IMI-Studie 2011/17

Das Elend des Zivilen

Über die Verkehrung der zivilen Kritik zur militärischen Legitimation

von: Thomas Mickan | Veröffentlicht am: 4. Januar 2012

Drucken

Hier finden sich ähnliche Artikel

Hier zum PDF

Der Verweis auf Alternativen hat in der Friedensbewegung Tradition: zur Landesverteidigung gibt es die Soziale Verteidigung, zu den Militäreinsätzen gibt es eine Zivile Konfliktbearbeitung oder zu den Militärstandorten und Rüstungsschmieden zahlreiche zivile Konversionspläne. Ganz allgemein fungiert also das Zivile als Alternative zum Militärischen und erfüllt damit eine bedeutsame Kritikfunktion. Doch der Verweis auf das Zivile hat eine Verkehrung erfahren, die auf eigentümliche Art und Weise das Militärische zu legitimieren und zu befördern vermag. Dies zu zeigen, soll die vorliegende Arbeit leisten, um damit der gefährlichen Vereinnahmung und Entschärfung der wichtigen zivilen Kritik entgegenzutreten.

1. Über Alternativen, das Zivile und das Militärische

In der letzten Ausgabe des Jahres 2011 der Fachzeitschrift Internationale Politik (IP) war Bemerkenswertes zu lesen: Die Chefredakteurin Sylke Tempel schrieb in einem Kommentar mit dem Titel „Die dicke Berta der Debattenschlacht“,[1] dass dieses Kruppsche Geschütz statt Berta heute doch besser den Namen „Tina“ tragen müsste. „Tina“ wurde zum Spitznamen Margaret Thatchers, weil sie ihren neoliberalen Wirtschaftskurs beständig mit dem Scheinargument „There Is No Alternative“ (dt.: es gibt keine Alternative) begründete.

Sylke Tempel kritisiert mit dieser historischen Anleihe das Tina-Prinzip der deutschen Außenpolitik in scheinbar bester friedenspolitischer Manier. Doch anstatt zivile Alternativen gegenüber dem militärischen Vorgehen in die Debattenschlacht zu führen, was nach über 10 Jahren Krieg in Afghanistan erwartet werden könnte, erfolgt ein Ruf nach der angeblich vergessenen Alternative des Militärs! So sollten die Zeiten des „[militärischen] Abseitsstehens“ doch der Vergangenheit angehören und der Verweis auf „die schwierige, deutsche Geschichte“ samt jener „Kultur der [militärischen] Zurückhaltung“ endlich überwunden werden. Es gebe halt eben „Probleme, die nicht ohne Zuhilfenahme militärischer Mittel geknackt werden können“.[2]

Sylke Tempel rückt damit durchaus wortgewandt das Militärische in eine kritikwirksame Alternativposition, welche bislang noch nicht ausreichend von der deutschen Politik entdeckt, ja im Falle Libyens sogar sträflich vernachlässigt worden wäre. Das Kritikwerkzeug der Alternative wird so seiner Kernfunktion – der Aufwertung nicht-hegemonialer Positionen – beraubt, indem die prominente Position des Militärs in der deutschen Außenpolitik als Alternative im vermeintlich alternativlosen Raum dargestellt wird.

Tempel darf dabei jedoch nicht missverstanden werden, dass sie dem rein Militärischen das Wort redet. Dieser hohle Militarismus hat durchaus auch in konservativen Kreisen als allzu unmodern abgedankt. Viel eher gehöre das Militärische manchmal eben einfach dazu. Entsprechend ist nach Tempel auch das Argument „Probleme können nur politisch und nicht militärisch gelöst werden“ gleich dem hohlen Militarismus ein ebenso „undifferenziertes“ und zu überkommendes „argument to end all arguments“ (dt. ein Totschlagargument).

Eine wichtige Figur im immer unverblümteren Verweis auf die vermeintliche Notwendigkeit des Militärischen in der deutschen außenpolitischen Debatte zeichnet sich in Tempels Argumentation ab. Diese Figur soll im Folgenden – in Anlehnung an den Philosophen und Soziologen Bruno Latour[3] – als das Elend des Zivilen bezeichnet sein. Das Elend besteht darin, dass die Kritikfunktion der zivilen Alternative so verkehrt wird, dass das Zivile das Militärische nicht mehr delegitimiert, sondern ihm geradewegs eine eigentümliche Legitimation verschafft.

Anhand von drei Beispielen soll das Phänomen aufgezeigt werden. Als erstes Beispiel wähle ich die Zivil-Militärische Zusammenarbeit, das heißt die „Abstimmung“ der Arbeit von zivilen und militärischen Akteur_innen. Es erfolgt dort nicht nur eine praktische Vereinnahmung des Zivilen, sondern eine Institutionalisierung militärischen Konfliktaustrages aufgrund eines militärlegitimierenden Festhaltens an der Idee der „rechten Mitte“. Als zweites thematisiere ich das Dilemma zwischen teilnahmslosem Zuschauen und (militärischem) Eingreifen. Eng verbunden ist dies mit der Dringlichkeitsfigur der Ultima Ratio. In einer darin zu bezweifelnden Suggestion von Alternativlosigkeit wird das Zivile in seiner vermeintlichen Erschöpfung zur Legitimationsfolie der (zumeist) militärischen Auflösung des Dilemmas. Als drittes und letztes Beispiel diskutiere ich die Verantwortungsrhetorik der deutschen Außenpolitik. Frieden wird darin selbst zum Gewaltakt, Gewaltfreiheit zur Gewissensverweigerung und Pazifismus zur verantwortungslosen Gesinnungsethik. Verantwortung kommt als eine Verantwortung der Gewalt und des Militärischen daher, während der Zivile Ernstfall ins moralische Abseits gestellt wird und so als Antipode der Gewalt dieser Legitimation verleiht. Im letzten Abschnitt soll eine Perspektive des Widerstandes gegen diese diskursive Vereinnahmung des Zivilen anhand einer Unterscheidung von Essenz- und Existenzkritik aufgezeigt werden. Damit soll versucht werden, dem „freundlichen Desinteresse“[4] am Zivilen eine produktive kritische Wendung gegen das Militärische zu verleihen.

