elite der Vereinigten Staaten einmal mehr in ein neues Kriegsmodell verliebt, eines, das vorgeblich mit moderaten Investitionen, keinen Bodentruppen und einem befriedigenden Narrativ von Freiheit, die über Diktatur obsiegt, lockt. Ja, ich Rede über Libyen. […] Mit anderen Worten: Dies ist ein Krieg, der funktioniert.“ Auch für NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen (2011) ist eine der wichtigsten Lehren der Intervention, dass diejenigen eines Besseren belehrt worden seien, die „meinten, Afghanistan sei die letzte out-of-area Operation der NATO gewesen.“ Einige sehen in dem Krieg sogar eine „historische Wegmarke“ (Ischinger und Noetzel 2011), eine Art „Libyen-Doktrin“ (Speckmann 2011) sei im Entstehen, die den Rahmen für künftige Militärinterventionen des Bündnisses vorgeben könnte.
In der Tat weist der Einsatz mehrere weit reichende „Besonderheiten“ bzw. „Neuerungen“ auf: Auf der legitimatorischen Ebene lag ihm mit der Schutzverantwortung eine neue Kriegsrechtfertigung zugrunde; strategisch basierte er auf einer neuen transatlantischen Macht- und Arbeitsteilung; und taktisch-operationell wurde im Vergleich zu den vorherigen Interventionen im Irak und Afghanistan auf eine neue Form der Kriegsführung gesetzt. Ob es sich hierbei allerdings angesichts zahlreicher ungelöster und unsicherer Fragen tatsächlich um ein tragfähiges Konstrukt für künftige NATO-Interventionen handelt, ist äußerst fragwürdig.
Neue Kriegsrechtfertigung?
„Erstmalig in seiner Geschichte hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 17. März 2011 mit der UN-Resolution 1973 eine militärische Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates zum Schutz der Bevölkerung gebilligt.“ (Kursawe 2011, S. 574) Kurz darauf wurde mit derselben Argumentation in der Elfenbeinküste interveniert, wodurch abermals gewaltsam Partei auf einer Seite eines innerstaatlichen Bürgerkrieges ergriffen und dessen Ausgang zugunsten der pro-westlichen Fraktion entschieden wurde (vgl. Marischka 2011). Hierin sehen Befürworter des Konzeptes den endgültigen Durchbruch für die militärisch-gewaltsame Durchsetzung von Menschenrechten. So äußerte sich UN-Generalsekretär Ban Ki-Koon: „Was in Libyen, in der Elfenbeinküste und anderswo passiert, ist ein historischer Präzedenzfall, ein Wendepunkt für die im Entstehen befindliche Doktrin der Schutzverantwortung.“ (UN Press Relase SG/SM/13548)
An dieser Stelle auf die vielen problematischen Aspekte des Konzeptes und seine kriegsfördernde Wirkung einzugehen, würde den Rahmen sprengen (vgl. Haid 2011b; Cuncliffe 2011). Hier stellt sich vielmehr die Frage, inwieweit davon auszugehen ist, dass mit RTP ein neues Standardargument zur Legitimation von NATO-Militärinterventionen entstanden ist, das nun in regelmäßigen Abständen herangezogen werden dürfte.
Dem lässt sich zunächst einmal entgegenhalten, dass die auch von RTP-Befürwortern vielfach kritisierte und weiter oben bereits angesprochene Beliebigkeit, wann das Konzept zur Anwendung gebracht wird und wann nicht, beileibe kein Zufall ist. Denn es existieren keinerlei Ambitionen, wirklich eine Schutzverantwortung, ganz zu schweigen von einer Schutzpflicht akzeptieren zu wollen. Vielmehr will man eine Schutzoption, um das Konzept zur Rechtfertigung eines Kriegseinsatzes heranziehen zu können, wann immer dies die Interessenlage erfordert und die strategisch-ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnung erlaubt. Auffällig ist jedenfalls, dass im neuen Strategischen Konzept der NATO, das im November 2010 verabschiedet wurde, keinerlei Verweis auf Menschenrechte oder gar eine Schutzverantwortung zu finden ist. Berichten zufolge liegt die Ursache dafür darin, dass zumindest einige Staaten befürchteten, solche Passagen könnten dazu führen, dass nicht eine Schutzoption, sondern eine Schutzpflicht entstehen könne, was nicht ihrer Interessenslage entsprochen habe (vgl. Paynter 2011). Diese Willkür und Beliebigkeit untergräbt die Legitimität des Konzeptes massiv und führt zu wachsenden Vorbehalten: „Eine treffendere Beschreibung für RTP wäre […] umdekorierter Neokolonialismus“, kritisierte etwa der Präsident der UN-Generalversammlung, Miguel d’Escoto Brockman, ein Diplomat aus Nicaragua (Nokes 2011).
