IMI-Analyse 2003/033 - in: IMI-List 173, 24.08.2003

‚Sicherheitsmauer‘ als Sackgasse

Die Mauer legt das Ausmaß eines zukünftigen "palästinensischen Staates" fest.

von: Claudia Haydt | Veröffentlicht am: 23. August 2003

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Ob sich die israelischen Armee nun aus der 45.000 Einwohner Stadt Qalqilia in der West Bank zurückzieht oder nicht – für die palästinensische Bevölkerung dieser Stadt macht es kaum einen Unterschied: die israelische Armee ist im Stadtgebiet schon länger kaum noch präsent. Sie musste dies auch nicht – die Kontrolle war und ist dennoch effektiv. Rund um die Stadt Qalqilia zieht sich eine Mauer – Teil einer gigantischen Befestigungsanlage, die bald alle palästinensischen Gebiete umschließen soll. In der offiziellen Terminologie der israelischen Regierung (die gelegentlich auch von US- und EU-Repräsentanten und Medien übernommen wird) heißt das Bauwerk euphemistisch „Sicherheitszaun“.

Die High-Tech-Befestigungsanlage kostet ca. 1 Million Dollar je Kilometer. Würde ihr Verlauf ungefähr der Waffenstillstandslinie von 1967 folgen, dann wäre die Mauer insgesamt ca. 350 km lang. Doch da sie sich in wilden Kurven quer durch die West Bank schlängelt (um möglichst viele Siedlungen und viel Land auf die „israelische Seite“ zu bringen), wird die Mauer wahrscheinlich bis zu 1000 km lang werden. Die Anlage ist zwischen 60 und 150 Meter breit. Zu ihr gehören neben modernster Überwachungstechnik, ein Graben mit vier Metern Tiefe, eine acht Meter hohe Betonmauer, eine Panzerstraße und alle 200 Meter Überwachungstürme. Ca. 150 km im Norden sind weitgehend fertiggestellt einschließlich 22km um Jerusalem und trotz beginnendem internationalem Druck wird fieberhaft weiter gebaut.

Die Mauer schränkt die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung massiv ein. In Qalqilia ermöglicht es nur eine einzige Öffnung mit zwei Checkpoints, die Stadt zu verlassen oder zu betreten. Auch nach der „Befreiung“ der Stadt sollen die Kontrollen bleiben. Die Bewohner sind faktisch Gefangene „bis die palästinensischen Terrororganisationen zerschlagen sind.“ (Spiegel 17.8.2003). Diese kollektive Bestrafung trifft die Einwohner Qalqilias hart – aber nicht nur diese:

– Die Mauer verläuft quer durch palästinensisches Gebiet teilweise viele Kilometer entfernt von der Grenze von 1967 („Grüne Linie“). Allein durch den Bau des 1. Abschnitts der Anlage wurden ca. 3.500 Hektar Land enteignet und dem Erdboden gleich gemacht. Dabei wurden Häuser, Gewächshäuser und zehntausende von Bäumen zerstört. In dem Gebiet zwischen Tulkarem, Jenin und Qalqilia werden mindestens 30 Quellen, 47 Brunnen und der Zugriff auf einen bedeutenden Teil des Grundwassers im westlichen Aquifer verloren gehen. „Die Palästinenser verlieren also nicht nur ein bzw. drei Viertel ihrer gegenwärtigen Nutzung aus dem westlichen Aquifer. Sie verlieren zusätzlich die Aussicht auf eine weit größere Menge, nämlich beinahe 100% des zu erschließenden Grundwassers.“ (C. Messerschmid, inamo, Heft 34, 2003) Die Hydrologie im Bereich der West Bank wird sich auch oberirdisch verändern. „Der Verlauf des Oberflächenwassers wird sich ändern und Erosion und Sedimentation werden zunehmen.“ (Earth First! 1/2003). An Aufrechterhaltung oder gar Ausbau von Landwirtschaft ist unter solchen Bedingungen überhaupt nicht zu denken.