Das Militärische soll dabei verstanden werden als eine Form kollektiven Gewaltaustrages in staatlicher Verfasstheit, verbunden mit einer willentlichen und bezahlten Ausbildung soldatischen Fachpersonals zum Einsatz tödlicher Gewalt. Gerade die staatliche Verfasstheit des Militärischen birgt für eine Demokratie eine nicht aufzulösende prinzipielle Unvereinbarkeit mit den ihr zugrundeliegenden Werten. Obgleich diese Unvereinbarkeit in manchen Kreisen der Friedens- und Konfliktforschung nicht geteilt wird,[5] stehen die Pflicht zum Gehorsam, feste Hierarchien und Autoritäten und die potenzielle Aufhebung des zivilen Miteinanders durch das Training und die Ausübung tödlicher Gewalt jedem demokratischen Verständnis diametral gegenüber.[6] Auch eine parlamentarische Kontrolle oder Konzepte wie das der „Inneren Führung“ oder des „Staatsbürgers in Uniform“ kommen eher demokratischem Wunschdenken gleich, als dass sie den tatsächlichen Charakter des Militärischen aufzulösen vermögen. Die Sprachstrategie, aufgrund der Auslandseinsätze den „Bürger in Uniform“ zum „Weltbürger in Uniform“ umzudeuten, illustriert dies weiter. Die im Weltbürger suggerierte Offenheit, Toleranz und interkulturelle Kompetenz sind ebenso unvereinbar mit dem archaischen und prädemokratischen Recht des Stärkeren, welches ein „Töten als Arbeit“ [7] als soldatisches Handwerk versteht.

Das Zivile soll als ein Austragungsmechanismus von Konflikten insbesondere in Abgrenzung zum Militärischen verstanden werden. Das Zivile ist ähnlich der Gewaltfreiheit keine passive Größe, sondern ein aktives Projekt. Es muss als eine Konstruktion von „Gegenstandsbereichen und Wirklichkeitsritualen“[8] aufgefasst werden. Das Zivile ist daher verbunden mit dem positiven Frieden (Galtung) und teilt mit ihm die gleichen Probleme der Instrumentalisierbarkeit für die Legitimation militärischer Gewalt.[9] Um dieser Instrumentalisierung zu entgehen, muss das Zivile als notwendige Bedingung die Nichtanwendung von Waffen beziehungsweise physischer Gewaltinstrumente erfüllen. Dies schließt auch die Potentialität ihrer Anwendung ein wie sie zum Beispiel beim Einsatz bewaffneter Polizeikontingente stets vorhanden ist.

1.1 Mit Militär allein ist kein Krieg zu gewinnen

„Der Einsatz militärischer Mittel als ultima ratio kann und darf nicht ausgeschlossen werden, aber kein Konflikt, mit dem wir heute konfrontiert sind, kann allein mit militärischen Mitteln gelöst werden.“ (Angela Merkel am 9.9.2011)[10]

Dieser Satz aus einer Rede von Angela Merkel ist nur ein Beispiel für den weitverbreiteten Ausdruck „mit Militär allein…“. Entscheidend ist das kleine Wort „allein“, welches in sich den großen Unterschied zwischen Ablehnung oder Legitimation von Gewalt birgt. Der politische Subtext findet sich im Konzept der Vernetzten Sicherheit und der Zivil-Militärischen-Zusammenarbeit (ZMZ).

Unter der Vernetzten Sicherheit ist im bundesdeutschen Kontext die ressortübergreifende Bearbeitung als sicherheitsrelevant eingestufter Probleme zu verstehen.[11] Diese Sicherheitsdoktrin ist äußerst vage und umfassend formuliert, wobei einzig dem Militär im Sicherheitsnetz eine feste Größe zukommt. Während Vernetzte Sicherheit ein theoretisches Konzept der Verbindung von Zivilem und Militärischem ist,[12] stellt ZMZ eine praktische Strategie und institutionelle Verankerung dieser Verbindung dar. Trotz semantischer und propagierter Gleichheit des Zivilen und Militärischen, wurde ZMZ von Seiten des Militärs eingerichtet, um „die Erfüllung des militärischen Auftrags zu unterstützen“[13].

Unstrittig erhöht sich die Legitimität eines Militäreinsatzes durch ein zivileres Image, sowohl bei den Soldat_innen als auch in der entsendenden Bevölkerung.[14] Das Gegenteil gilt jedoch für die Legitimität des zivilen Gegenparts, zum Beispiel die Entwicklungsorganisationen im Einsatzland oder deren lokalen Partner_innen. Die Vermischung wird so von Seiten der Nichtregierungsorganisation mitunter als Militarisierung des Zivilen, Verlust ziviler Neutralität und veränderter Prioritätensetzung von humanitär Notwendigem zu militärisch Benötigtem aufgefasst.[15] In der Praxis zeige sich zudem, dass militärische Akteur_innen vom Zivilen etwa bei der Informationsgewinnung profitieren, jedoch das Militär sich seinerseits mit Unterstützung der zivilen Kräfte zurückhält. Gleichzeitig versuchen militärische Akteur_innen die Agenda des Handelns zu setzen.[16]

Was macht trotz dieser umfassenden und klaren Kritik dennoch das Konzept der Vermischung von Zivilem und Militärischem so diskurs- und wirkmächtig? Und warum verleiht das Zivile dem Militärischen jene eigentümliche Legitimation? Ein Erklärungsansatz kann das „Diktum der Mitte“ sein. In dieser schon seit der Antike ge­­pflegten Idee findet sich vor allem bei Aristoteles, dass erst die ausgewogene Mischung zum wahren Tugendhaften und Guten führe. Kämen die Extreme hingegen in Reinform vor, tragen sie das Übel bereits in sich.[17] Diese aristotelische Mesoteslehre, also die Lehre der rechten Mitte, hatte über Jahrhunderte hinweg eine entscheidende Bedeutung für die Mischverfasstheit herrschaftlicher Durchsetzungsfähigkeit.[18]

Herfried Münkler nennt die Mitte „ein genuin deutsches Thema“ und bescheinigt den Deutschen sie seien „mitteversessen“.[19] Er weist jedoch auch auf die Kritik der Mitte etwa bei Friedrich Nietzsche oder Karl Marx hin. Diese lehnten jene auch in der volkstümlich verbreiteten Rede „goldene Mitte“ wegen deren Mittelmäßigkeit und Fortschrittsfeindlichkeit ab.[20] Die Mitte kann somit nur ein Kompromiss sein und – um beim Volksmund zu bleiben – ist der Kompromiss zumeist ein fauler zugleich.

