IMI-Standpunkt 2005/046
Lampedusa
Ein rechtsfreier Raum für entrechtete Menschen
von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 18. Juli 2005
Weltweit sind ca. 39 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Armut und Verfolgung. Dazu kommt noch eine schwer zu ermessende Zahl von Menschen, die andere Gründe dafür haben, woanders leben zu wollen. Es ist kein Wunder, dass viele, die ihre Heimat verlassen haben und dorthin nie wieder zurückkehren können oder wollen, versuchen, in die EU zu gelangen. Den Regierenden der EU sind sie allerdings mehr als nur ein Dorn im Auge.
Abschottung
Die EU versucht auf verschiedenen Wegen, die Migration in die EU einzuschränken und zu kontrollieren. Zunächst gibt es die klassische Grenzsicherung, die derzeit mit allen technischen Raffinessen (Wärmebildkameras, Bewegungsmelder, elektrische Zäune) ausgebaut wird, aber auf Grund der schieren Länge der Außengrenze und der Entschlossenheit vieler MigrantInnen nur einen Teil von ihnen abhält, in der EU nach einem anderen oder besseren Leben zu suchen. Durch ihr politisches Gewicht gelingt es der EU aber auch, beispielsweise im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP), Druck auf die Nachbarstaaten und Herkunftsregionen auszuüben, dass diese bereits die Ausreise potentieller EU-Einwanderer behindern. Ein Extremfall dieser fernwirksamen Migrationskontrolle ist die so genannte „Heimatnahe Unterbringung“ bei der, beispielsweise im Kosovo oder Afghanistan, Kriegsflüchtlinge in unmittelbarer Umgebung eines bewaffneten Konflikts in Lagern untergebracht und oft mit militärischer Hilfe festgehalten werden, um eine Weiterreise Richtung EU zu verhindern. Auch die diskriminierende Behandlung von Asylsuchenden und MigrantInnen hier soll als Abschreckung in die Herkunftsländer zurückwirken.
Lager
Dennoch gelingt es immer noch Menschen, das Territorium der EU zu erreichen. Die Staaten sind dann, entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, dazu verpflichtet, zu prüfen, ob die MigrantInnen ein Recht auf Asyl haben, selbst wenn sie sich der Verpflichtung, dieses tatsächlich zu gewähren, in den letzten Jahren weitgehend entledigt haben. Auch aus anderen Gründen können aufgegriffene, illegalisierte MigrantInnen meist nicht unmittelbar abgeschoben werden, zunächst muss deren Identität und Herkunft geklärt werden und ein Land sich bereit erklären, sie aufzunehmen. Obwohl letzteres auf Grund unter politischem Druck entstandener „Rücknahmeabkommen“ meist kein größeres Problem darstellt, nimmt die ganze Prozedur einige Zeit in Anspruch. Um zu verhindern, dass die MigrantInnen in dieser Zeit wieder abtauchen, heiraten oder sich auf ihre Prozesse vorbereiten können, werden sie oft in Sammellager gebracht und dort- mehr oder weniger offensichtlich- eingesperrt. Solche Lager entstehen gerade überall in der EU, insbesondere an ihrem Rande, nahe den Außengrenzen.
Lager haben generell die Tendenz, zu rechtsfreien Räumen zu werden, wie sich am Beispiel Guantanamo Bay gegenwärtig am deutlichsten zeigt. Guantanamo ist allerdings ein Extrembeispiel, da es exterritorial, d. h. der rechtliche Status des Geländes ungeklärt ist. Deshalb behauptet die US-Administration, dass internationales Recht hier nicht gültig wäre. Dies und die militärisch abgeschottete Lage verstärken natürlich die Tendenz zur rechtsfreien Enklave.
Offenbar haben auch Regierende der EU Gefallen an dieser Idee gefunden. Die britische Regierung schlug 2003 vor, Offshore Plattformen im Meer anzulegen, um dort Asylbewerber abzufertigen, ohne dass sie überhaupt den Kontinent bzw. die Insel betreten können. Seit Mitte 2004 kämpft Innenminister Schily in der EU um Zustimmung für seine Idee, in den Maghreb-Staaten „Transit Processing Centers“ aufzubauen, die nach Möglichkeit EU-Souveränität aber dem Recht des jeweiligen Maghreb-Staates unterstehen sollen. Obwohl diese Vorschläge öffentlich immer wieder abgelehnt wurden, beschloss die Innenministerkonferenz der EU Anfang Oktober 2004 ein Pilotprojekt in fünf nordafrikanischen Staaten und schon zuvor wurden diese Länder unter dem Deckmantel der Wirtschaftsförderung dabei unterstützt, Lager für potentielle MigrantInnen zu errichten. Dies läuft weitgehend im Verborgenen ab, und über die Umstände in diesen Lagern ist wenig bekannt. Mehrere Anfragen der Linksfraktion im EP, diese Lager inspizieren zu dürfen, scheiterten bislang.
Lampedusa
Eine Vorstellung dieser Zustände kann vielleicht das Flüchtlingslager Lampedusa Airport Zone CPTA (Centri di Permanenza Temporanea e Assistenza) in Italien vermitteln. Lampedusa ist eine italienische Insel von 20 Quadratkilometern und 4.000 Einwohnern und ein in mehrfacher Hinsicht beliebtes Reiseziel. Sie liegt näher an Tunesien als an Sizilien und gehört geografisch zum afrikanischen Kontinent. Jährlich kommen tausende europäische Touristen und afrikanische MigrantInnen auf der Insel an. Auf dem Gelände des internationalen Flughafens wurde 1998 für letztere ein Auffanglager für 190 Menschen gebaut. Schon unter Mussolini diente Lampedusa als Gefängnisinsel.
