IMI-Standpunkt 2007/017 - in: SoZ, März 2008
Afghanistan: Deutsche Militärtradition
von: Claudia Haydt | Veröffentlicht am: 12. März 2008
Deutsche Soldaten haben schon im Zweiten Weltkrieg in Afghanistan Dienst getan. Ihr Aufgabenprofil hat sich gegenüber heute wenig verändert. Im KSK werden die Aktionen von früher kriegsgeschichtlich aufgearbeitet, um aus Erfolgen und Niederlagen Schlussfolgerungen ziehen zu können.
Die Präsenz der ISAF-Schutztruppen in Afghanistan ist heute der größte — und wahrscheinlich riskanteste — unter den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. 26 ISAF Soldaten kehrten bereits in Zinksärgen aus Afghanistan zurück. Wieviele Todesopfer die parallel in Afghanistan operierenden Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) zu verzeichnen haben, wird von der deutschen Regierung als Verschlusssache behandelt. Angaben über Opferzahlen bei den gegnerischen Kräften in Afghanistan oder gar unter der Zivilbevölkerung gibt es ebenfalls nicht. Auf dem internationalen Friedhof in der afghanischen Hauptstadt Kabul gibt es jedoch ein Grab, das viel verrät über die Gegenwart und die Vergangenheit deutscher Militärpräsenz in Afghanistan.
Der 1941 verstorbene Deutsche Manfred Oberdörfer war Angehöriger der „Brandenburger“, einer Spezialeinheit der Wehrmacht, die während des Zweiten Weltkriegs in Afghanistan aktiv war. Dieser weitgehend unbekannte Abschnitt deutscher Kriegsgeschichte spielt jedoch für manche Angehörige des Kommandos Spezialkräfte noch heute eine besondere Rolle.
Terroreinheiten der Wehrmacht
Innerhalb der Wehrmacht wurde zu Beginn des Zweiten Weltkriegs eine Sondereinheit aufgestellt, die der Abteilung Abwehr unterstellt wurde. Sie hatte einerseits die Funktion militärische Kommandounternehmen hinter feindlichen Linien durchzuführen und diente außerdem dazu, im Ausland Spitzel und Agenten eine Organisationsplattform zu geben. Der Historiker Hans Bentzien erläuterte in seinem Buch „Die Brandenburger“ (Berlin 2004) sehr eindrücklich, wie diese Einheit an Kriegsverbrechen der Wehrmacht beteiligt war und deren blutige Spuren sich durch Asien, Afrika und Europa zogen. Sie waren verantwortlich für Sabotageakte, Morde und andere Formen des militärischen Terrorismus. Mit besonderer Grausamkeit bekämpften sie Partisanen im Balkan und in Griechenland. Sie wurden „geradezu als Spezialtruppe für den Partisanenkrieg begriffen“ (Thomas Menzel, Die Brandenburger, www.bundesarchiv.de).
Die Brandenburger waren auch in Afghanistan, im Iran und in vielen Teilen Zentralasiens aktiv. Die Präsenz der „Brandenburger“ in Afghanistan diente vor allem zwei Zielen: Sabotageakte gegen sowjetische Einrichtungen und Anheizen des Widerstands gegen die britische Kolonialmacht in Indien (also vor der Gründung Pakistans). Es ging dabei in dieser — auch damals schon — geostrategisch wichtigen Region darum, die militärischen Gegner zu schwächen und eigene Allianzen zu schmieden. Auch wenn es glücklicherweise keine militärische Relevanz mehr erlangte so waren doch Pläne, wie die Aufstellung einer „Legion freies Indien“ bestehend aus Tausenden von indischen Deserteuren, für die Umsetzung deutscher Großmachtansprüche.
Militärisch erfolgreicher waren Anschläge gegen sowjetische Grenzposten, Eisenbahninfrastruktur und Kraftwerke. Auch britische Infrastruktur fiel den terroristischen Kommandounternehmungen zum Opfer. Die Spezialisten der Brandenburger, die all diese Aktivitäten unterstützten oder selbst durchführten, starteten 1941 die Operation Tiger. Dazu wurde eine Gesandtschaft nach Kabul abgeordnet um dort einen Stützpunkt für die Abwehr einzurichten, der dann als Basis für geheimdienstliche Operationen gegen Britisch- Indien dienen sollte. Um geheim agieren zu können, reisten die „Brandenburger“ unter falschen Angaben ein.