Ähnlich gilt dies für die ZMZ. Die ausdauernde Idee, das Beste von Beiden zu nehmen, weil das Eine ein Zuviel an Gewalt, hingegen das Andere ein Zuwenig an Wirkung besäße, begründet par excellence eine „Mesoteslehre des Krieges“. Abseits der Feststellungen, dass in der ZMZ das Zivile lediglich als Ergänzung konzipiert wurde und dessen Akteur_innen und ihre Unparteilichkeit Schaden nehmen, wiegt noch etwas anderes schwer: Das Zivile wird seiner Funktion der Kritik beraubt. Statt eine eigene Alternative zum Militärischen darzustellen, wird es selbst zu dessen Legitimationsfolie. Vorzufinden ist ZMZ heute etwa bei der Bundeswehr, der Europäischen Union, der NATO oder den Vereinten Nationen. Sie ist institutionalisiert und damit ist das Militärische als essentieller Bestandteil der Bearbeitung von Konflikten fixiert!

Zudem wird mit dem vermeintlichen Eingeständnis der Schwäche, dass mit dem Militär allein keine Probleme mehr „geknackt“ (Tempel) werden können, die Gleichzeitigkeit des Scheiterns rein zivil-politischer Arbeit impliziert. Das Militärische wird deshalb nur vorgeblich geschwächt, weil es der klaren und einfachen Kritik eines hohlen Militarismus enthoben wird. Gleichzeitig erfährt es eine fortschreitende Institutionalisierung und das rein Zivile wird ins Unrealistische verschoben. Das Zivile wird in seiner Ergänzungsfunktion des Militärischen so zu dessen Legitimation verkehrt.

1.2 Dilemma und Ultima Ratio

Im zitierten Ausschnitt der Rede Angela Merkels findet sich noch eine zweite Denkfigur, die relevant für die Verkehrung des Zivilen ist. Es ist die Figur der Ultima Ratio, also Gewalt als allerletztes Mittel doch anwenden zu können, ja sogar zu müssen. Eng hängt diese mit dem Dilemma zwischen militärischem Einschreiten oder dem Zuschauen im Falle eines gewaltförmig ausgetragenen Konfliktes zusammen. Joseph Fischer nannte es einst: „Nie wieder Krieg oder nie wieder Auschwitz“.

Die Idee der Ultima Ratio hat ihren Ursprung im ,,ultima ratio regum“ (dt. das letzte Mittel der Könige). Dieser Leitspruch war auf den Kanonen der französischen Monarchen Ludwig XIII. und Ludwig XIV. eingraviert. Damit sollte jedoch nicht das „letzte“ Mittel eine Gravur erfahren, sondern das „Entscheidende“, im Sinne einer widerspruchslosen Durchsetzung königlicher Gewalt und Herrschaft.[21] Besondere Bedeutung erlangte die Ultima Ratio in der Lehre vom Gerechten Krieg, welche in den so genannten humanitären Interventionen beziehungsweise einer Schutzverantwortung wieder Konjunktur erfährt.

Die beschriebene Maxime, dass Militär allein keine Konflikte mehr lösen könne, führt nach Herfried Münkler zu einer „paradoxen Konsequenz“ in Bezug auf die Ultima Ratio. So müsse die Idee eines letzten Mittels aufgegeben und anstelle dessen Militäreinsätze zu einem ersten Mittel der Politik werden. Eine Transnationalisierung der Gewalt, also das Übergreifen auf andere Länder, könne damit verhindert und ein anschließender ziviler Friedensprozess erfolgreicher eingeleitet werden.[22] In leichter Abwandlung schlägt diese Idee auch bei Thomas de Maizière durch: „Militärische Mittel sind ‚äußerstes‘, nicht erst ‚letztes‘ Mittel“. Es müsse daher geprüft werden, ob ein „frühzeitiger, dosierter Einsatz von Streitkräften“ deeskalierend wirken könne.[23] Besonders in der Debatte um eine Schutzverantwortung sollte dies aufhorchen lassen, betonen doch ihre Befürworter_innen immer wieder, dass militärische Gewalt auch hier nur als „letztes“ Mittel eingesetzt werden soll. Mit der bereits sich vollziehenden Uminterpretation militärischer Gewalt zum „ersten“ beziehungsweise „äußersten“ Mittel, ist dies jedoch hinfällig.

Die Figur der Ultima Ratio taucht in der aktuellen Debatte in Verbindung mit dem Dilemma aus (militärischem) Eingreifen oder Zuschauen auf. Das Dilemma gewinnt dabei seine Nahrung zugleich aus „den erfolgreichsten Interventionen“ (Vietnam in Kambodscha, Indien in Ost-Pakistan, Tansania in Uganda)[24] und aus den „erfolglosesten Interventionen“ in Ruanda und Srebrenica.[25] Besondere Prominenz in Deutschland erreichte es jedoch, als Joseph Fischer den völkerrechtswidrigen Krieg im damaligen Jugoslawien 1999 mit dem Verweis auf die Verhinderung eines zweiten Auschwitz legitimierte.[26]