Oft kommen aber über 300 Bootsflüchtlinge in einer Nacht an. Die Überfahrt ist gefährlich und Schätzungen zufolge ertrinken 500 MigrantInnen jährlich allein beim Versuch nach Italien zu gelangen. Die Route nach Lampedusa ist von allen noch am sichersten. Um das Geschäft mit dem Tourismus nicht zu behindern, werden die Flüchtlingsboote meist schon vor der Küste festgesetzt und dann nächtlich die Insassen vom Hafen ins Lager transportiert. Auf Grund des offensichtlichen Vorbildcharakters für zukünftige Lager und auch der Aufmerksamkeit im Zuge der spektakulären Rettungsaktion der Cap Anamur im Juli 2004, interessieren sich europäische Medien, Flüchtlingsorganisationen und auch das Flüchtlingswerk der UN (UNHCR) für die Vorgänge in Lampedusa, die aber von der Leitung des Lagers (eine katholische Organisation mit dem Namen Misericordia) in Zusammenarbeit mit der italienischen Regierung verschleiert werden.
Als Juni 2004 eine Sonderberichterstatterin des UNHCR das Lager besuchte, musste sie zu ihrem Erstaunen feststellen, dass alle Insassen am Tag zuvor in ein anderes Lager ausgeflogen wurden. Nachdem Oktober 2004 in einer Woche 1,787 MigrantInnen in Lampedusa ankamen, dauerte es eine Woche, bis Vertreter des UNHCR das Lager betreten konnten. Zu diesem Zeitpunkt waren jedoch schon über 1000 Menschen in libysche Lager geflogen worden. Wohin genau, wurde dem UNHCR nicht mitgeteilt. Ähnliches ereignete sich, nachdem Mitte März 1,235 Flüchtlinge ankamen: Dem UNHCR wurde erst Tage nach einer libyschen Delegation der Zutritt gewährt, als noch 80 Flüchtlinge da waren.
In dem überfüllten Lager, das in Hütten und Containern „Platz“ für 190 Menschen bietet, mussten viele tagelang ohne Matratze und teilweise ohne Decken schlafen, über die medizinische Versorgung kann nur spekuliert werden. Eine Einzelfallprüfung, zu der die italienischen Behörden verpflichtet wären, sowie der entsprechende Rechtsbeistand oder die Möglichkeiten eines Folgeantrages- Rechte die jeder Mensch hat- werden unter diesen Umständen nicht gewährleistet. Stattdessen werden die Menschen nach vermutetem Herkunftsland sortiert und ausgeflogen.
Eine solche illegale Massenabschiebung fand in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni erneut statt. Am nächsten Tag wollte eine Delegation der Linksfraktion das Lager inspizieren, nachdem in der Woche zuvor noch 800 Boat people Lampedusas Küste erreichten, waren zum Zeitpunkt der Inspektion noch 150 übrig. In der Nacht darauf kamen erneut 400 Flüchtlinge an.
Durch die mangelnden Kapazitäten produzieren die Behörden einen „Ausnahmezustand“ der das Lampedusa Airport Zone CPTA zum rechtsfreien Raum für entrechtete Menschen macht. Die meisten von ihnen werden nach Libyen ausgeflogen, wo die EU keine Verantwortung für deren Behandlung übernehmen muss und sie vor der internationalen Öffentlichkeit verborgen bleiben. Auch Gaddafi kann mit dieser Praxis zufrieden sein, denn die MigrantInnen, die nicht in den, von Europa aus finanzierten Lagern, festgehalten werden, arbeiten für Hungerlöhne um die nächste Schleppung bezahlen zu können und dienen ihm als Verhandlungsmasse gegenüber der EU: nachdem er im Herbst 2004 verkündete, 2 Mio. MigrantInnen warteten in Libyen auf die Reise in die EU und sich bereiterklärte, Lager der EU in seinem Land zuzulassen, wurde von europäischer Seite die „Normalisierung der Beziehungen“ angekündigt und das Waffenembargo gegenüber Libyen aufgehoben, unter anderem um die libysche Grenzpolizei mit moderner Technologie auszurüsten.
Appell
Um die Lager in Nordafrika, speziell in Libyen, der Geheimhaltung zu entreißen, die dortigen Zustände öffentlich zu machen und so zumindest humanitäre Mindeststandards durchzusetzen, hat das Komitee für Grundrechte und Demokratie zusammen mit der Forschungsstelle Flucht und Migration einen Appell formuliert, in dem es heißt:
„Deswegen fordern wir, dass Delegationen von nationalen und EU-ParlamentarierInnen und Menschenrechtsgruppen aus der EU und aus den nordafrikanischen Ländern die Regionen der exterritorialen Lager und der EU-finanzierten und externalisierten Haftzentren auf den Migrationsrouten so bald wie möglich aufsuchen und auf ihre Schließung hinwirken. Auf der Agenda steht sowohl die Inspektion der großen Abschiebelager in Südspanien und Süditalien als auch der Wüstenlager. Es gilt, eine kritische Öffentlichkeit gegenüber den menschenrechtswidrigen Lagerstrategien am Rande Europas zu schaffen und die sich abzeichnende Lagerbau-Komplizenschaft bloßzustellen.“
Er ist unter www.grundrechtekomitee.de in verschiedenen Sprachen abrufbar
http://www.grundrechtekomitee.de/ub_showarticle.php?articleID=151