Der oben erwähnte Manfred Oberdörfer reiste als Mitglied einer „Lepra-Studiengruppe“ ein. Er trug damit, wie viele seiner Kollegen, dazu bei, dass Kombattanten und Zivilisten nicht mehr unterscheidbar waren. Ein Problem, dass es auch heute bei Einsätzen von (US-amerikanischen und anderen) Sondereinheiten in Afghanistan gibt. Sie sind häufig in neutralen Geländefahrzeugen unterwegs und dadurch zumindest aus der Entfernung nicht von Fahrzeugen der Hilfsorganisationen zu unterscheiden. Manfred Oberdörfer überlebte seinen Einsatz nicht. Die Aktivitäten der „Brandenburger“ konnten dennoch Erfolge verzeichnen. Sie rekrutierten etwa weißgardistische Emigranten für Sabotageakte gegen die Sowjetunion oder halfen bei der Ausbildung von Guerillatruppen im indisch-afghanischen Grenzgebiet.
Traditionen und Gegenwart
Das Aufgabenprofil der Brandenburger damals und des KSK heute ist zwar nicht unbedingt vergleichbar, es gibt aber Elemente, die Traditionslinien aus Sicht mancher Kommandosoldaten offensichtlich attraktiv machen. Die Parole der Kommandosoldaten lautet: „Klagt nicht, kämpft!“ Diese Haltung als entschlossene und zähe Kämpfer ist ein wichtiger Teil der Identität der KSK-Soldaten. Die Brandenburger waren hinter feindlichen Linien aktiv, heute redet man von Aktionen „in der Tiefe des feindlichen Raumes“.
Vergleichbare Aktivitäten damals wie heute sind etwa das Ausspähen und die Durchführung von Operationen gegen feindliche Stellungen. Das „Eindringen“ in feindliches Territorium ist auch heute fester Bestandteil des Berufsbilds eines Kommandosoldaten, z.B. durch Fallschirmsprung, über Gebirge oder über diverse maritime Techniken, wie das Tauchen in feindlichen Häfen oder das Anlanden mit Schnellbooten.
Wenn ein Kommandosoldat „in der Tiefe des feindlichen Raumes“ unterwegs ist, um etwa herauszufinden, wo gekidnappte Kollegen versteckt gehalten werden, dann ist jeder Zivilist, der den Soldaten dabei entdeckt, ein möglicher Gegner. Der Kommandosoldat kann nie wissen, ob er einen einfachen Hirten getroffen hat oder es sich um jemanden handelt, der zum organisierten Widerstand gehört. Aber selbst wenn es „nur“ ein Hirte ist, wird dieser wahrscheinlich zu einem späteren Zeitpunkt anderen Personen begegnen und diesen von seinem Zusammentreffen mit den feindlichen Soldaten erzählen. Dadurch wäre der Auftrag des Kommandosoldaten gefährdet.
Jeder Zivilist ist also ein potenzieller Feind, wobei es dabei durchaus wahrscheinlich ist, dass ein solcher eliminiert wird. Dies findet natürlich nicht in jedem Fall statt. Immer wieder werden Kommandounternehmen auch abgebrochen. Kommandosoldaten beschließen durchaus immer wieder, ihre potenziellen Gegner nach einem sog. „soft compromise“ nicht zu eliminieren, sondern die Aktion abzubrechen. Ein „soft compromise“ ist die (vermutete) Entdeckung durch feindliche Kräfte, ein „hard compromise“ hingegen ein potenziell tödliches Gefecht mit den feindlichen Kräften. Dennoch stehen die Soldaten regelmäßig im Zwiespalt zwischen erfolgreicher Durchführung ihrer Operation und moralischen (und völkerrechtlichen) Erwägungen. Jenseits der Frage nach individueller Schuld und Verantwortung stellt es ein gravierendes politisches Problem dar, wenn Soldaten vor solche Entscheidungssituation gestellt werden.
Es gibt Berichte darüber, dass innerhalb des KSK die Aktionen der Brandenburger kriegsgeschichtlich aufgearbeitet werden, um aus deren Erfolgen und Niederlagen Schlussfolgerungen für eigene Taktiken ziehen zu können. Das spezielle Traditionsbewusstsein mancher KSK-Soldaten führte gelegentlich auch zu offenen Skandalen. So brachten KSK-Soldaten während der Vorbereitung auf den Afghanistaneinsatz in Masirah im Oman auf einem Jeep Rommels Afrikapalme an. Dabei wurde lediglich das Hakenkreuz durch das Bundeswehremblem ersetzt — der Positivbezug auf die Wehrmachttradition war dennoch eindeutig.