Das aufgestellte Dilemma findet seine Anleihen auch in klassischen moralphilosophischen Gedankenexperimenten zur Auswahl einer von zwei jeweils schlechten Alternativen wieder. Bekannt ist etwa das Trolley-Problem, bei dem ein Zug wahlweise fünf auf dem Gleis angekettete Menschen überfährt, oder aber, beim bewussten Umlegen einer Weiche, diese zwar gerettet würden, der Tod „nur“ eines anderen Menschen auf dem anderen Gleis jedoch wissentlich im Kauf genommen werden würde. Während jedoch im Gedankenexperiment die Randbedingungen klar festgelegt werden können, ist es fraglich, ob dieses auch auf das Laboratorium der sozialen Welt übertragbar ist. Zwei Denkfallen entstehen durch das Dilemma: Zum ersten suggeriert es eine Alternativlosigkeit, die fraglich ist, da sie gewaltfreie Alternativen zur Bearbeitung eines Konfliktes als dritten Weg einfach ignoriert. Und zum zweiten vollzieht sich daran anschließend eine Diskursverschiebung vom zivilen auf den militärischen Ernstfall. In der Setzung der Pole von Zuschauen oder militärisch Eingreifen erfährt das Zivile eine Verlagerung in das Vorfeld oder die Nachsorge gewaltförmiger Konflikte. So ist beispielsweise der Zivile Friedensdienst entgegen den Anliegen ihrer Initiator_innen weitgehend zu einem Instrument der Entwicklungszusammenarbeit geworden, statt ein explizites Instrument der Sicherheitspolitik zu sein.[27] Der Zivile Friedensdienst oder allgemeiner gesagt das Zivile verliert hierin seine kritische Wirkung als Alternative zum Militärischen. Die im Dilemma gesetzte akademische und politische Brisanz und Dringlichkeit bedeutet in der Konsequenz eine Konzentration des Denkens auf den militärischen Ernstfall.

Der Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek weist zudem noch darauf hin, dass in der Interventionsdebatte die vermeintliche Dringlichkeit, „jetzt doch endlich etwas tun zu müssen“, anti-theoretisch sei und ein verfälschtes Gefühl in der Problemwahrnehmung verursache. Dabei „leugnen die post-industriellen Reichen, die in ihren lauschigen Scheinwelten leben, […] die brutale Wirklichkeit außerhalb ihres Lebensbereiches“. Mensch sollte den Mut aufbringen, auch entgegen den zu erwarteten Tadel eines „scheinheilige[n] Gefühl[s] moralischer Empörung“ der Dringlichkeit zu widerstehen.[28] Ebenso wie sich gewaltförmige Konflikte langfristig entwickeln, bedürfe es des „Begreifen[s] der Zeit“, das heißt also eines zeitlichen Horizonts der Analyse und des Lernens, um über die „wahren“ Ursachen der Gewalt und ein nachhaltiges Handeln nachzudenken. Dieses sei aber nur ohne den Zwang der Dringlichkeit zu gewährleisten.[29]

Die Problematik der Ultima Ratio und des Dilemmas liegt neben den beschriebenen Denkfallen und der falschen Dringlichkeit jedoch noch tiefer: Das Zivile verleiht erneut dem Militärischen eine eigentümliche Legitimation und verkehrt so die Kritikfunktion des Zivilen. Der bekannte Theoretiker eines „Gerechten Krieges“, Michael Walzer, beschäftigt sich mit einiger Kenntnis im Nachwort seines Buches „Just and Unjust Wars“ mit gewaltfreien Alternativen. Auch er präferiert den zivilen Kampf, drängt aber auf Bedingtheiten des Krieges, welche dem Zivilen nur bis zu einem bestimmten Grad Wirksamkeit ermöglichten. Eben gerade daher, weil das Zivile erschöpflich sei, müsse intensiv über das Militärische nachgedacht werden.[30] Auch Geis/Müller/Schörnig weisen in einer Untersuchung von Parlamentsdebatten bezüglich der Legitimation von Militäreinsätzen auf die Bedeutung der Erschöpfung ziviler Alternativen hin. Insbesondere im schwedischen, aber auch im deutschen Parlament sei der Verweis auf die „Erschöpfung friedlicher Mittel“ das wichtigste bzw. ein wichtiges Argument in der Entscheidung über Krieg und Frieden.[31] Gerade weil das Zivile nicht weitergedacht werden könne, wird es so zur vorbereitenden Bedingung künftiger Kriege. Das Zivile ist dabei zwar das vermeintlich Erstrebenswertere, es müsse jedoch gerade deshalb das Militärische als Ultima Ratio besonders beachtet werden, um ein anschließendes Ziviles erst zu ermöglichen oder das gescheiterte Zivile aufzufangen. Damit wird es zur Legitimationsfolie des Militärischen verkehrt und die Erweiterung der Kritik, etwa durch den Ausbau einer Zivilen Konfliktbearbeitung, wird bedeutungslos.

1.3 Das Heer der Verantwortlichen

Ein letztes und drittes Beispiel für das Phänomen der Kritikumkehr des Zivilen ist die Rede über die Verantwortung im Zusammenhang mit Krieg und Frieden. So stammt das bereits zweifach erwähnte Zitat Angela Merkels aus einer Rede mit dem Titel „Deutschland weiß um seine Verantwortung in der Welt“. Neben der Bundeskanzlerin betont auch Verteidigungsminister de Maizière ausdauernd die unbedingte Verantwortungsübernahme durch militärisches Engagement. In einem Interview im August 2011 stellt er „die These auf“, dass noch mehr „internationale Verantwortung“ auf Deutschland „zukomme“ und dann nicht länger das „bequeme Argument“ gelten dürfe, dass „deutsche Interessen“ nicht berührt seien.[32] Spätestens seit der Vorstellung der neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien im Mai 2011 galt die Formel, Wohlstand erfordere Verantwortung, als neues Mantra von de Maizière. Sie dient gleichermaßen dazu, künftige Kriege auch vermeintlich außerhalb „deutscher Interessen“ zu legitimieren.[33] Es handelt sich also um eine Legitimationsformel für Kriege, vergleichbar der „Verteidigung der Sicherheit am Hindukusch“ (Struck) oder einem „lieber Krieg als Auschwitz“ (Fischer).

