Pressebericht / IMI-Standpunkt 2004/056 - in: Schwäbisches Tagblatt, 24.12.04
Demokratie statt Geopolitik
Kolumne von Tobias Pflüger im Schwäbischen Tagblatt, 24.12.04
von: Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 25. Dezember 2004
Bis tief in schwäbische Familien hinein ist Europa mit der Türkei verbandelt. Die deutschen „Kulturleithammel“ Stoiber und Merkel brechen rechtzeitig zum Weihnachtsfest eine Kampagne gegen den EU-Beitritt der Türkei vom Zaun. Rassistische Untertöne sind kaum zu überhören. Türkei sei „Vorderasien“. Zur Erinnerung: Jesus Christus lebte in Vorderasien und nicht in Mitteleuropa. Zwei Jahrzehnte lang haben CDU/CSU nichts gegen die blutige Diktatur der türkischen Militärs gesagt. Plötzlich reklamieren sie dort Menschenrechte. Nicht weniger heuchlerisch Sozialdemokraten und Grüne: sie reden die Menschenrechtssituation in der Türkei plötzlich „gesund“. Ihnen geht es um Beginn der Beitrittsverhandlungen um jeden Preis.
Ihr Mann in Brüssel, der deutsche EU-Kommissar Verheugen, sagt deutlich, um was es ihnen eigentlich geht: „Der Beitritt der Türkei würde Europa zu einem weltweiten Akteur ersten Ranges machen. Wir müssten bis dahin in der Tat in der Lage sein, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln.“ Davon träumen auch Schröder und Fischer. Michel Rocard, ehemaliger französischer Ministerpräsident und Sozialdemokrat brachte es im Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments auf den Punkt: „Lassen sie uns nicht so viel von Menschenrechten reden, lassen sie uns über das reden, um was es geht: Um Geopolitik.“
Auch die EU-Kommission spricht in ihrem Bericht zuerst von der „geopolitischen Dimension“: „Die Türkei ist ein strategisch wichtiges Land. … Der Beitritt der Türkei würde der EU helfen, die Energieversorgungsrouten besser zu sichern. … Im Hinblick auf Zentralasien könnte die Türkei den politischen Einfluss der EU in dieser Region kanalisieren helfen. … Die Türkei hätte bei der Sich
erung der Energieversorgung einer erweiterten EU eine wichtige Rolle zu spielen, da vor ihren Grenzen die energiereichsten Regionen der Erde liegen. … Der türkische Beitritt könnte helfen, den Zugang zu diesen Ressourcen und ihre sichere Verbringung in den EU-Binnenmarkt zu gewährleisten.“ Die Rede ist auch von militärpolitischen Optionen: „Dank ihrer hohen Militärausgaben und ihres großen Streitkräftekontingents ist die Türkei in der Lage, einen bedeutenden Beitrag zur Sicherheit und Verteidigung der EU zu leisten.“
Ich bin für einen EU-Beitritt der Türkei, aber nicht so. Ich enthielt mich bei einem Bericht, in dem alle konkreten Schilderungen von Menschenrechtsverletzungen von konservativen Beitrittsgegnern zusammen mit Sozialdemokraten und Grünen rausgestimmt wurden und in dem die Situation der Kurden unterbelichtet blieb. Viele Menschen in der Türkei, insbesondere in den kurdischen Gebieten, darunter politische Freunde, setzen sehr viel Hoffnung in die beginnenden Beitrittsverhandlungen und die spätere EU-Mitgliedschaft, v.a. in Sachen Demokratie und Menschenrechte. Linke Freunde in Istanbul haben eine andere Befürchtung: Die neoliberale Politik der EU und ihrer Konzerne trifft in der Türkei auf sehr schwache, vom Staat vielfach behinderte, gewerkschaftliche Strukturen und üble Arbeitsgesetze, ein „Paradies“ für neoliberale Politik.
Gemeinsam müssen ab sofort Linke, Menschenrechtsgruppen und andere soziale Bewegungen in der EU und in der Türkei die Beitrittsverhandlungen begleiten, um zu sehen, was der türkische Staat und die EU-(Staaten) so treiben, die geplante Lieferung von 350 Panzer an Ankara zeigt, was alles droht. Ich wünsche Ihnen ein ruhiges Weihnachtsfest und ein gutes, friedliches Jahr 2005.