Von 2000 bis 2003 war Reinhard Günzel Kommandeur des KSK. Er wurde entlassen, da er einen Brief zur Unterstützung des CDU-Abgeordneten Hohmann verfasst hatte,der in einer Rede „die Juden“ mit dem Begriff „Tätervolk“ zusammenbrachte.* Anfang 2007 veröffentlicht Günzel das Buch Geheime Krieger gemeinsam mit dem GSG9- Gründer Ulrich Wegener und dem ehemaligen Wehrmachtsoffizier Wilhelm Walther. In diesem Buch erläutert Günzel:
„Die Kommandosoldaten wissen genau, wo ihre Wurzeln liegen … Die Einsätze der ‘Brandenburger‘ … gelten der Truppe geradezu als legendär … Das Selbstverständnis der deutschen Kommandotruppen hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht geändert.“ All das sind Äußerungen des Mannes, der drei Jahre Chef der Kommandosoldaten in Calw war, genau während der Zeit, in der die ersten Afghanistaneinsätze und auch die möglichen Übergriffe gegen Murat Kurnaz stattfanden.
Es gibt viele Hinweise darauf, dass diese Einstellungen „Papa Günzels“ (wie in vielen Kommandosoldaten anerkennend nannten) im KSK bekannt waren und von einigen geteilt wurden. Da die Brandenburger nicht Teil der SS sondern Teil der Wehrmacht waren, wurde auch an dem Mythos gearbeitet, dass dieser Truppenteil „kein Blut an den Händen“ gehabt hätte und deswegen ein positiver Bezug möglich sei. Es ist Aufgabe der Bundeswehr dieses gefährliche Traditionsverständnis zu korrigieren.
Grauzone zu Nachrichtendiensten
Die Brandenburger waren direkt integriert in die Abwehr und hatten damit erklärtermaßen nachrichtendienstliche Aufgaben. Aufgrund des Trennungsgebots zwischen Polizei, Militär und Nachrichtendiensten ist diese direkte Kooperation heute nicht mehr möglich. Es gibt dennoch eine Grauzone zwischen der Bundeswehr im Einsatz (besonders dem KSK) und den Nachrichtendiensten. Der Arbeitsalltag der Eliteeinheit im Auslandseinsatz besteht häufig aus Aufklärung und Informationsbeschaffung.
Ähnliche Aufgaben haben auch die Nachrichtendienste. Im Jahr 2002 arbeitete etwa das KSK in Kandahar eng zusammen mit einem Verbindungselement des ZNBw/ANBw (Zentrums für Nachrichtenwesen der Bundeswehr; bis 2002 Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr), einem Bundeswehr internen quasi Nachrichtendienst, der Ende 2007 wegen seiner strittigen rechtlichen Konstruktion aufgelöst werden musste. Die Mitarbeiter des ZNBw/ANBw arbeiteten während ihres Einsatzes in Afghanistan meist mit den BND-Repräsentanten in den gleichen Räumlichkeiten.
Wie sich die Zusammenarbeit der KSK- Soldaten in den Jahren 2001—2003 in Afghanistan mit den Nachrichtendiensten gestaltete, wird nur noch schwer nachvollziehbar sein, da durch die sog. Jasmin-Panne wesentliche Aufzeichnungen des Zentrums für Nachrichtenwesen der Bundeswehr angeblich versehentlich zerstört wurden. Durch Veröffentlichungen des DSO-Kommando-Soldaten Achim Wohlgethan (Endstation Kabul, 2008) wurde immerhin dokumentiert, dass es 2002 in Afghanistan Kooperationen zwischen dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) und der Bundeswehr gab — obwohl der MAD überhaupt erst seit 2004 im Ausland eingesetzt werden durfte und das auch nur innerhalb von Bundeswehrliegenschaften. Von einer Trennung zwischen Armee und Geheimdiensten kann wohl definitiv nicht die Rede sein.
Militärische Einsätze sind Teil des Problems
Das Grab von Manfred Oberdörfer gibt es heute noch, es wird regelmäßig gepflegt von Angehörigen der ISAF-Truppe und von KSK- Soldaten. Je mehr in der Bundeswehr Krieg- und Besatzung zur Normalität wird, umso verlockender wird es für deutsche Soldaten und auch manche ihrer Vorgesetzten, sich auf Traditionen früherer Einsätze zu besinnen. Dieses gefährliche Wiederaufleben deutscher Militärtraditionen ist ein wichtiger Grund für die Forderung nach einem sofortiger Abzug deutsche Truppen aus dem Auslandseinsatz — ganz besonders aber für die Auflösung des Kommandos Spezialkräfte. Militärische Einsätze lösen keine Probleme — sie sind selbst Teil des Problems.
* Diese Passage mußte 2012 aufgrund einer Abmahnung durch den Anwalt von Herrn Hohmann geändert werden – siehe hierzu den IMI-Standpunkt „In eigener Sache“ 2012