IMI-Standpunkt 2003/098 - in: Beilage "Europäisches Sozialforum" der jungen Welt vom 29.10.2003
Ein Europa von unten –
gegen diese EU der Regierenden und Militärs und deren Verfassung!
von: Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 3. November 2003
Neoliberale Politik und neoimperiale Politik sind zwei Seiten einer Medaille. Derzeit sind die Entwicklungen in diesen beiden Bereichen deutscher Politik in einer entscheidenden Phase: Das Durchpeitschen der Agenda 2010 hat mit einem Thema zu tun, auf das man im ersten Moment nicht kommt: Mit der Herausbildung der Europäischen Union als Militärmacht. Bei der Eröffnung der Hannovermesse im April stellte Kanzler Gerhard Schröder diesen Zusammenhang selbst her: „Das, was wir mit der Agenda 2010 vorhaben … ist zugleich unsere Verantwortung für ein starkes Europa und seine Rolle in der Welt“.
In den neuen verteidigungspolitischen Richtlinien erklärt sich Deutschland zum Schlüsselstaat in der NATO und der EU. „Deutschland hat in den vergangenen Jahren bei den Beschlüssen der EU zur Ausgestaltung der ESVP eine Schlüsselrolle gespielt (…) Der Stabilitätsraum Europa wird durch eine breit angelegte, kooperative und wirksame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU gestärkt.“ Die Militarisierung der EU ist in drei Bereichen sehr weit vorangeschritten: Erstens bei der Bildung einer EU-Interventionstruppe mit 60.000 Soldaten, die 2003 einsatzfähig sein soll, zweitens und das wird in der Diskussion häufig übersehen, in Gestalt der schon länger vorhandenen verschiedenen bi- und multinationalen Korps, wie das deutsch-niederländische, das Euro-Korps, das deutsch-dänisch-polnische Korps. Hinzu kommt die Oligopolisierung und Stärkung der europäischen Kriegswaffenindustrie, was explizit mit einem „Konkurrenzkampf mit den Vereinigten Staaten“ begründet wird. Politisches Ziel ist die Herausbildung einer Gegen-Militärmacht EU.
Nach einem längeren Verfahren im Konvent wurde ein Entwurf für eine EU-Verfassung vorgelegt. Im militärpolitischen Bereich gibt es eine explizite Aufrüstungsverpflichtung mit Verfassungsrang: „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“. D.h. in der zukünftigen EU-Verfassung wird eine regelmäßige Aufrüstung festgeschrieben! Dazu wird extra ein „Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten“ eingeführt. Dieses Amt soll „bei der Ermittlung der Ziele im Bereich der militärischen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten mitwirken und die Erfüllung der von den Mitgliedstaaten in Bezug auf diese Fähigkeiten eingegangen Verpflichtungen bewerten“, „die Forschung auf dem Gebiet der Verteidigungstechnologie unterstützen“, „zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors ermitteln und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchführen“.
Laut Verfassung sollen die EU-Streitkräfte zu „Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen“ eingesetzt werden können. Weiter heißt es: „Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet“. „Über militärische Einsätze der EU entscheidet der Ministerrat“, so regelt das Artikel 40 Absatz 4 des EU-Verfassungsentwurfs. Ähnlich noch einmal in Artikel 198 Absatz 1: „Verlangt eine internationale Situation ein operatives Vorgehen der Union, so erlässt der Ministerrat die erforderlichen Europäischen Beschlüsse.“ Das EU-Parlament soll nicht beteiligt werden. In Absatz 8 des Artikels 40 wird lediglich regelt, dass das EU-Parlament zu „wichtigsten Aspekten“ regelmäßig anzuhören sei und über die Entwicklung der „„grundlegenden Weichenstellungen der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf dem Laufenden gehalten“ wird.
Im Auftrag der EU-Regierungschefs hat der Verantwortliche für den Bereich Außen- und Sicherheitspolitik“ der EU, Javier Solana einen Entwurf für ein Strategiepapier für den Militärbereich vorgelegt. In diesem Entwurf wird das Präventivkriegskonzept festgeschrieben: „Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art. Wenn sie nicht beachtet werden, erhöht sich die Gefahr. … Daher müssen wir bereit sein, vor dem Ausbrechen einer Krise zu handeln.“ „Eine Union mit 25 Mitgliedern und einem Verteidigungsgesamthaushalt von 160 Milliarden Euro sollte in der Lage sein, mehrere Operationen gleichzeitig auszuführen. Wir müssen eine strategische Kultur entwickeln, die frühe, schnelle und, falls erforderlich, robuste Interventionen fördert“. Mehrfach wird im Solana-Papier eine „multilaterale“ Weltordnung beschworen: „In einer Welt globaler Bedrohungen, globaler Märkte und globaler Medien hängt unsere Sicherheit und unser Wohlstand von einem funktionsfähigen multilateralen System ab.“ Dies ist eine Kampfansage an die von der britischen und us-amerikanischen Regierung beschworene unilaterale Weltordnung.
Aber es gibt nicht auf der einen Seite die „böse“ USA, und auf der anderen die »gute EU«. Das »alte Europa« hat nicht die Intention, »Friedensmacht« zu sein, sondern will seine eigenen Interessen ebenfalls sowohl wirtschaftlich als eben auch militärisch durchsetzen. Die Grundstrukturen sind gleich: Es geht der EU wie den USA darum, Kriege in Regionen im Süden führen zu können. Der »Pralinengipfel« in Brüssel Ende April hat gezeigt, dass die Regierungen, die sich gegen den Irak-Krieg wandten, nur gegen diesen Krieg waren, nicht aber gegen Krieg als Mittel der Politik.
Wenn auf dem Europäischen Sozialforum in Paris erklärt würde, dass dieser Entwurf für eine EU-Verfassung eine Militärverfassung ist, die nur abgelehnt werden kann, wäre die Bewegung einen Schritt weiter. Für ein Europa von unten – gegen diese EU der Regierenden und Militärs und deren Verfassung!
Tobias Pflüger ist Politikwissenschaftler und Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (www.imi-online.de) Er ist wie beim Europäischen Sozialforum (ESF) in Florenz einer der deutschen Sprecher auf dem ESF in Paris.