IMI-Analyse 2005/015
EU-Verfassungsvertrag: Die Ablehnungen in Frankreich und den Niederlanden als Chance für eine andere Politik nutzen
von: Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 2. Juni 2005
Angebliche Orientierungslosigkeit ist Arroganz des tumben Weitermachens
Nach dem deutlichen Scheitern des EU-Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden machen hilflose Erklärungsversuche die Runde. Kommissionspräsident Barroso sprach von widersprüchlichen Zielen der französischen und niederländischen Gegner des EU-Verfassungsvertrags. Ein „Bündnis von Ängsten“ habe zu der Ablehnung beigetragen. Barroso warnte vor „Schuldzuweisungen“. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europaeischen Parlaments Elmar Brok konstatierte in einer Erklärung das „Versagen der politischen Klasse.“ Den Verfassungsbefürwortern sei es nicht gelungen, den Menschen die Vorteile des Vertragsvertrags klarzumachen, so Brok. Auf den ersten Blick erscheint die politische Klasse orientierungs- und ratlos: „Keiner kann jetzt genau sagen, wie es weitergeht“, äußerte sich EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD). Gleichzeitig beeilte er sich aber, das Abstimmungsergebnis als einen „Unfall“ zu bezeichnen, den es nun zu korrigieren gelte. Der belgische Außenminister gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass dies „nicht das Ende des Verfassungsvertrages“ bedeute. EU-Handelskommissar Peter Mandelson dekretierte, dass „keine einzelner Mitgliedstaat ein Vetorecht habe“. Auch der spanische Ministerpräsident Zapatero will den Ratifikationsprozess einfach weitergehen lassen, als sei nichts geschehen. Europa sei die Lösung, „nicht das Problem.“ Am schärfsten formulierte es EU-Beauftragte für die EU-Außen- und Sicherheitspolitik Javier Solana: „Weder der Text des Verfassungsvertrages noch die Ideen, die er enthält, seien tot.“ Seine Bitte einfach weiter wie gehabt zu verfahren und nicht in eine „psychologische Starre zu verfallen“, klingt wie ein Pfeifen im Keller. Charakteristisch ist auch die Haltung der Grünen in Deutschland. Ihr europapolitischer Sprecher entdeckte plötzlich berechtigte Kritik am Verfassungsvertrag, um im selben Atemzug die Verpflichtung zur „Verbesserung der militärischen Fähigkeiten“ im Verfassungsvertrag als Mittel zu „Abrüstung“ zu bezeichnen.
Zwar hat das imperiale Projekt der EU-Strategen einen schweren Dämpfer erhalten, gerade deshalb suchen sie aber augenblicklich fieberhaft nach Möglichkeiten, soviel wie nur möglich von den Teilen des Verfassungsvertrages zu retten, mit dem die Militarisierung der EU festgeschrieben werden sollte. Obwohl noch keine endgültige Entscheidung getroffen worden ist, zeichnen sich erste Konturen und Optionen eines „Plan Bs“ ab, die beim EU-Gipfeltreffen am 16. und 17. Juni in Brüssel präzisiert werden sollen. Demgegenüber bietet das Scheitern aber auch die Möglichkeit für die Linke, nun noch offensiver in die Debatte um die Zukunft der Europäischen Union einzusteigen.
Optionen für den Plan B
Nach dem NEIN in Frankreich und den Niederlanden ist ein für den EU-Verfassungsvertrag positives Votum in Großbritannien nahezu ausgeschlossen. Die Wahrscheinlichkeit, dass in Dänemark, Irland, Tschechien oder Polen der EU-Verfassungsvertrag bei den dortigen Referenden eine Mehrheit bekommt wird immer geringer. Doch die Regierenden wollen ganz nach dem Motto „business as usual“ weitermachen: „Der Ratifikationsprozess in den Mitgliedstaaten muss weitergehen“, forderte Bundeskanzler Gerhard Schröder ebenso wie Barroso und andere. Gleichzeitig wurde eine Neuverhandlung des Vertrages ausschlossen. So wird Unmut unter der Bevölkerung geschürt.