Darüber hinaus wurde die Existenz der RTP zwar tatsächlich von der UNO-Generalversammlung anerkannt, geltendes Völkerrecht ist es damit aber keineswegs, wie vielfach fälschlich behauptet wird (vgl. Haid 2011b). RTP hin oder her, letztlich entscheiden muss über eine Militärintervention nach geltendem Völkerrecht weiterhin der UN-Sicherheitsrat (Chesterman 2011). In diesem Zusammenhang ist es schwer vorstellbar, dass sich die Vetomächte Russland und China noch einmal auch nur in die Nähe des Konzeptes begeben werden, nachdem sie der keineswegs abwegigen Auffassung sind, im Falle Libyens gezielt getäuscht und in die Irre geführt worden zu sein (vgl. Bellamy 2011). Insofern ist es überaus fraglich, ob sich die Schutzverantwortung bei künftigen NATO-Interventionen als tragfähiges Konstrukt erweisen wird.
Neue Macht- und Arbeitsteilung?
Der Libyen-Krieg wird vielfach als erster Anwendungsfall der Obama-Doktrin betrachtet (Valasek 2011, S. 1), die Ryan Lizza (2011) auf die griffige Formel „Führung aus dem Hintergrund“ (leading from behind) zusammengefasst hat. Ein wesentliches Element dieser Doktrin besteht aus der Überlegung, dass der profunde Machtverlust, den die Vereinigten Staaten in den letzten Jahren erlitten haben, eine neue Macht- und Arbeitsteilung im transatlantischen Bündnis erforderlich macht. Die Kosten für die Aufrechterhaltung der westlichen Vorherrschaft sollen, so eine der Kernideen, auf breitere, vor allem europäische Schultern verteilt werden. Vor diesem Hintergrund bietet Washington den EU-Staaten einen „Transatlantischen New Deal“ an. Er umfasst einerseits das US-Angebot, künftig in deutlich größerem Umfang als bislang auf EU-Interessen Rücksicht zu nehmen – also die von den Europäern lang eingeforderte, von den USA aber bislang stets strikt abgelehnte Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe umzusetzen. Umgekehrt fordern die Vereinigten Staaten hierfür jedoch von den Verbündeten eine erheblich größere (militärische) Unterstützung ein. Im Kern lautet der „Transatlantische New Deal“, dessen Grundelemente bereits unmittelbar nach Obamas Amtsantritt formuliert wurden, also folgendermaßen: Wenn die Europäer künftig adäquat mitkämpfen, dürfen sie auch substanzieller mitreden.
Diese Überlegungen flossen auch in das neue Strategische Konzept der NATO ein: „Die NATO erkennt die Bedeutung einer starken und fähigeren europäischen Verteidigungsfähigkeit an.“ Anschließend ist die Rede von einer „strategischen Partnerschaft zwischen der NATO und der EU“ und – entscheidend – vom „Respekt vor der Autonomie und institutionellen Integrität beider Organisationen.“ (NATO 2010, Abs. 32) Bis zu diesem Zeitpunkt wurde eine eigenständige EU-Militärkomponente von den USA stets strikt abgelehnt. Nun wird diese akzeptiert, sofern hiermit eine größere Unterstützung der USA im Rahmen von NATO-Operationen einhergeht. Deshalb findet sich im NATO-Konzept auch der Appell für eine „fairere Lastenverteilung“ im Bündnis (ebd., Abs. 3).
