IMI-Analyse 2007/016 - in: Zeitung gegen den Krieg (ZgK)
Deutsche Dominanz in der Europäischen Union
Merkel will dafür EU-Verfassung retten
von: Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 6. April 2007
Bundeskanzlerin Angela will während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft einen Fahrplan vorlegen, wie der EU-Verfassungsvertrag, der in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt wurde, doch noch durchgesetzt werden kann. Es gehe um die “Handlungsfähigkeit der Europäischen Union”, betonte Merkel. Der Vertrag soll bis zur nächsten Wahl zum Europaparlament im Juni 2009 in allen EU-Staaten ratifiziert werden. Dabei wird inzwischen selbst der Begriff Verfassung fallengelassen. EU-Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering sagte der Wochenzeitung “Das Parlament”: “Wenn es der Lösung dienlich ist, daß der Begriff nicht mehr Verfassungsvertrag ist, sondern er vielleicht Vertrag für die Zukunft Europas heißt, wäre das auch in Ordnung.” Auf jeden Fall solle man aber den Inhalt des Vertragswerks retten –vielleicht, so Vorschläge von CDU bis Grünen – ergänzt um eine unverbindliche Sozialcharta.
Warum wollen die allermeisten EU-Akteure den gescheiterten Vertrag retten, auch gegen die Referenden in Frankreich und den Niederlanden? Das hat im Wesentlichen zwei Gründe: 1. Der EU-Verfassungsvertrag bietet andere, für die großen Mitgliedstaaten deutlich vorteilhaftere, Entscheidungsmechanismen. Das Kerneuropakonzept würde damit de facto eingeführt. 2. Der EU-Verfassungsvertrag bietet den EU-Eliten die Möglichkeit, die Europäische Union zu einem militärisch basierten weltweiten imperialen Akteur zu machen.
EU und NATO sollen sich ergänzen
Im EU-Verfassungsvertrag sind eine ganze Reihe von Festlegungen für eine Militarisierung der Außenpolitik der Europäischen Union enthalten. Das ist neben der Festschreibung der “offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb” (Art. 177, 178) die inhaltliche Kernsubstanz des Vertrages. Das Europäische Parlament stellte am 9. Dezember 2004 – analytisch richtig – im sogenannten Corbett Mendez de Vigo-Bericht fest: “Die meisten Fortschritte gewährt die Verfassung im spezifischen Bereich der Gemeinsamen Sicherheitspolitik.” Neben dem berühmt-berüchtigten Artikel I-41(3), der eine Aufrüstungsverpflichtung festschreibt, (“Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.”) gibt es weitere zentrale Festschreibungen einer neuen Militärpolitik der EU: im Artikel III-309 die so genannten Petersberg-Aufgaben, die es bisher schon gab, festgeschrieben und ergänzt durch weitere militärische Optionen der Europäischen Union, sogenannte militärische Abrüstungsmaßnahmen. Damit ist gemeint, daß mit militärischen Mitteln der EU andere Staaten “abgerüstet” werden sollen.
Außerdem ist im EU-Verfassungsvertrag die Regelung enthalten, daß Unterstützung für Drittländer geleistet wird “bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.” Mit dem Verfassungsvertrag soll die sogenannte Rüstungsagentur auf vertragliche Beine gestellt werden. Im Artikel I-41(2), der in der französischen Debatte eine wichtige Rolle gespielt hat, wird der NATO eine Rolle im EU-Verfassungsvertrag eingeräumt. Es wird darauf verwiesen, daß die EU-Militärpolitik völlig kompatibel sein muß mit der NATO-Politik. Der stellvertretende NATO-Generalsekretär Martin Erdmann kündigte im Unterausschuss Sicherheit und Verteidigung eine noch engere Zusammenarbeit zwischen EU und NATO an, die über die bisherige Berlin-Plus-Vereinbarung weit hinausgehe. Ganz im Sinne von Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der in einem Beitrag zur sogenannten Münchner Sicherheitskonferenz in der “Süddeutschen Zeitung” geschrieben hatte: “NATO und EU haben einen legitimen Platz in der Sicherheitsarchitektur von heute. Sie sind keine Konkurrenten, sondern ergänzen sich. Nur gemeinsam, im Verbund von NATO und EU, können Europa und Nordamerika ihre Vorstellung von Sicherheit glaubwürdig in die Welt projizieren.”