Gemäß der getroffenen Vereinbarung, die auch im EU-Verfassungsvertrag in Artikel IV-443 (4) festgehalten ist, dass die EU-Staats- und Regierungschefs über das weitere Vorgehen beraten werden, sobald vier Fünftel, also 20 der EU-Staaten den Vertrag ratifiziert haben, möchte man wohl zumindest dieses Etappenziel erreichen. In der Zwischenzeit sollen schon mal Nägel mit Köpfen gemacht werden. Eine detaillierte Darstellung der möglichen Optionen wurde vom Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) der Bertelsmannstiftung erstellt, dem wohl wichtigsten Think Tank was die Ausgestaltung des Verfassungsvertrags anbelangt. Die CAP-Autoren schlagen vor, in der nun eintretenden Zwischenphase soviel wie möglich Bestimmungen irreversibel in die Praxis umzusetzen: „Die frühzeitige Implementierung bestimmter Verfassungsneuerungen wird nicht nur die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der EU-25 verbessern. Darüber hinaus werden politische Tatsachen geschaffen, von denen die EU-Mitgliedstaaten auch im Falle eines endgültigen Scheiterns der Verfassungsratifikation nur schwerlich abrücken können.“ Dies könnte beispielsweise den weiteren Ausbau der Europäischen Rüstungsagentur betreffen. Die eigentliche Schwierigkeit ist allerdings, dass Regelungen, die substanziell in das bestehende Mächtegleichgewicht der Union eingreifen, grundsätzlich ratifizierungspflichtig sind und damit nicht durch die Hintertür umgesetzt werden können. Damit die diesbezüglichen Bestimmungen des Verfassungsvertrages, insbesondere die Neuregelung der Stimmengewichtung zu Gunsten der EU-Großmächte, in Kraft treten können, ist aber dessen Annahme durch sämtliche Mitgliedsstaaten, also auch den NEIN-Sagern, erforderlich. Für ein Inkrafttreten des Vertrages müssten entweder die JA-Länder eine neues Staatenbündnis auf der Grundlage des EU-Verfassungsvertrages bilden, oder aber die NEIN-Sager aus der Union austreten, beziehungsweise dem Vertrag doch noch zustimmen. Eine wie auch immer geartete Koexistenz innerhalb der Europäischen Union zwischen Staaten, die auf Grundlage des Nizza-Vertrages und denen, für die der EU-Verfassungsvertrag Geschäftsgrundlage ist, ist schlicht unmöglich.
Deshalb ist es für die Regierenden von außerordentlichem Interesse, dass es unter allen Umständen zur Annahme des Verfassungsvertrages kommt, weshalb Europa-Ideologen, wie der Sozialdemokrat Jo Leinen bereits ein neuerliches Referendum in Frankreich anstreben. Der luxemburgische EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker äußerte sich diesbezüglich schlicht, dass die „Länder, die NEIN gesagt haben, sich mit der Abstimmungsfrage erneut auseinandersetzen werden müssen.“ Als Extrembeispiel denken die CAP-Autoren sogar die Möglichkeit an, in Frankreich könne „ein zweites Referendum mit der Frage nach der Zukunft der französischen EU-Mitgliedschaft verbunden werden.“ Mit solch einer Drohkulisse, verbunden mit konkreten Maßnahmen für „Intensives politisches Marketing“ soll die französische Bevölkerung dann zur Einsicht bewogen werden. Die EU-Ideologen lernen aus ihrem Scheitern bei der Abstimmung vor allem, dass sie in Zukunft die Propagandamaschinerie besser ölen sollten, um alle, die sich ihrem Projekt eines neoliberalen und militaristischen Europa widersetzen, auch in Zukunft als Nationalisten diffamieren zu können. Die besondere Attraktivität einer Verabschiedung des Verfassungsvertrages im Gesamtpaket liegt darin, dass es deutlich schwieriger sein wird, die ebenfalls konsensuell erforderliche Ratifizierung einzelner Aspekte zu erreichen. Man wird allerdings sehen müssen, inwieweit diese Option auch nur kurzfristig eine Zukunft hat, da es augenblicklich fraglich ist, ob überhaupt genug Länder den Vertrag ratifizieren werden. Zudem spielt der englische Premierminister Tony Blair angesichts der trüben Aussichten auf eine Annahme in Großbritannien bereits mit dem Gedanken, das Referendum dort auszusetzen, um seine politische Zukunft nicht zu gefährden.