Wie erwähnt, wird der Libyen-Krieg als erster Anwendungsfall der Obama-Doktrin betrachtet, die Resultate fallen jedoch gemischt aus. Auf der einen Seite haben die USA eine bis dato für undenkbar gehaltene Bereitschaft an den Tag gelegt, die Führungsrolle bei einem NATO-Kriegseinsatz an EU-Verbündete – namentlich Frankreich und Großbritannien – abzugeben (vgl. Valasek 2011, S. 2; Ischinger und Noetzel 2011). Was die europäischen Beiträge anbelangt, klafft die Bewertung jedoch weit auseinander. Einerseits betonen vor allem europäische Vertreter, mit dem Libyen-Krieg sei unter Beweis gestellt worden, dass europäische Länder in der Lage seien, eine umfangreiche Militärintervention durchzuführen (vgl. Valasek 2011, S. 2f.). Die Bewertung der US-Seite fällt demgegenüber komplett anders aus. Im Juni 2011 las der damalige US-Verteidigungsministers Robert Gates den europäischen Verbündeten in mehr als deutlicher Form die Leviten: „Die mächtigste Militärallianz in der Geschichte befindet sich gerade einmal in der elften Woche einer Operation gegen ein schlecht ausgerüstetes Regime in einem spärlich besiedelten Land – und trotzdem geht vielen Verbündeten bereits die Munition aus und sie sind einmal mehr auf die USA angewiesen, damit diese den Ausschlag geben.“ In ungewohnt drastischen Worten warf Gates den Verbündeten Trittbrettfahrerei vor. Die „ungeschminkte Wahrheit“ sei, dass in den USA „der Appetit und die Geduld schwinden, zunehmend wertvolle Mittel zugunsten von Nationen auszugeben, die offenbar nicht willens sind, die notwendigen Ressourcen zu stellen oder notwendige Änderungen vorzunehmen, um ernsthafte und fähige Partner zu ihrer eigenen Verteidigung zu sein“. Um zu verhindern, dass sich die USA andere Partner suchen werden, forderte er die EU-Verbündeten auf, „ernsthafte Anstrengungen zu unternehmen, um die Verteidigungsbudgets davor zu schützen, von der nächsten Sparrunde noch weiter zusammengestrichen zu werden.“ Ansonsten drohe der NATO die „gemeinsame militärische Bedeutungslosigkeit“ und eine „düstere, wenn nicht sogar trostlose Zukunft.“ (Gates 2011)
Diese klare Ansage wurde in den europäischen Hauptstädten verstanden und mit zahlreichen Versicherungen beantwortet, die militärischen Fähigkeiten ernsthaft verbessern zu wollen. Inwieweit dies jedoch gelingt, ist gegenwärtig fraglich. Die eine Option hierfür, substanzielle Erhöhungen der Rüstungshaushalte, dürfte angesichts der Budgetrestriktionen aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise sowie des Widerstands in der Bevölkerung kaum gangbar sein. Die einzige andere Möglichkeit, eine deutlich stärkere Europäisierung der Militärpolitik und damit verbundene Effizienzsteigerungen durch die massive Bündelung von Ressourcen, ist aber ebenfalls schwer auf den Weg zu bringen. Denn dies wird augenblicklich durch die massiven innereuropäischen Konflikte zwischen Großbritannien und Frankreich auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite erheblich erschwert (siehe den Beitrag von Uli Cremer). Vor dem Hintergrund dieser Zentrifugaltendenzen ist es zumindest ungewiss, ob es zu der anvisierten neuen transatlantischen Macht- und Arbeitsteilung, verbunden mit einer Stärkung der NATO, kommen wird, für die der Libyen-Krieg eigentlich ein wichtiger Impuls hätte sein sollen.
Neue Form der Kriegsführung?
Allgemein wird davon ausgegangen, dass nach dem desaströsen Verlauf der Kriege in Afghanistan und im Irak der Appetit auf weitere großangelegte Besatzungs- und Aufstandsbekämpfungsoperationen mit ihrem hohen personellen und finanziellen Aufwand in den USA und mehr noch in Europa massiv zurückgegangen ist. Die Art, wie der Libyen-Krieg durchgeführt wurde, wird deshalb vielfach als eine neue, „ressourcensparendere“ und begrenztere Form der Kriegsführung interpretiert, die sich grundlegend von den beiden vorher genannten Einsätzen unterscheide (Francois 2011, S. 4).
Als konkrete Elemente dieser mutmaßlich neuen Interventionsdoktrin werden die Konzentration auf Luftschläge und der Verzicht auf Bodentruppen benannt, allenfalls Spezialeinheiten sollen zur Anwendung kommen: „Um nach Afghanistan und dem Irak nicht auch in Libyen historische Fehler zu wiederholen, orientiert sich der Westen dort heute an einer Strategie, die bereits im jugoslawischen Bürgerkrieg der Neunzigerjahre den Gegner stoppte. […] Anstatt sich mit dem Einsatz von eigenen Bodentruppen auf das Risiko eines langwierigen und verlustreichen Krieges einzulassen, setzt der Westen auf die Überlegenheit seiner Luftwaffe und unterstützt mit Geheimagenten, Spezialeinheiten, Militärberatern und Waffenlieferungen über Drittstaaten die Streitkräfte der verbündeten Konfliktpartei vor Ort.“ (Speckmann 2011, S. 53)
Hieraus aber abzuleiten, die NATO werde auch bei künftigen Einsätzen grundsätzlich auf eine solche Libyen-Doktrin zurückgreifen, ist aus verschiedenen Gründen nicht tragfähig. Erstens hinkt das Beispiel Jugoslawien erheblich, schließlich sind dort bis heute, mehr als zehn Jahre nach der Intervention, Bodentruppen stationiert. Zweitens ignoriert ein solcher Befund die weiterhin hohe Priorität, die der Aufstandsbekämpfung im Strategischen Konzept eingeräumt wird, in dem es heißt: „Wir müssen die Doktrin und die militärischen Fähigkeiten für Auslandseinsätze weiter ausbauen, einschließlich Aufstandsbekämpfungs- sowie Stabilisierungs- und Wiederaufbaumissionen.“ (NATO 2010, Abs. 25) Zwar dürfte die Einschätzung, dass nach den gemachten Erfahrungen künftig wohl nicht mehr ganz so schnell Besatzungs- und Aufstandsbekämpfungsoperationen gestartet werden dürften (vgl. Overhaus 2011, S. 3) zweifellos zutreffen, allerdings nur bis zu einem gewissen Grad: Ist die Interessenlage entsprechend, dass ein Regimewechsel für notwendig erachtet wird, können Bodentruppen unter Umständen unvermeidlich sein. In Libyen kamen diverse Faktoren zusammen, die einen „Regimewechsel aus der Luft“ ermöglichten, dies ist beileibe keine Garantie, dass dies anderswo auch funktioniert (vgl. Wilson 2011, S. 4).