Der Behauptung, aus Wohlstand könne die Verantwortung zum militärischen Eingreifen abgeleitet werden, muss jedoch klar widersprochen werden. Wohlstand als gesellschaftliches Privileg beruht auf einem historischen, ja zufälligen Geschenk, das möglicherweise als Befähigung zum Handeln, jedoch nie zur Erfordernis einer Pflicht gerinnen darf. Unverschuldet der Pflicht zu unterliegen, im Zweifel töten zu müssen, darf keine Maxime des Handelns werden, stellt es doch das Zwischen (Arendt) der Menschen grundlegend in Frage. Wird die Erfordernis einer solchen Pflicht jedoch konsequent für andere Dimensionen wie eben Wohlstand zu Ende gedacht, muss sich eine gefährliche Zufälligkeit der vermeintlichen Kriterien einstellen. Letztlich beruft sich auch religiöser Terrorismus auf eine Form spirituellen Wohlstands und damit auf einen Zwang zum Handeln.

Warum soll zudem aus einer materiellen Verfügbarkeit Krieg gegen in der Regel weniger materiell begüterte Länder sich ableiten lassen? Dies würde die Ursachen der Ungleichverteilung regelrecht pervertieren, da sie auch durch die heute Begüterten in Kriegen und durch Unterdrückung verursacht wurden oder aufrechterhalten werden. Nicht nur der Rückblick auf koloniale und imperiale Auswüchse belegt dies, sondern insbesondere das weite Feld systemischer (Žižek) beziehungsweise struktureller (Galtung) Gewalten, etwa der permanenten Mitverantwortung durch Rüstungsgüterproduktion und -handel. Eine Binnendifferenzierung innerhalb der Begüterten und weniger Begüterten ist desweiteren notwendig, rekrutieren sich doch die kämpfenden und fallenden Soldat_innen traditionell aus einkommensschwächeren Schichten. Auch für die Bundeswehr ist dies nachweisbar, etwa im Gefälle der Besetzung der Mannschaftsdienstgrade mit Soldat_innen aus strukturärmeren Regionen sowie den Anwerbeversuchen „leistungs- und ausbildungsschwächerer“ Bewerber_innen in den ARGEN.[34] Besonders plastisch erkennbar wird es jedoch in der Praxis der so genannten Greencard-Soldat_innen in der US-Armee, die nach abgeleistetem Kriegsdienst (vornehmlich in Irak oder Afghanistan) sich die wohlstandsversprechende Eintrittskarte der Staatsbürger_innenschaft erkaufen können. Letztendlich heben also Kriege aus Wohlstandsverpflichtung nicht zugrunde liegende Wohlstandsgefälle auf, sondern manifestieren diese. Welchem Mehr an Gerechtigkeit sollten Kriege auch schon dienen, stellen sie doch die vermeintliche Totalität der Ungerechtigkeit dar. Nicht nur, weil geltendes Recht gebrochen wird, sondern auch, weil die Rechtsgültigkeit, die sich auf die Gleichheit, vor allem aber auf das nackte Leben beruft, konstitutiv im Krieg aufgehoben wird.

Die Formel der militärischen Verantwortung aus Wohlstand suggeriert desweiteren einen Anspruch der Veränderung. Kriege werden somit indirekt als heilsstiftend dargestellt, die in letzter Konsequenz eine größere Veränderung zum „Guten“ als zum „Bösen“ in sich tragen könnten. Der moralische Maßstab der Veränderung wird hierin nicht mitgeliefert, ebenso ist die Richtung der Veränderung unklar. Da jedoch einzig Wohlstand als materielles Größenmaß in der Formel Anklang findet, muss vermutet werden, dass es sich hierbei in erster Linie um materielle Veränderungen hin zu einem Mehr an Wohlstand handelt. Warum gerade Kriege, also letztlich die Zerstörung von Wohlstand, dieses Heilsversprechen erfüllen sollen, bleibt zweifelhaft. Zudem ist zerstörtes menschliches Leben unwiederbringlich verloren, weshalb sich insbesondere materielle Gegebenheiten als Impuls eines lebenslöschenden Eingreifens verbieten.

Zudem darf nicht die paternalistische Komponente der Verantwortung in diesem Zusammenhang vergessen werden. Es ist dabei nicht nur die Frage nach dem, wer für wen Verantwortung übernimmt, sondern insbesondere die Möglichkeit, überhaupt diese Frage stellen zu können. Die Adressierten der Kriege sind in der Wohlstandsformel nicht enthalten, weder als mögliche Gegenfragende, noch als mögliche Verneinende der Repräsentationsübernahme. Verantwortungsübernahme entmündigt, da es proklamiert, die Gegenüber könnten nicht ihrer eigenen Verantwortung gerecht werden. Dies ist insbesondere problematisch, weil sie durch potenziell tödliche Gewalt eingefordert wird. Die Einforderung geht dabei weit über das eigentliche Töten hinaus, weil es Entmündigung und Tod verbindet und damit die Auflösung des Menschlichen an sich. Susanne Kirchhoff zeigt in ihrer Untersuchung über Kriegsmetaphern im deutschen Mediendiskurs, dass in der Staatenwelt insbesondere militärische Stärke als Mündigkeitskriterium konstruiert wird. Deutschland werde daher auch gern als „Nesthäkchen“ dargestellt, das sich in der Familie der Staatenwelt gerade emanzipiere.[35] De Maizière greift in diesem Zusammenhang heute auch gern auf das Schröderwort der „erwachsenen Nation“ aus dem Vorfeld der deutschen Beteiligung 1999 am Kosovokrieg zurück.[36]

Verwendet wird aber der Begriff der Verantwortung nicht nur als politisch-mediales Schlagwort, auch in der „Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect, R2P) findet er seinen Widerhall. Die R2P hat ihren Ursprung im 2001 erschienen Bericht der Internationalen Kommission über Intervention und Staatssouveränität (ICISS). In veränderter Form wurde sie dann in das Abschlussdokument des UN-Millenniumsgipfel 2005 aufgenommen.[37] Eine zunehmende Etablierung erfuhr sie in der Legitimation des NATO-Einsatzes in Libyen in der dazugehörigen UN-Resolution 1973 des Sicherheitsrates sowie in der Resolution 1975 für den UN-Einsatz in der Côte d’Ivoire.[38]