Damit wäre aber der Verfassungsvertrag endgültig gescheitert, da ein erzwungener Austritt Frankreichs oder sogar mehrerer Länder aus der EU undenkbar ist. Für diesen Fall überlegen sich die EU-Strategen gegenwärtig eine weitere Option. Sie sähe vor, wesentliche Aspekte, insbesondere die Stimmengewichtung, aus dem Gesamtpaket auszugliedern und stattdessen über Änderungen der europäischen Verträge zu beschließen. Dies würde zwar dennoch eine Ratifikation durch sämtliche Einzelstaaten erfordern, zöge aber nicht zwingend Referenden nach sich, womit deren Verabschiedung wahrscheinlich
er würde. Laut CAP-Studie betrifft dies „vor allem die Neuerungen der EU-Institutionen. Hierzu gehören unter anderen die Einführung eines Präsidenten des Europäischen Rates, die Etablierung des Entscheidungsverfahrens der 'doppelten Mehrheit', die Verkleinerung der Kommission, die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat und die Schaffung des Amtes eines EU-Außenministers sowie die Stärkung der Rechte des EP und der nationalen Parlamente.“ In fast allen dieser Fälle „wäre jedoch eine förmliche Änderung der europäischen Verträge erforderlich. Anstelle einer umfassenden Neuverhandlung könnten einzelne Aspekte des Verfassungsvertrages herausgegriffen (z.B. die „doppelte Mehrheit“) und im Wege einer kurzfristig einberufenen Regierungskonferenz („Mini-Regierungskonferenz“) oder über eine Inkorporation in künftige Beitrittsverträge in Kraft gesetzt werden. Da nur einige wenige Änderungen der europäischen Verträge zu beschließen wären, könnten die meisten Mitgliedstaaten auf die Durchführung eines neuen Referendums verzichten.“
Man möchte also die Entscheidungskompetenz über die künftige Ausrichtung der Europäischen Union wieder weg von ihren BürgerInnen und hin zu den Regierungen verlagern. Allerdings dürfte sich besonders die Neuregelung der Stimmgewichtung als extrem schwierig erweisen. Insbesondere Polen, aber auch alle mittelgroßen- und kleinen EU-Länder werden hierdurch massiv benachteiligt, was der Hauptgrund für Warschaus ursprünglich heftigen Widerstand gegen den Verfassungsvertrag war. Die damals von Deutschen ausgerechnet an Polen gerichteten Drohungen, etwa von CAP-Leiter Werner Weidenfeld, um das Land „umzustimmen“, ließen an Schärfe nichts vermissen: „Polen wird sehr schnell spüren, was es bedeutet, alleine den historischen Kurs Europas aufhalten zu wollen. Von der Finanzplanung bis zur Strukturpolitik wird der polnischen Regierung ein eisiger Wind ins Gesicht wehen – was naturgemäß die Verhandlungsbereitschaft wachsen lässt und die innenpolitische Bereitschaft zum Kompromiss fördert.“
Nachdem mit Spanien, Polens letzter Verbündeter seine Position gewechselt hatte, gab das Land zwar seinen Widerstand gegenüber dem Verfassungsvertrag auf, ob solche Drohungen es aber dazu bewegen werden, eine solche Regelung, die ausschließlich zu Gunsten der EU-Großmächte ist, außerhalb eines umfassenden Gesamtpakets namens Verfassung zu schlucken, ist mehr als zweifelhaft.
Verfassung ist abgelehnt – jetzt auch die Militarisierung ablehnen!
Zwar ist damit zu rechnen, dass Europas Strategen versuchen werden, im militärpolitischen Bereich auf ein „Weiter so!“ zu drängen und konsequent den Pfad in Richtung einer hochgerüsteten global kriegsführenden Militärmacht EU weiter zu beschreiten, dieses Bestreben entbehrt aber nach dem Referendum in Frankreich jeglicher, schon vorher fraglichen Legitimation. Trotzdem setzt z.B. der CDU-Außenpolitiker Karl Lamers als Konsequenz aus dem französischen Referendum noch eins drauf wenn er fordert, die EU-Armee „könnte Katalysator einer gemeinsamen Außenpolitik und Gegenstück zu einer gemeinsamen Währung sein.“ Berlin und Paris müssten ihre „im vergangenen Jahr begonnene Initiative für eine europäische Armee wieder aufgreifen und gemeinsam mit Spanien entschlossen vorantreiben.“ In diesem Kontext sind auch Rufe nach einer verstärkten Zusammenarbeit auf Grundlage von Nizza wie in der Süddeutschen Zeitung zu sehen: „Mindestens acht Regierungen könnten sich zu einer 'verstärkten Zusammenarbeit' zusammentun. Das erlaubt der EU-Vertrag von Nizza, bis auf weiteres die einzige Geschäftsgrundlage der Europäischen Union.“ Solch ein Projekt wie es Lamers vorschlägt, ist aber kaum auf Grundlage des gültigen Nizza-Vertrages möglich, der unmissverständlich klarstellt, verstärkte Zusammenarbeit „kann nicht Fragen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen betreffen.“ Trotzdem soll nicht eine Abkehr, sondern eine Intensivierung des EU-Kriegskurses für deutsche Konservative die französische Abstimmung nach sich ziehen.