– Die Einwohner vieler Dörfer sind eingesperrt zwischen der Mauer, die sie nicht überqueren können und der „Grünen Linie“, die sie nicht passieren dürfen. Damit sind die Enklaven westlich der Mauer von Infrastruktur (Schulen, Krankenhäuser etc.) sowie ökonomischem und sozialem Austausch weitgehend abgeschnitten. Diese prekäre Lebenssituation erzeugt in der Konsequenz einen starken Abwanderungsdruck. Wer für sich und seine Familie eine ökonomische Zukunft oder Bildungsmöglichkeiten, ärztliche Versorgung, Schutz vor Übergriffen usw. haben will, der wird früher oder später aus diesen Regionen wegziehen. In der Kasbah von Hebron (vgl. B’tselem 8/2003) kann man dieses Phänomen bereits beobachten: 42% der Bewohner und Geschäftsbesitzer haben aufgrund der ständigen Repression durch Armee und Grenzpolizei (hunderte Tage Ausgangssperre etc.) sowie Übergriffe der Siedler ihr zuhause verlassen. Die Grenzanlage wird diesen „stillen Transfer“ durch unerträgliche Lebensbedingungen noch weiter beschleunigen.

– Neben der eigentlichen, „westlichen“ Mauer entstehen auch im Osten von palästinensischen Dörfern und Städten (z.B. Qalqilia, Tulkarem) sogenannte sekundäre Barrieren. Dadurch entstehen Enklaven östlich der Mauer, die die Menschen in prekäre Lebensverhältnisse zwingen. Die Einwohner der ehemals reichen Stadt Qalqilia sind nun fast vollständig auf Unterstützung durch internationale Hilfsorganisationen angewiesen, das durchschnittliche Familieneinkommen ist von 1000 Dollar im Monat auf beinahe 60 Dollar gesunken (Palestine Monitor 7/2003). Auch für die palästinensischen Einwohner des Großraums Jerusalem spitzt sich die Lage zu. Hier soll durch ein ganzes Netzwerk von inneren und äußeren Befestigungen sowohl der israelische Anspruch auf ein Groß-Jerusalem zementiert werden als auch die darin verbleibende palästinensische Bevölkerung von den jüdischen Gebieten ferngehalten werden.

– Durch die Trennungsmauer verlieren viele palästinensische Bauern, die östlich der Mauer wohnen, den Zugang zu ihrem Ackerland auf der westlichen Seite. Besonders sensibel ist das Gebiet zwischen Qalqilia und Tulkarem, hier werden 42% der Früchte und Gemüse in der West Bank produziert (AFP 15.1.2003). Der Lebensstandard der Menschen in der Region und die Versorgung mit Lebensmitteln wird in der Folge noch schlechter werden als heute.

Sicherheit – das vorgebliche Ziel der Mauer – ist durch das zur Zeit verfolgte Konzept nicht zu erreichen. Durch ihren gewundenen Verlauf ist die Mauer militärisch kaum zu verteidigen. Ginge es um militärisch effiziente Herstellung von „Sicherheit“, dann wäre eine Grenzbefestigung entlang der „grünen Linie“ die deutlich sinnvollere, kürzere und billigere Lösung.

Der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon erklärte gegenüber der internationalen Presse „Gute Zäune machen gute Nachbarn“. Doch welche Nachbarn akzeptieren einen Zaun, der ihnen große Teile des eigenen Gebietes wegnimmt und besonders die fruchtbarsten und damit ökonomisch wichtigen Gebiete? Wenn die Mauer die palästinensischen Bevölkerungszentren lückenlos umschließt, dann könnte dies (vielleicht) zu einer kurzfristigen Senkung von Attentaten führen – weil sie organisatorisch schwieriger werden. Doch durch den geplanten Verlauf der Mauer bleiben bedeutende Teile der „feindlichen Bevölkerung“ auf der israelischen Seite der Mauer.

Viel schwerwiegender ist aber, dass durch die Mauer im Gaza-Streifen und in der West Bank insgesamt drei Millionen Menschen pauschal unter Terrorismusverdacht gestellt und gewissermaßen vorbeugendend in Haft genommen werden – dabei werden ihnen grundlegende Menschenrechte systematisch vorenthalten. Das Recht auf Bewegungsfreiheit (Menschenrechtsdeklaration Art 13/1) wird für die gesamte palästinensische Bevölkerung eingeschränkt, besonders aber für die Einwohner der oben beschriebenen Enklaven, in folge dessen sind das Recht auf Arbeit und das Recht auf Besitz von Eigentum (Menschenrechtsdeklaration Art. 17) betroffen. Die Liste ließe sich beinahe beliebig fortsetzen – wichtig ist, dass all dies eine Kollektivbestrafung darstellt. Kollektivbestrafung ist völkerrechtswidrig (4. Genfer Menschenrechtskonvention, Art. 33).