Die R2P soll verstanden werden als eine militärische Problematisierung des Wechselspiels vom Wohlergehen der Zivilbevölkerung eines Staates auf der einen Seite und dessen Souveränität auf der anderen Seite. Ein Staat habe die Verantwortung, die Sicherheit seiner Bevölkerung zu wahren. Komme er dieser Verantwortung im Falle von verübtem Völkermord, ethnischen Säuberungen, schweren Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nach, wird er seiner Souveränität entbunden. Er muss nun damit rechnen, dass die „Weltgemeinschaft“ mit militärischer Gewalt interveniert und die Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung als Souveränin übernimmt. Souveränität wird dabei als Verantwortlichkeit anstatt der territorialen Integrität verstanden und damit eine wichtige Säule des Völkerrechts und der UN-Charta umgedeutet. Reinhard Merkel verweist auf die nicht unbegründete Wahrnehmung der R2P als „neuartigen Typus hegemonialen Rechts, das über den Sicherheitsrat eine leere Form von Legalität für die eigenen, von keinem Rechtsprinzip gedeckten Interessen zu mobilisieren versteht“.[39]

Verantwortung wird sowohl beim politischen Kampfbegriff als auch (zu großen Teilen) bei der R2P als Verantwortung durch militärische Gewalt verstanden. In Zeiten des Kalten Krieges hieß Verantwortung zwar „den Krieg zu denken“, ihn aber gerade deshalb unter keinen Umständen zu beginnen, weil dies die komplette Auslöschung der Menschheit bedeutet haben könnte.[40] Im 21. Jahrhundert hat sich diese Vorstellung jedoch diametral gewandelt: Verantwortung heißt Kriege wieder als Mittel der Politik zu denken. Das Militärische als Gedanken auszuschließen wird dabei schnell als Verantwortungslosigkeit abgestempelt, Frieden zu fordern als unrealistische Träumerei abgetan und Ziviles dem Militärischen vorzuziehen, als utopisch gebrandmarkt. Die politischen Reaktionen auf Margot Käßmanns Forderung, mit den Taliban doch lieber zu beten als sie zu bombardieren, sowie auf Guido Westerwelles Enthaltung zum Libyenkrieg, illustrieren diese Entwicklung eindrücklich.

Ziviles wird als „Gesinnungspazifismus“ ins Abseits gestellt und demgegenüber eine Webersche Verantwortungsethik militärischer Couleur ins Feld geführt. Dabei ist mehr als fraglich, ob gerade diese Zuordnung von Gesinnung und Verantwortung im Weberschen Sinne zutrifft. Zum ersten hat die Verantwortungsethik stets die langfristigen Folgen der Handlung in Betracht zu ziehen.[41] Allein im Libyenkrieg, mit zehntausenden Toten, der nachhaltigen Schädigung des Völkerrechts und Destabilisierung einer Großregion, ist dies sträflich unterlassen worden.[42]

Zum zweiten schreibt Weber, die Gesinnungsethik habe in letzter Konsequenz „jedes Handeln, welches sittlich gefährliche Mittel anwendet, zu verwerfen“.[43] Doch gerade hier zeige sich die Realität des plötzlichen Umschlagens zur Gewalt. Diese Gewalt sei dann eine letzte, eine äußerste Gewalt, die Frieden bringen soll. Jedoch wird aus der Verweigerung, einen „status-quo-Frieden“ ohne Gewinner zu akzeptieren, „der Frieden diskreditiert sein, nicht der Krieg“.[44] Die Weigerung der NATO in Libyen, Waffenstillstandsangebote anzunehmen[45] oder in Afghanistan mit den Taliban ernsthaft zu verhandeln, zeigt daher keine Verantwortungsethik, sondern einen Gesinnungsmilitarismus. Verantwortlich kann daher nur das Zivile sein, das z.B. mit den Instrumenten einer Zivilen Konfliktbearbeitung auf eine langfristige und nachhaltige Bearbeitung eines Konfliktes setzt.

Statt dem Militär jedes verantwortungsvolle Agieren in Fragen des Friedens abzusprechen, erfolgt in der weitgreifenden Verantwortungsrhetorik des Militärischen das Gegenteil. Dafür ist es jedoch notwendig, die Verantwortungslosigkeit des Zivilen – zumeist als utopischer Gesinnungspazifismus abgetan – zu verklären. Dem Zivilen wird das Zivilisierende abgesprochen und aus der Dringlichkeit heraus, schnell verantwortungsvoll handeln zu müssen, bleibt vermeintlich nur das Militärische als einzig stark institutionalisierte Option übrig. Das Militärische erfährt dadurch eine moralische Aufwertung und das Zivile trägt entscheidend zu dessen Legitimation bei, indem es zum Antipoden der Verantwortung stigmatisiert wurde.

 

2. Essenz- und Existenzkritik

In dieser Arbeit sollte dem Phänomen der Verkehrung der Kritikfunktion des Zivilen zur Legitimationsfolie für das Militärische nachgegangen werden. Dies wurde anhand der drei Beispiele der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit, des Dilemmas mit der Ultima Ratio und der Verantwortungsrhetorik untersucht. Dabei zeigte sich, dass in allen drei Fällen die Kritik durch das Zivile verkehrt und so dem Militärischen eine eigentümliche Legitimation verliehen wurde. Wie kann nun eine Perspektive des Widerstandes gegen diese diskursive Vereinnahmung des Zivilen aussehen, um damit gleichzeitig zu versuchen, dem „freundlichen Desinteresse“ am Zivilen eine produktive kritische Wendung gegen das Militärische zu verleihen?

Ein hilfreicher Versuch kann dafür die Einführung der Idee einer Essenzkritik und Existenzkritik sein. Die Essenzkritik bezeichnet die Kritik am Wesen der Sache selbst, also die inhaltliche Ausgestaltung dieser. Die Existenzkritik meint hingegen die Kritik der Sache an sich, also der generellen Berechtigung des Seins einer Sache. In den drei angeführten Beispielen wurde das Militärische nie in seiner Existenz, sondern lediglich in seiner Essenz, das Zivile hingegen in seiner selbstständigen Existenz, jedoch nicht in seiner Essenz kritisiert. Dieses Verhältnis gilt es umzukehren.