Was aber bedeutet das NEIN für die Linke an kommenden Aufgaben?
Zum einen ist bemerkenswert, dass unisono von den neuen sozialen Bewegungen bis zum DGB das Ergebnis als Forderung nach einem sozialeren Europa interpretiert wird. Alle Umfragen in Frankreich über die Hauptmotivation des NEIN bestätigen diese Sichtweise klar. Das bedeutet, dass jetzt der Kampf gegen Neoliberale und Europa-Ideologen um einen anderen Verfassungsvertrag begonnen werden muss. Diese Auseinandersetzung muss von links offensiv mit eigenen Eckpunkten für einen anderen Verfassungsvertrag angegangen werden. Ein kompletter Gegenentwurf macht keinen Sinn, da es über die konkreten Zuständigkeiten der verschiedenen EU-Institutionen und bzgl. detaillierter Regelungen in einem möglichen zukünftigen EU-Verfassungsvertrag in der Linken, der Friedensbewegung und der globalisierungskritischen Bewegung sehr unterschiedliche Auffassungen gibt. Die Verständigung auf Grundsätze ist hier eine gute Möglichkeit, doch Einigung zu erzielen.
Die Ablehnungen müssen nun auch inhaltlich Ernst genommen werden, das gilt auch für die Militarisierung der Europäischen Union, sie verliert mit den Ergebnissen der Referenden in Frankreich und den Niederlanden ihre Grundlage. Genau die inhaltliche Kritik, die wir am Verfassungsvertrag geübt haben (Neoliberale Wirtschaftspolitik, Militarisierung und inhaltsleere Grundrechtscharta) müssen wir nun vertiefen. Die Politik der EU insbesondere in diesen Bereichen muss nun auch von den sozialen Bewegungen stärker in den Blick genommen werden. Dies gilt insbesondere auf militär- und außenpolitischem Gebiet.
Mit der Absage an die Strategen der EU und an diesen EU-Verfassungsvertrags ist damit auch jede vertragliche Übereinkunft zur EU-Militarisierung gescheitert. Daraus folgt nicht nur, dass dieser Prozess sofort zu stoppen ist, sondern vielmehr, dass die konkreten Schritte zur Militarisierung, die im Vorgriff auf den Verfassungsvertrag bereits umgesetzt oder eingeleitet wurden, nun zurückgenommen werden müssen.
Dies gilt es nun in den Mittelpunkt der kommenden Kampagnen der Friedensbewegung zu stellen. Was die Staats- und Regierungschefs unter sich auf den EU-Gipfeln vereinbart haben, muss nach dem Scheitern des EU-Verfassungsvertrages zugunsten einer zivilen EU zurückgenommen werden. Das bedeutet konkret, um nur einige Stichworte der EU-Militarisierung der letzten Jahre zu nennen:
– Auflösung der Battle Groups und den Verzicht auf das vorgesehene Aufstellungsprogramm
der Schlachtgruppen
– Auflösung der Rüstungsagentur
– Ende der militärischen Kerneuropaprogramme d.h. keine Umsetzung der „strukturierten Zusammenarbeit“
– Stopp der Aufrüstungsprojekte, die die EU für die globale Kriegsführung fit machen sollen
– keine weitere heimliche Umsetzung einer Aufrüstungsverpflichtung
– Beendigung der engen Kooperation der EU mit der NATO und in diesem Zusammenhang eine Kündigung des Berlin Plus-Rahmenabkommens, dass den Rückgriff auf NATO-Kapazitäten regelt
– Beendigung von Militäreinsätzen der EU, die beispielsweise mit der ALTHEA-Mission in Bosnien für eine Ausweitung des Einsatzspektrums in Richtung militärische Terrorbekämpfung und Kriegen zur angeblichen „Abrüstung“ Dritter für die EU-Interventionstruppen, als vorbereitende Testfelder dienen
Ausblick
Das Scheitern des EU-Verfassungsvertrags eröffnet die Möglichkeit für eine andere Politik. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Militär- und Außenpolitik. Es wird jetzt darum gehen, die aus der Kritik am EU-Verfassungsvertrag gewonnenen Punkte in konkrete Kampagnen gegen die EU-Militarisierung umzusetzen. Das man hierbei die politische Klasse, Militärs und Kapital als Gegner und große Teil der Bevölkerung als mögliche Verbündete hat, sollte als Ansporn begriffen werden, um die versteinerten Verhältnisse der EU-Militarisierung zum Tanzen zu bringen.