IMI-Standpunkt 2007/043
"ISAF-Einheiten sind längst eine Kampftruppe"
Interview in: Junge Welt, 23.05.2007
von: Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 24. Mai 2007
Afghanistan: Bundeswehrsoldaten sind keine Entwicklungshelfer, sondern im Kriegseinsatz. Ein Gespräch mit Tobias Pflüger
Markiert der Tod dreier deutscher Soldaten durch ein Selbstmordattentat in Kundus vielleicht den Anfang vom Ende des deutschen Einsatzes in Afghanistan?
Das hoffe ich sehr. Ich gehe davon aus, daß immer mehr Menschen deutlich wird, daß die Bundeswehrsoldaten in Afghanistan nicht als zivile Entwicklungshelfer agieren, sondern voll involviert sind in den Krieg. Die ISAF-Einheiten (»Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan«, jW) haben sich längst von einer sogenannten Stabilisierungs- zu einer Kampftruppe entwickelt. Mit dem Einsatz von »Tornado«-Jets ist Deutschland jetzt auch unmittelbar als Kriegshelfer aktiv.
Gleichwohl beharren die Verantwortlichen darauf, daß die NATO-»Schutztruppe« mit der US-geführten Operation Enduring Freedom (OEF) nichts zu tun hätte.
Für mich ist diese – im übrigen speziell deutsche – Lesart schlechthin die Lebenslüge des ISAF-Einsatzes. Bereits vor zwei Jahren hat mir der politische Vertreter der NATO für Afghanistan, Hikmet Cetin, im Auswärtigen Ausschuß dargelegt, daß ISAF und OEF aufs engste zusammenarbeiten. Heute gilt das noch mehr als damals: Inzwischen werden beide Einsätze von demselben US-amerikanischen Oberbefehlshaber geleitet. Es besteht zwischen den Operationen ein intensiver Informationsaustausch, auch die jeweiligen – eben kriegerischen – Aktivitäten gehen ineinander über. Es steht außer Frage: Beides sind Kriegseinsätze, an beiden sind deutsche Truppen beteiligt. Wer weiterhin anderes behauptet, verkauft die Bevölkerung vorsätzlich für dumm.
Seit dem Attentat in Kundus flimmern über alle Kanäle Bilder von Bundeswehrsoldaten, die suggerieren, die Deutschen wären den Einheimischen die liebsten Freunde. Haben Sie andere Informationen?
Die Bundeswehr hat im Norden im wesentlichen vier Aufgaben: Patrouillen, die Ausbildung der afghanischen Armee, den Lufttransport von Verletzten und – was ganz entscheidend ist – die Versorgung sämtlicher Truppen, nicht nur der deutschen, auf dem Luftweg, ausgehend insbesondere von Termez in Usbekistan. Deutschland unterhält dort als einziger verbliebener militärischer Bündnispartner des Regimes von Islam Karimow einen Militärstützpunkt. Karimow ist weltweit geächtet und isoliert, die EU hat gegen Usbekistan Sanktionen verhängt, seit im Mai 2005 Truppen in der Provinzstadt Andischan mehrere tausend Menschen zusammenschossen. Wir fordern deshalb schon lange die Schließung des deutschen Stützpunktes, ohne den der gesamte Afghanistan-Einsatz, so wie er momentan läuft, nicht mehr möglich wäre.
Wissen Sie, wo und wie das deutsche Kommando Spezialkräfte (KSK) eingesetzt wird?
Nach meinem Informationsstand war das KSK seit Antritt der CDU-SPD-Bundesregierung nicht mehr bei der Operation Enduring Freedom in Afghanistan aktiv. Dafür allerdings im Rahmen von ISAF zum Beispiel im Oktober 2006. Das erklärt sich damit, daß das Kriegführen inzwischen auch Sache der ISAF-Truppen ist. Und das KSK ist bei anderen Bundeswehreinsätzen aktiv, etwa mit 25 Mann im Kongo, wie ich bei einem Besuch der EUFOR-Truppen dort erfahren hatte.
Ein beliebtes Argument für den Verbleib in Afghanistan ist die These, daß man die Afghanen nicht sich selbst, den Taliban und Warlords überlassen dürfe. Was halten Sie dem entgegen?
Zunächst erachte ich die Leistungen in punkto Wiederaufbau für nicht annähernd so groß, wie behauptet wird. Zweitens gibt es keine schlechteren Bedingungen für den Aufbau von Zivilgesellschaft und Demokratie als das alltägliche Totbomben unschuldiger Zivilisten durch ihre sogenannten Befreier. Allein im vergangenen Jahr sollen in Afghanistan mindestens 4400 Zivilisten getötet worden sein. Drittens glaube ich, daß die Lage weiter eskalieren wird, auch unter aktiver Beteiligung der Bundeswehr, insbesondere im Süden. Deshalb kann es nur eine Lösung im Sinne der deutschen Soldaten und der afghanischen Bevölkerung geben: den Abzug der Truppen. Die Forderung der Friedensbewegung muß lauten: Ende aller deutschen Auslandseinsätze, angefangen mit Afghanistan.
Interview: Ralf Wurzbacher