Dafür bedarf es einer doppelten Bewegung der Kritik. Diese muss die Essenzkritik des Militärischen (etwa wie Blauhelmeinsätze verbessert oder wie eine europäische Armee aufgebaut werden könne) in eine radikale Existenzkritik des Militärs überführen. Die doppelte Bewegung muss aber auch die Existenzkritik des Zivilen zu dessen Essenzkritik verschieben. Eine solche Essenzkritik des Zivilen sollte etwa Zivile Konfliktbearbeitung scharf kritisieren, so dass Lernprozesse für diese angestoßen werden und ein Diskurs über die Ausgestaltung des Zivilen stattfindet. Als Beispiele denke ich etwa an eine Kritik für eine verstärkte Evaluation des Zivilen Friedensdienstes unter postkolonialen Gesichtspunkten, um künftige Friedensdienste sensibler für lokale Belange zu gestalten.[46] Oder aber zu diskutieren, unter welchen Bedingungen die zivile Methode der Schützenden Begleitung ihre besten Wirkungen entfalten konnte, sowie über die beste Art und Weise der institutionellen Förderung und Reform des Zivilen zu streiten. Über die Grenzen des Zivilen zu sprechen ist dabei keine Essenzkritik, besteht eben gerade darin permanent die Gefahr des Rückgriffs zur Aufwertung des Militärischen.

Das Zivile muss die Existenzkritik des Militärischen bleiben, indem es dieses nicht zu zivilisieren versucht, sondern etwas Neues erschafft. Das Militärische wird damit nicht zerstört, es wird schlicht überflüssig, weil die hohen ethischen, wirtschaftlichen und sozialen Opportunitätskosten noch unbezahlbarer werden. Die radikale Existenzkritik des Militärischen gilt es daher verstärkt in den Blick zu nehmen und einem notwendigen und wichtigen Reagieren (etwa gegen den Afghanistankrieg) zusätzlich ein Agieren gegen die Verfasstheiten des Militärischen an sich auch im scheinbar Kleinen voran zu treiben. Das kann für die Friedensbewegung etwa die Forderung eines „Zivildienstes des Sports“ als Ersatz und schlussendlichen Abschaffung der Bundeswehrsportfördergruppen sein, oder das Aufdecken und Beenden der Bundeswehrzusammenarbeit mit Belarus, Jemen und vergleichbar repressiver Staaten. Das kann die Einforderung der Beendigung des teuren „Bundeswehrtourismus“ zu weltweiten Großübungen sein, oder die ersatzlose Abschaffung des Militärischen Abschirmdienstes und folkloristischer Bundeswehrabteilungen wie der zivil ersetzbaren Maultierstaffel in Bad Reichenhall oder den zahllosen Bundeswehrmusikzügen. Das „freundliche Desinteresse“ muss daher doppelt ersetzt sein. Zum einen durch ein „unfreundliches Interesse“ gegenüber dem Militärischen und zum anderen durch eine vermehrte essentielle Beschäftigung mit dem Zivilen inklusive der Entwicklung von Strategien gegen die Vereinnahmung durch das Militär.

 

Anmerkungen:


[1] Sylke Tempel (2011): Die dicke Berta der Debattenschlacht. Was uns Deutschen einfällt, um weder diskutieren noch mitmachen zu müssen. In: Internationale Politik (IP): Krieg und Frieden, November/Dezember 2011, Nr. 6, S. 144.

[2] Ebd.

[3] Vgl. Bruno Latour (2007): Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich: Diaphanes.

[4] Diesen vielzitierten Ausdruck prägte Horst Köhler am 10. Oktober 2005 bei einer Rede anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Bundeswehr. Damit wollte er auf das mangelnde Interesse der bundesdeutschen Bevölkerung an der Bundeswehr und insbesondere der deutschen Beteiligungen in Afghanistan und andernorts hinweisen (kritisch dazu Anna Geis (2007): Sicherheitsinteressen am Hindukusch – Desinteresse zuhause? In: Lutz Kleinwächter et al. (Hrsg.): Militärmacht Deutschland?: zur aktuellen Debatte um die Auslandseinsätze. WeltTrends-Papiere Band 5, Universitätsverlag Potsdam, S. 97-103).

[5] Harald Müller et al. (2010): Demokratie, Streitkräfte und militärische Einsätze: Der „zweite Gesellschaftsvertrag“ steht auf dem Spiel. HSFK-Report Nr. 10/2010: Frankfurt/M. URL: http://www.hsfk.de.

[6] Zum Demokratisierungsversuch der Streitkräfte vgl.: Jürgen Rose (2011): Demokratische Elemente in den Streitkräften, in: Bald et al.: Demokratie und Militär – Demokratie und Frieden, Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Heft 154, S. 25-30.

[7] Sönke Neitzel/ Harald Welzer (2011): Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Bonn: Bpb, S. 422.

[8] Michel Foucault (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 250.

[9] Lothar Brock zitiert nach: Thorsten Bonacker/Peter Imbusch (2006): Zentrale Begriffe der Friedens- und Konfliktforschung: Konflikt, Gewalt, Krieg, Frieden, S. 133. In: Peter Imbusch/Ralf Zoll (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 67-142.

[10] Angela Merkel (2011): Deutschland weiß um seine Verantwortung in der Welt, Rede der Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der Festveranstaltung „50 Jahre Bergedorfer Gesprächskreis“ der Körber-Stiftung am 9. September 2011 in Berlin. URL: http://www.bundeskanzlerin.de.

[11] Weißbuch (2006): Zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Bundesministerium der Verteidigung, Berlin, S. 25f.

[12] Ebd., S. 158.

[13] Michael Paul (2009): Zivil-militärische Interaktion im Auslandseinsatz, S. 30. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 48/2009: Bundeswehr, BpB, S. 29-35.

[14] Michael Brzoska/Hans-Georg Ehrhart (2008): Zivil-militärische Kooperation in Konfliktnachsorge und Wiederaufbau. Stiftung Entwicklung und Frieden, Policy Paper 30, Bonn, S. 2; Paul 2009, S. 35.

[15] Hans-Joachim Preuß (2008): Zivil-militärische Zusammenarbeit in Afghanistan. Eine Zwischenbilanz, S. 30f. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Ausgabe 1/2008, S. 26-35.

