IMI-Studie 2007/06

Polizeistaat, Ausnahmezustand oder Kriegsrecht?

Eine Diskursanalyse zum Einsatz der Bundeswehr im Innern von 2001 bis 2006

von: Michael Haid | Veröffentlicht am: 4. April 2007

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Studie von Michael Haid

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Einleitung:

„Innenpolitisch sind die Streitkräfte ein klassisches Instrument der Substituierung und Beendigung politischer Prozesse durch Gewalt“ (Kommentar zum Grundgesetz 1989: Art.87a Rn. 24).

Diese Erkenntnis stammte aus den Erfahrungen des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus (vgl. Wieland 2004: 170; Nitschke 2000). Sie führte 1968 – als trotzdem die Bundeswehr 1956 aufgestellt worden war – zu einem besonderen Anspruch des Grundgesetzes: Soldaten durften im Innern nur unter ganz bestimmten Umständen tätig werden, ein generelles Verbot existierte allerdings nicht mehr. Diese Regelung ist im Vergleich der EU-15 (bis auf Spanien) einmalig (vgl. Knelangen 2006: 253 ff.).

Der Bundeswehreinsatz im Innern ist nach den Vorgaben der Rechtsprechung nur im Ausnahmefall zulässig und begründet die Verpflichtung, den Einsatz auf das Äußerste zu begrenzen und beim Wegfall der Erforderlichkeit unverzüglich abzubrechen. Im Zweifel sind die Einsatzmöglichkeiten der Armee außerhalb des Verteidigungsauftrags eng auszulegen und nur als „ultima ratio“ anzusehen. Ferner besitzt die Bundeswehr keinesfalls eigenständige Kompetenzen (außer im Spannungs- oder Verteidigungsfall), sondern ist den zivilen Behörden zu- und untergeordnet (vgl. Schmidt-Bleibtreu/Klein 2004: Art. 87a Rn. 2; Knelangen 2006: 260). Die nachfolgenden Geschehnisse suggerieren ein anderes Bild.

Der Ex-General und brandenburgische CDU-Innenminister Jörg Schönbohm spricht öffentlich von einem „terroristischen Spannungsfall“ (2006), in dem sich die Bundesrepublik seit den Anschlägen des 11. Septembers 2001 in New York und Washington befinde. Er skizzierte auf dem europäischen Polizeikongress 2006 das Szenario, dass bei den 1. Mai-Krawallen in Berlin die Bundeswehr eingreifen solle, wenn die Polizei „erschöpft“ sei (vgl. Pau 2006: 1564). Nach Gesetzesplänen seines Ministeriums, die Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble erstmals in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung (SZ) Anfang Januar 2007 vorstellte, vertrat der Minister die Ansicht, die Entführung eines Flugzeugs durch Terroristen löse einen „Quasi-Verteidigungsfall“ (Prantl 2007), neben dem „richtigen“ Verteidigungsfall [!] aus, der die Anwendung von Kriegsrecht und damit den Einsatz der Bundeswehr im Inland erfordere. Der Berliner Juraprofessor Martin Kutscha befürchtet daher, dass die Bundesrepublik in einen „verfassungsrechtlichen Ausnahmezustand“ und einen „extrakonstitutionellen Kriegszustand“ gerate (2006: 4). Das Bundesverfassungsgericht hatte erst im Februar 2006 das sog. Luftsicherheitsgesetz, mit dem der Abschuss von mutmaßlich durch Terroristen entführten Passagiermaschinen durch die Luftwaffe legalisiert worden war, für verfassungswidrig erklärt (vgl. BVerfG 2006).

Diese Ausschnitte aus dem politischen Geschehen wirken zutiefst verstörend, steht doch in Artikel 87a Abs.1 Satz 1 Grundgesetz (GG) „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“. Dadurch wird die Armee also für die Wahrung der Äußeren und nicht der Inneren Sicherheit für zuständig erklärt (vgl. von Münch/Kunig 2003: Art. 87a Rn. 4). Selbst in einem Reformpapier der Bundeswehr vom Mai 2000 steht noch der Satz zu lesen: „Die Abwehr grenzüberschreitender terroristischer Aktionen und organisierter Kriminalität bleibt in Deutschland auch künftig eine polizeiliche Aufgabe“ (BMVg 2000: 6).

Es entsteht ein Bild der politischen Verhältnisse, in denen es anscheinend zur Normalität gehört, militärische Gewalt zur Lösung von innenpolitischen Problemen nicht nur politisch zu fordern (Schönbohm), sondern auch tatsächlich zu realisieren (Schäuble, Luftsicherheitsgesetz). Augenscheinlich lässt sich ein Wandel in der politischen Kultur von einer Tabuisierung des Einsatzes militärischer Gewalt im Innern zu einer Legitimierung beobachten. Unter politischer Kultur ist die Summe der politisch relevanten Einstellungen, Meinungen und Wertorientierungen innerhalb einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verstehen und bezeichnet enger gefasst die in einem Kollektiv feststellbare Verteilung individueller Orientierungen auf politische Objekte (vgl. Korte 1994: 89).

Die bisherige gesellschaftliche Werteorientierung tabuisierte Bundeswehreinsätze im Inland (vgl. Geis 2005a). Dabei nahm das Argument der schrecklichen Erfahrung in der Vergangenheit mit dem preußischen Militär, der Reichswehr und der Wehrmacht, einen besonderen Stellenwert ein (dieses historische Argument wird in einem gesonderten Abschnitt dieser Arbeit ausführlich behandelt). Der Einsatz der Bundeswehr im Innern wurde „aufgrund historischer Erfahrungen besonders restriktiv geregelt“ (Dreist 2005: 78). Diese verfassungsrechtliche Sicherheitsmaßnahme wurde angewandt, da ein Machtzuwachs der Bundeswehr durch (Teil-) Übertragungen des innerstaatlichen Gewaltmonopols als „riskant“ galten, „weil er für das Kräftegleichgewicht in der Demokratie als besonders gefährlich angesehen wurde“ (Dreist 2005: 85).