Im Gegenteil, selbst für Libyen stellt sich die Frage, was die NATO-Staaten unternehmen werden, sollten die Dinge dort „aus dem Ruder laufen“. Zumal Libyen noch lange nicht „befriedet“, sprich: unter Kontrolle gebracht ist. Regionalexperten warnen deutlich davor, dass dem Land noch schwere Konflikte bevorstehen könnten (vgl. Lacher 2012). Sollten sich die innerlibyschen Spannungen in einen erneuten Bürgerkrieg entladen, würde dies enormen Druck auf diejenigen NATO-Staaten ausüben, nun mit Bodentruppen zu intervenieren, die seinerzeit den Angriff maßgeblich auf den Weg gebracht hatten: „Letztlich sollten wir durch den Libyen-Einsatz nicht eine zentrale Lehre vergessen, die uns aus vorhergehenden Konflikten beigebracht wurde, nämlich dass der Krieg der einfachere Teil ist, während es die Friedensbildung ist, die die wirkliche Schwierigkeit darstellt. Wenn die Entwicklungen in Libyen in die falsche Richtung gehen sollten, kann die NATO und die internationale Gemeinschaft nicht einfach danebenstehen und zuschauen.“ (Overhaus 2011, S. 3)
Erfolg liegt im Auge des Betrachters
Nach Beendigung des Einsatzes verkündete NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen stolz: „Das war wohl eine der erfolgreichsten Missionen in der Geschichte der NATO.“ (Tagesspiegel, 27.10.2011) Ist der Gradmesser für Erfolg, inwieweit es gelang, westliche Interessen durchzusetzen, so ist die Euphorie des Generalsekretärs durchaus nachvollziehbar: Der unliebsame Gaddafi wurde beseitigt, der Zugriff auf die Ölvorkommen scheint gesichert und die Revolutionsdynamik im arabischen Raum zumindest teilweise gebremst. Ambivalenter stellt sich die Bilanz in der Frage dar, ob es gelang, ein neues und tragfähiges Interventionsgerüst auf den Weg zu bringen. Dies ist, wie beschrieben, eher fraglich.
Allerdings können nur Menschen wie der NATO-Generalsekretär, für die der „Erfolg“ eines Einsatzes davon abhängt, inwieweit es gelang, ökonomische und strategische Interessen umzusetzen, überhaupt eine positive Bilanz aus diesem (und anderen) Einsätzen ziehen: „Der offizielle Zweck, der ‚Schutz der Zivilbevölkerung‘“, erscheint anhand geschätzter 50.000 Toter als Farce. Auch dürften Autokraten anhand der unterschiedlichen Behandlung von Libyen und Syrien registriert haben, dass sie offenbar umso besser geschützt sind, je besser das Verhältnis zu den UN-Vetomächten Russland und China ist. Und, dass Abrüstung und Verträge mit Ländern wie den USA, Frankreich und Italien keine Garantien gegen militärische Angriffe sind.“ (Mühlbauer 2011)
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[1] Wenn im Folgenden von der NATO und ihrer Intervention die Rede ist, wird durchaus berücksichtigt, dass sich zahlreiche Mitgliedsländer, allen voran Deutschland, nicht bzw. nur indirekt und verdeckt am Krieg beteiligt haben. Dennoch erlaubten sie, den Krieg unter Zuhilfenahme der Strukturen und im Namen des Bündnisses zu führen, was von ihnen jederzeit hätte verhindert werden können. Insofern lässt sich dennoch durchaus von dem Krieg der NATO sprechen.