Auf mittlere und längere Sicht wird die „Sicherheitsmauer“ zum „todsicheren“ Rezept für die Entstehung von immer neuem Terror, denn erlebte Ungerechtigkeit, Ausweglosigkeit und Frustration sind eine im wahrsten Sinne des Wortes explosive Mischung. Prinzipiell lässt sich Aussöhnung und Frieden nur durch Begegnung und Kooperation und nicht durch Abschottung herstellen – man denke an die früheren „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich. Nur der Respekt vor der Menschlichkeit der jeweils anderen ist ein sicherer Schutz vor Terror.

Durch die Trennungsmauer soll offensichtlich nicht in erster Linie Sicherheit hergestellt werden – es geht vielmehr darum Fakten zu schaffen.
Die Mauer legt das Ausmaß eines zukünftigen „palästinensischen Staates“ fest. Dieser wird wahrscheinlich ca. 45% der West Bank umfassen und aus einem Fleckenteppich von „Kantonen“ und Enklaven bestehen, ohne Zugang zueinander, ohne Ost-Jerusalem und ohne jegliche Chance auf eine politisch und ökonomisch selbstbestimmte Zukunft. Dies ist der palästinensische Staat von dem Scharon redet.

Außerdem wird durch den Verlauf der Mauer der israelische Anspruch auf das Wasser des westlichen Aquifers zementiert. „Bereits Mitte der 90er Jahre … haben israelische Hydrologen „Maps of Water Interest“ gezeichnet, in denen die Gebiete, die nun hinter die Mauer fallen zu den strategischen Interessenzonen Israels gezählt werden. In diesen Gebieten sollte eine zukünftige palästinensische Erschließung unterbunden werden.“ (inamo, Heft 34, 2003). Doch wie soll ein „Staat“ der seinen Bewohnern keine Freiheit und keine ökonomischen Entwicklungsperspektiven bieten kann – zu einem Partner für den dringend benötigenden Frieden mit Israel werden? Wer seinen Nachbarn jegliche Chance auf eine bessere Zukunft nimmt, kann nicht erwarten, dass dies die Grundlage für friedliche Koexistenz ist.

Der Oslo-Prozess scheiterte auch daran, dass sich die Weltöffentlichkeit der Illusion eines kommenden Friedens hingab, während vor Ort durch die Verdopplung des Siedlungsbaus sowohl auf der konkreten als auch auf der symbolischen Ebene die Grundlagen für einen gerechten Ausgleich zerstört wurden. Aus diesem Fehler hat das Nahost-Quartett (UNO, USA, EU, Russland) gelernt. Die Forderung nach einem Siedlungsstopp steht in der Road Map. Doch nun wird die Landnahme durch die Mauer fortgesetzt.

Und einen internationalen Aufschrei gegen die Mauer gibt es bis heute nicht. US-Präsident George W. Bush erklärte zwar „Der Zaun(!) ist ein Problem“ und dachte laut über eine eventuellen Kürzung von Kreditbürgschaften nach. Doch große Differenzen sind nicht zu erwarten: Bush ließ seine Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice beteuern, dass der „Zaun“ die Bürgschaft nicht beeinträchtigen werde (Ha’aretz 6.8.03). Die Europäische Union fasst ihre Kritik (wenn überhaupt) in so zaghafte Worte, dass daraus keine Schlagzeilen und erst recht kein politischer Druck entsteht.

Die einzigen, die wirklich konsequent auf die Problematik der Mauer hinweisen sind Menschenrechts- (B’tselem) und Friedensorganisationen (Gush-Shalom, Ta’ayush, International Solidarity Movement), die mit gewaltfreien Aktionen zusammen mit den betroffenen Bewohner/inne/n den Widerstand gegen die „Apartheidsmauer“ organisieren. Doch je weiter die Mauer fortschreitet, um so schwerer wird es auch sein, diese Form von brückenbildendem Widerstand fortzusetzen. Deswegen ist verstärkter internationaler Druck für einen Stopp des Mauerbaus dringend nötig – ebenso wie die Solidarität mit den israelischen, palästinensischen und internationalen Aktivist/inn/en, die durch ihren Protest die sprichwörtlichen und die konkreten Mauern und Gräben überwinden.

Den Verlauf der Mauer illustriert diese Karte eindrucksvoll:
http://imi-online.de/download/cisjordanie_mono.pdf

Aus aktuellem Anlass (Anschläge und Liquidierungen) hat Claudia Haydt eine Pressemitteilung der israelischen Friedensgruppe Gush-Shalom übersetzt: „Der Kreislauf des Blutvergießens geht weiter“ https://www.imi-online.de/2003.php3?id=652

Diese IMI-Analyse als PDF-Datei mit der Karte und Fotos:
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Diese IMI-Analyse als PDF-Datei ohne Karte und ohne Fotos:
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