Pressebericht / in: IPPNW-Forum 81/82, Juli 2003
Die Toten werden nicht gezählt
von: Ute Watermann / IPPNW / Pressebericht / Dokumentation | Veröffentlicht am: 17. November 2003
– „Wir können uns nicht damit aufhalten, zu zählen, wie viele wir getötet haben“ – sagt Colonel David Perkins von der dritten Infanterie-Division bei der Eroberung Bagdads. Die Militärkoalition notierte zwar genauestens Bomben, Munition, Panzer, Flugzeuge und die getöteten Soldaten ihrer Truppen, doch weder das britische noch das amerikanische Verteidigungsministerium sahen sich veranlasst, die toten Iraker zu zählen.
Heute, vier Monate nachdem Präsident Bush den Krieg für beendet erklärt hat, wissen wir deshalb nur eines exakt: 159 Koalitionssoldaten fielen bis zum Ende des Irakkrieges. Im besetzen Nachkriegsirak hat sich diese Zahl inzwischen mehr als verdoppelt. Alles andere ist eine Annäherung. So zählte das unabhängige Team von Iraqbodycount.net bis zu diesem 19. September mindestens 6131 tote Zivilisten und höchstens 7849. Allerdings zählt das in England ansässige Projekt nur Tote, die von mindestens zwei unabhängigen Quellen, meist Zeitungen oder Nachrichtenagenturen, angegeben werden. Zählt man die von Militäranalysten geschätzten mehreren tausend bis ca. zehntausend uniformierten irakischen Soldaten hinzu, ergibt sich eine Summe von circa zehn- bis achtzehntausend toten Irakern. Die Irakische Freiheitspartei, eine Oppositionspartei unter dem Hussein-Regime, gibt dagegen nach eigenen Recherchen 38.278 Tote an.
Doch was ist mit den Opfern, die nicht in den Statistiken der Militäranalysten und den Nachrichten auftauchen? Robert Fisk, Korrespondent der britischen Zeitung Independent im Irak, schreibt am 14. September: „Man muss nur die Leichenschauhäuser der irakischen Städte besuchen, dann ist klar, dass jede Nacht ein Gemetzel stattfindet. Die Besatzungsmächte bestehen darauf, dass die Journalisten eine Erlaubnis brauchen, um die Krankenhäuser zu besuchen – es kann eine Woche dauern, bis man die richtigen Papiere hat, wenn überhaupt, also Lebwohl Statistik – aber die Zahlen, die von den älteren Ärzten kommen, sprechen eine deutliche Sprache.
In Bagdad werden jeden Tag bis zu 70 tote Iraker, die durch Geschützfeuer umgekommen sind, in die Leichenhallen gebracht. In Najaf, zum Beispiel, haben die Friedhofsverwaltungen jeden Tag die Ankunft von bis zu 20 Gewaltopfern verzeichnet. Einige Tote wurden in Familienstreitereien getötet, bei Plündereien oder bei Vergeltungsschlägen. Andere wurden von US-Truppen beim Passieren der Checkpoints niedergeschossen oder bei den zunehmenden aggressiven Übergriffen der amerikanischen Streitkräfte in den Vororten von Bagdad und den sunnitischen Städten im Norden…. Wenn man die Toten von Najaf auf zwei oder drei andere große Städte überträgt und die tägliche Todesrate in Bagdad dazuzählt und mal sieben multipliziert, dann werden jede Woche an die tausend irakische Zivilisten getötet – und das mag noch konservativ geschätzt sein“
Nach dem zweiten Golfkrieg 1991 beklagten wir die meisten Opfer in den drei Monaten nach dem Krieg – verschmutztes Wasser, die zerstörte Stromversorgung und die fehlenden Arzneien führten dazu, dass damals hunderttausende Kinder, Frauen und Alte dahingerafft wurden. Diesmal ist es wieder die Zeit nach dem Krieg, die ihren Tribut fordert. Zwar sind Teile der Infrastruktur intakt geblieben, aber schleppende Reparaturen, ungeklärte Zuständigkeiten, Sabotageakte und die mangelnde Sicherheit führen zu neuem Elend. Die Wasserversorgung ist nach wie vor nicht gesichert, die ständigen Stromunterbrechungen ruinieren die Geräte in den Krankenhäusern und Ärzte und Krankenschwestern fehlen, weil sie den Weg bis zur Klinik fürchten. Jüngst hat das Rote Kreuz seinen Mitarbeiterstab reduziert, nachdem ein Mitarbeiter außerhalb von Bagdad umgebracht wurde. Viele Hilfsorganisationen verlassen komplett das Land, wie Oxfam, Save the Children oder Merlin. Resigniert sagt Brendan Paddy, Sprecher von Save the Children „Wir sind beunruhigt über die Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten, Durchfall und Cholera und darüber, dass sich die Situation verschlechtert anstatt sich zu verbessern. In Bagdad steht immer weniger Hilfe zur Verfügung. Obwohl die Iraker unsere Hilfe zur Zeit dringend brauchen“.