Im Artikel III-304 wird festgehalten, daß das Europäische Parlament im Bereich der Außen- und Militärpolitik lediglich “auf dem Laufenden” gehalten werden muß. Eine Entscheidungsgewalt zu diesem Themenbereich gibt es für das Europäische Parlament nicht. Artikel III-376 regelt, daß der Europäische Gerichtshof ebenfalls nicht zuständig ist für den Bereich der Außen- und Militärpolitik. Ebenfalls im Artikel I.43 wird eine sogenannte militärische Solidaritätsklausel in der EU festgeschrieben. Dieser militärische Beistand geht sogar über den militärischen Beistand der NATO hinaus.
Eine Option für die EU-Eliten
Die wohl wichtigste Neuregelung des Verfassungsvertrages im Militärbereich ist aber die “Strukturierte Zusammenarbeit”. Sie beinhaltet, daß einzelne Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die, “untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind”, militärpolitisch vorausgehen können, und die anderen Mitgliedsstaaten haben nur die Chance einer sogenannten konstruktiven Enthaltung. Im Militärbereich, wo weitestgehend das Einstimmigkeitsprinzip gilt, bezieht sich dies also bezüglich der “Strukturierten Zusammenarbeit” nur auf die Länder, die an dieser auch teilnehmen. Die sogenannte Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) sieht 19 (offiziell 13) Battle-Groups (Schlachttruppen) à 1.500 Soldaten vor sowie das European Rapid Reaction Corps mit 60.000 Soldaten. Wenn einzelne Staaten gemeinsame militärische Aktionen durchführen wollen und dafür das Votum vom Ministerrat bekommen, liegt die Durchführung ausschließlich in den Händen derjenigen, die an den Aktionen teilnehmen. Die anderen können sich nur konstruktiv enthalten. Das ist die Festschreibung eines militärischen Kerneuropas. Es ist völlig klar, wer diese Option hauptsächlich in Anspruch nehmen wird: Deutschland, Frankreich und Großbritannien.
In meiner Arbeit im Unterausschuss Sicherheit und Verteidigung des Europäischen Parlaments habe ich noch einen weiteren wesentlichen Grund erfahren, warum für eine Militarisierung der EU der Verfassungsvertrag so bedeutend ist: Der geltende Nizza-Vertrag verbietet einen eigenständigen Militärhaushalt. Derzeit wird bei der Finanzierung der Militäreinsätze vielfach getrickst: Es gibt den sogenannten ATHENA-Mechanismus; hier zahlen die EU-Mitgliedsstaaten Geld in einen Topf, aus dem dann die Einsätze z.B. in Bosnien oder im Kongo finanziert werden. Es handelt sich dabei explizit nicht um einen EU-Haushalt. Andere ESVP-Missionen werden sogar über den Entwicklungsfonds (mit)-finanziert.
Daß es bei der Etablierung des EU-Verfassungsvertrages insbesondere um die Militärpolitik geht, zeigt auch eine gemeinsame “Schriftliche Erklärung” von Ende 2006 von Elmar Brok, Nicole Fontaine, Bronisław Geremek, Jo Leinen und Íñigo Méndez de Vigo, die die EU zu einer “Union der Außenpolitik, der Sicherheit und der Verteidigung” machen wollen. In der Erklärung heißt es: “… ist der Auffassung, daß sie in jedem Fall aus folgenden Instrumenten bestehen sollte: einem europäischen Außenminister, Vizepräsident der Kommission, der von einem europäischen diplomatischen Dienst sowie einem stellvertretenden Minister für Verteidigung unterstützt wird; integrierten Botschaften und Konsulaten; einer gemeinsamen Rüstungspolitik und einer gemeinsamen Programmfinanzierung; gemeinsamen Verteidigungskräften, die in der Lage sind, der Europäischen Union die echte Fähigkeit zu autonomem Handeln zu verleihen; (…) ist der Auffassung, daß der Entwurf des Verfassungsvertrags einen wichtigen Schritt in diese Richtung darstellt”.
Wer nun den Vorschlag macht, den Verfassungsvertrag mit Streichung des Artikels 41(3) und des Teiles III zu akzeptieren, der akzeptiert alle genannten Regelungen der Militarisierung. Der EU-Verfassungsvertrag muß vollständig abgelehnt werden. Damit das große Fest zu 50 Jahren Römische Verträge kein Leichenschmaus wird, ist eine (neue) Kampagne gegen den EU-Verfassungsvertrag notwendig, die genau zu dem Zeitpunkt wirksam wird, wenn die deutsche Ratspräsidentschaft ihren Fahrplan präsentiert, am 27. Juni. Dabei müssen alle linken und friedensbewegten Kräfte zusammenarbeiten.
Tobias Pflüger ist Mitglied der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke im Europäischen Parlament und Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.