[16] Ebd.; Brzoska/Ehrhart (2008): 10; Jürgen Wagner (2010): Zivil-militärische Zusammenarbeit. Europas imperiale Machtpolitik aus einem Guss. Rosa Luxemburg Stiftung, URL: http://www.rosalux.de, S. 7.

[17] Uwe Backes (2006): Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis in die Gegenwart. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 51.

[18] Ebd.

[19] Herfried Münkler (2010): Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung. Berlin: Rowohlt, S. 14.

[20] Ebd.

[21] Lothar Rühl (2002): Interventions- und Eskalationsproblematik bei der militärischen Konfliktbewältigung. Die Ultima ratio des bewaffneten Eingriffs als Mittel der Sicherheitspolitik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 24/2002: Sicherheitspolitik, BpB. URL: http://www.bpb.de. Später wurde dieser Ausspruch auch bei der Kanonengravur Friedrich II. als „ultima ratio regis“ weiterverwendet.

[22] Herfried Münkler (2006): Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie. Weilerswist: Velbrück, S. 306.

[23] Thomas de Maizière (2011a): Die Armee ist kein gepanzertes technisches Hilfswerk, Interview von Henning Hoff et al, S. 15. In: Internationale Politik (IP): Krieg und Frieden, November/Dezember 2011, Nr. 6, S. 10-16.

[24] Michael Walzer (2004): Die Debatte um humanitäre Interventionen. In: polylog: Forum für interkulturelle Philosophie 5/2004. URL: http://them.polylog.org; ders. (2006): Just and Unjust Wars. A Moral Argument with Historical Illustrations. New York: Basic Books, S. 105f.

[25] Lesenswert hierzu die Untersuchung von Michael Schwab-Trapp (1999): Srebrenica – ein konsensbildendes Ereignis? Diskursive Eliten und der Diskurs über den Jugoslawienkrieg, in ders./Sighard Neckel (Hrsg.): Ordnungen der Gewalt: Beiträge zur politischen Soziologie der Gewalt und des Krieges. Opladen: Leske und Budrich, S. 119-129.

[26] Reinhard Merkel (1999): Das Elend der Beschützten. Der Nato-Angriff ist illegal und moralisch verwerflich. In: Die Zeit, 20/1999. URL: http://www.zeit.de; PROKLA (2011): Editorial – Nie wieder Krieg?, S. 3. In: PROKLA 162, 41. Jahrgang, Nr. 1. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 2-6.

[27] Martin Quack (2009): Ziviler Friedensdienst: Exemplarische Wirkungsanalysen. Wiesbaden: VS Verlag, S. 433.

[28] Slavoj Žižek (2011): Gewalt. Sechs abseitige Reflexionen. LAIKAtheorie: Hamburg, S. 13f.

[29] Mit einem ähnlichen Plädoyer Nichthandelnd den Rahmen des Krieges abzulehnen vgl. Judith Butler (2011): Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt/New York: Campus, S. 170.

[30] Walzer (2006): 333.

[31] Anna Geis/Harald Müller/Niklas Schörnig (2010): Liberale Demokratien im Krieg. Warum manche kämpfen und andere nicht. Ergebnisse einer vergleichenden Inhaltsanalyse von Parlamentsdebatten, S. 192. In: Zeitschrift für internationale Beziehungen 17:2, S. 171-201.

[32] Thomas de Maizière (2011b): Internationale Verantwortung wird stärker. Interview mit Robert Birnbaum und Hans Monath vom 26.8.2011 für den Tagesspiegel. URL: http://www.bundesregierung.de.

[33] Wolfgang Ischinger (2011): Die Last der Verantwortung, Monthly Mind Mai 2011 der Münchner Sicherheitskonferenz, URL: http://www.securityconference.de.

[34] Michael Schulze von Glaßer (2010): An der Heimatfront. Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchswerbung der Bundeswehr, Köln: Pappy-Rossa, S. 79. Zur „Ossifizierung“ der Bundeswehr die bemerkenswerte Debatte Wolffsohn/de Maizière: Michael Wolffsohn/Maximilian Beenisch (2011): Stirbt in Zukunft nur der Osten fürs Vaterland?, Die Welt vom 4.4.2011; Thomas de Maizière (2011c): Die Bundeswehr ist keine Unterschichtarmee!, Die Welt vom 12.4.2011, URL: http://welt.de.

[35] Susanne Kirchhoff (2010): Krieg mit Metaphern. Mediendiskurse über 9/11 und den „War on Terror“. Bielefeld: transcript, S. 241.

[36] Thomas de Maizière (2011a): S. 11; Gerhard Schröder (1998): Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 10. November 1998 vor dem Deutschen Bundestag, URL: http://archiv.bundesregierung.de.

[37] Michael Haid (2011): Die „Responsibility to Protect“. Kriegslegitimation unter Missbrauch der Menschenrechte?, S. 19. In: AUSDRUCK, August 2011, IMI-Analyse 2011/032, S. 17-23.

[38] Ebd.

[39] Reinhard Merkel (2011): Der illegitime Triumph. Warum die Nato-Intervention in Libyen Grundlagen des Völkerrechts beschädigt. In: Die Zeit, 8.9.2011, Nr. 37. URL: http://www.zeit.de; mit ähnlichen Bedenken: Lothar Brock (2009): Protecting People. Responsibility or Threat?, S. 232f. In: Michael Brozoska/Axel Kron (Hrsg.): Overcoming Violence in a Complex World? Opladen und Farmington Hills: Budrich, S. 223-242.

[40] Christopher Daase (1999): Kleine Kriege – Große Wirkung. Wie unkonventionelle Kriegsführung die internationale Politik verändert. Baden-Baden: Nomos, S. 12, FN 4.

[41] Max Weber (1919): Politik als Beruf. München und Leipzig: Duncker & Humblot, S. 57f.

[42] R. Merkel (2011).

[43] Weber (1919), S. 58.

[44] Ebd.

[45] R. Merkel (2011).

[46] Ich danke Sarah Roßa für die Idee der postkolonialen Evaluation.