Angelika Claußen, Ärztin und Vorstandsmitglied der deutschen IPPNW, berichtet nach ihrem Besuch im Irak, dass in den Kinderkrankenhäusern ein akuter Anstieg von schweren Durchfall- und akuten Atemwegserkrankungen zu verzeichnen sei:
70 Prozent der kindlichen Todesfälle seien darauf zurückzuführen. Die Versorgung mit Arzneien scheint unterschiedlich zu sein. Zwar sind genügend Medikamente in den Depots des Gesundheitsministeriums gelagert, doch sie erreichen nicht immer ihren Bestimmungsort. Denn die Bestellungskette ist unklar und in vielen Krankenhäusern fehlt das Personal, das sich um diese Dinge kümmert. Die Weltgesundheits-organisation zieht eine ernüchternde Bilanz:
Die medizinische Versorgung des Irak funktioniert zu 20 Prozent des Vorkriegsniveaus. „Das heißt, das heute kranke Kinder an Magen-Darm-Erkrankungen sterben, dass die Krankenhäuser häufig keinen Sauerstoff besitzen, und dass die, die gerettet werden könnten, nicht gerettet werden. Wie viele sind so gestorben?“ fragt der britische Journalist John Pilger am 22. August in der Internetzeitung ZNet.
Zu den Toten kommen die Verletzten. 20.000 irakische Zivilisten sind nach den Analysen von Iraqbodycount während des Krieges verletzt worden. Unicef berichtete bereits am 17. Juli, dass mehr als 1000 Kinder durch Streumunition oder irakische Munition verletzt worden sind. Die britische Regierung hat bereits zugegeben, dass ihre Truppen 66 Streubomben mit jeweils 147 Sprengsätzen abgeworfen und 2000 Granaten mit jeweils 49 Sprengsätzen verschossen haben. Das sind über 100.000 Sprengsätze. Addiert man die 240.000 Sprengsätze dazu, die die USA laut einem schriftlichen Bericht von US-Colonel Jay Shaft abgeworfen haben, ergeben sich über 340.000 Sprengsätze. Fünf bis zehn Prozent (17.000 bis 34.000 Sprengsätze) dieser häufig glitzernden, bunt bemalten Mini-Bomben explodieren nicht, sondern warten darauf, dass sie von Kindern angefasst werden.
Ohnehin ist die Bombenlast, die die Iraker während des Krieges ertragen mussten immens. Nach Recherchen des deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel stiegen die Flugzeuge der Alliierten während des Krieges 41 404 mal in den Himmel und warfen 211.999 Bomben ab. 68 Prozent davon, sagen amerikanische Militärs, waren zielgenau programmiert. Die Informationsstelle Militarisierung in Tübingen berichtet nahezu übereinstimmend, dass 15.000 Präzisionsbomben, 8000 ungelenkte Bomben und 8000 Marschflugkörper von der Koalition auf den Irak gefeuert wurden.
Über den Gebrauch von Uranmunition liegt dagegen ein Mantel des Schweigens. Zwar hat das US-Kommando zugegeben, Uranmunition benutzt zu haben, doch genaue Auskunft gibt es nicht. Experten schätzen, das zwischen 1000 und 2000 Tonnen Uranmunition im Irak verschossen worden sind. Im Golfkrieg 1991 waren es nach UN-Informationen „nur“ 290 Tonnen. „Für das US-Militär war Uranmunition die Waffe der Wahl im Irakkrieg“ erklärt Colonel James Naughton, Director for Munitions, Chemical an Biological Defense am US Army Material Command freimütig im Radiointerview. Sein Kollege US-Colonel Jay Shaft, spricht von 500 Tonnen gebrauchter Uranmunition, eine anderer US-Militär berichtet, dass sein Flugzeug 300.000 Urangeschosse auf das Planungsministerium abgefeuert habe. Geschosse, die diesmal nicht in der Wüste landeten, sondern mitten in den bewohnten Gebieten des Iraks. So haben Reporter in den vergangenen Monaten mehrfach berichtet, dass sie mit ihren Geigerzählern erhöhte Werte mitten in Bagdad gemessen hätten. Zeitgleich berichtet die Washington Post, dass 6000 Truppenmitglieder seit Beginn des Krieges nach Hause geflogen werden mussten, 1400 wegen körperlichen Verwundungen, die anderen 4600, weil sie „körperlich oder geistig krank wurden“. Näheres ist nicht bekannt.
„Eine beängstigende Situation“ kommentiert die britische Royal Society, eine führende wissenschaftliche Vereinigung, das Schweigen der US-Regierung – und fordert eine Untersuchung von Soldaten und Zivilisten. Auch die UNEP, Umweltorganisation der Vereinten Nationen, fordert in ihrem jüngstem Bericht, möglichst schnelle unabhängige wissenschaftliche Untersuchungen, da ihre Experten davon ausgehen, dass erhebliche Mengen DU-Munition verschossen worden ist – und Soldaten und Zivilisten davor geschützt werden müssen, verseuchten Staub einzuatmen. Bisher allerdings durfte das UNEP-Forschungsteam nicht in den Irak. Die US-Regierung hat dies verweigert. Genauso wenig gibt es eine offizielle Untersuchung der Zivilisten rund um den geplünderten Atomkomplex Tuwaitha, in deren Nähe Greenpeace bereits im Juni um 1000 bis 3000fach erhöhte Werte, unter anderem in einer Grundschule, festgestellt hatte.
Es scheint, als werden uns die Verletzten und Toten dieses Krieges noch lange begleiten. Im vergangenen Forum haben wir Ihnen das Health Monitoring Project der britischen IPPNW Sektion MEDACT vorgestellt. Die britischen Wissenschaftler sammeln die Daten zu den direkten und indirekten Todesfällen, den Kranken und Vertriebenen, sowie zur Infrastruktur und zu den Umweltschäden. Im November erwarten wir ihren Bericht. Spätestens dann werden wir hoffentlich mehr Details berichten können.
Sollten Sie an den Quellenangaben interessiert sein, wenden Sie sich an die Geschäftsstelle.
Kontakt: Dr. med. Ute Watermann Tel: 030 – 69 80 74 – 14, Ute Watermann
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW),
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