IMI-Analyse 2003/034 - in: Sozialismus Heft Nr. 9 (September 2003), 30. Jahrgang, Heft Nr. 269

Kollisionskurs

Droht eine transatlantische Blockkonfrontation?

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 22. August 2003

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Spätestens mit den Konflikten vor und während des Irak-Krieges dürfte jedem klar geworden sein, dass sich zwischen dem „alten Europa“ und den Vereinigten Staaten ein tiefer Graben aufgetan hat. Der Amtsantritt George W. Bushs und die dramatische Militarisierung der US-amerikanischen Außenpolitik seit dem 11. September 2001 hatten zwar katalysatorische Wirkung, beschleunigten zugleich aber einen sich seit Jahren abzeichnenden Trend. Die Frage, wie Europa möglicherweise mit dem Ausbau einer eigenen Militärmacht auf die US-amerikanische Hegemonialpolitik reagieren soll, ist inzwischen Gegenstand intensiver Debatten, deren Ausgang erheblichen Einfluss auf die künftige Struktur der internationalen Beziehungen haben wird. Jürgen Wagner skizziert die Interessenskonflikte.

Von Hobbes über Kant zu Habermas

Eine der vielbeachtetsten Reaktionen stammt aus der Feder des Neokonservativen Robert Kagan, dessen Erkenntnisse Javier Solana, dem hohen Vertreter der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), so bahnbrechend erschienen, dass er sie als „must read“ an seinen internen Verteiler herausgab.
Zusammengefasst argumentiert Kagan folgendermaßen: Seit Ende des Kalten Krieges hätten die Vereinigten Staaten die Herausforderungen der neuen Ära angenommen und akzeptiert, in einer „Hobbesschen Welt“ zu leben, in der die Verteidigung der „westlichen Zivilisation“ die Anwendung militärischer Gewalt sowie unilaterales und extralegales Verhalten unbedingt erfordere. Demgegenüber vertrete Europa, bedingt durch seine militärische Schwäche, einen illusorischen, kantischen Ansatz: „Europas militärische Schwäche brachte eine verständliche Aversion gegenüber der Anwendung militärischer Macht hervor. Sie verursachte ein starkes europäisches Interesse an einer Welt, in der nicht Stärke, sondern internationales Recht und internationale Institutionen dominieren.“
Kagan wirft den Europäern vor, in einem „postmodernen Paradies“, einem Wolkenkuckucksheim zu leben. Sie würden die überall lauernden Gefahren nicht ernst genug nehmen, weshalb Washington immer weniger Interesse daran habe, Rücksicht auf Europa zu nehmen. Als Lösung schlägt er eine Erhöhung der europäischen Militärausgaben vor. Da erst die Fähigkeit zur Ausübung von Gewalt den Weg für den „richtigen“, also militärischen Umgang mit der „Hobbesschen Welt“ ebne, würde sich in diesem Fall die europäische Politik allmählich der Amerikas annähern.[1]
So falsch Kagans Analyse einer friedliebenden europäischen Gemeinschaft ist, so attraktiv scheint diese für viele als Gegenpol zur aggressiv-militaristischen Hegemonialpolitik Washingtons zu sein. Die von Jürgen Habermas, Jacques Derrida und anderen europäischen Intellektuellen angestoßene Initiative zur „Wiedergeburt Europas“ fordert explizit: „Europa muss sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren.“ Hierfür gelte es „mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Anfang zu machen.“
Geprägt wird diese Haltung von dem Irrglauben, es gehe den Mächtigen in Europa um „die Abkehr vom Eurozentrismus […] und die kantische Hoffnung auf eine Weltinnenpolitik“, geprägt von Multilateralismus und Gewaltverzicht.[2] Die Auffassung, eine Militarisierung der EU sei notwendige Bedingung, um dem amerikanischen Imperialismus Einhalt gebieten zu können, ist inzwischen weit verbreitet.[3]

Die Mär von der Zivilmacht Europa

Ebenso wie Kagan ignorieren diese „Intellektuellen“ die Tatsache, dass eine europäische Zivilmacht bereits heute so gut wie nicht-existent und für die Zukunft überhaupt nicht in Sicht ist. So wurde die ursprünglich vorhandene starke Betonung einer Konzentration der ESVP auf zivile Konfliktverarbeitung nahezu komplett von den militärischen Aspekten verdrängt.[4]
Bereits 1999 wurde die Entscheidung zum schnellstmöglichen Aufbau einer inzwischen für bedingt einsatztauglich erklärten EU-Eingreiftruppe gefällt. Diese soll im Endstadium aus insgesamt 60.000 Einsatzkräften bestehen und innerhalb von 60 Tagen zu Militäreinsätzen herangezogen werden können. Interessant ist der Aktionsradius, den die EU-Staaten für ihre Interventionsarmee festgelegt haben: 4000 Kilometer rund um Brüssel. Dies widerlegt auch das oft gehörte Argument, Europa müsse sich militarisieren, um Sicherheitsbedrohungen in der unmittelbaren Nachbarschaft selbst entgegentreten zu können. Denn nur so könne man sich aus der faktischen Abhängigkeit von Amerika lösen und eine eigenständige Politik betreiben. Nein, offensichtlich geht es um die Etablierung einer global agierenden Interventionsarmee zur Führung von Kriegseinsätzen. Mit der Bildung eines Militärausschusses und eines Militärstabes wurden auch die organisatorischen Rahmenbedingungen für eine offensiv ausgerichtete EU-Truppe geschaffen. Erste EU-Militäreinsätze, „Concordia“ in Mazedonien und „Artemis“ im Kongo, begannen in diesem Jahr.
Zudem ist die, auch in Teilen der Linken verbreitete Auffassung, der Irak-Krieg habe gezeigt, dass Europäer die „Guten“, Amerikaner die „Bösen“ seien, bestenfalls naiv: „Worauf soll sich der Glaube gründen, dass Europa – diesmal moralisch eben noch einmal fein heraus – nicht bei anderer Gelegenheit, geht es um einen Krieg in seinen Interessensphären, vergleichbar handelt?“[5] Gerne wird hierbei auch vergessen, dass der ebenfalls völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Jugoslawien mit tatkräftiger europäischer Mithilfe geführt wurde.
Einer der es besser weiß, Joschka Fischer, betont, dass die EU keineswegs „ein Friedenskorps aufstellt, sondern eine wirksame Eingreiftruppe.“[6] Auch Solanas Büroleiter Robert Cooper begräbt sämtliche Hoffnungen auf ein friedliches Europa: „Illusionen geben sich jene hin, die von Deutschland oder Europa als einer ›zivilen Macht‹ sprechen.“[7] Die von Solana im Auftrag der EU-Staaten entwickelte Europäische Sicherheitsstrategie (ESS), Ein sicheres Europa in einer besseren Welt vom 20. Juni 2003, bestätigt dies. Sie weist zudem zahlreiche Parallelen zur amerikanischen Nationalen Sicherheitsstrategie auf.

Die Europäische Sicherheitsstrategie: Abschied aus dem Paradies

„Als Zusammenschluss von 25 Staaten mit über 450 Millionen Einwohnern, die ein Viertel des Bruttosozialprodukts (BSP) weltweit erwirtschaften, ist die Europäische Union – ob es einem gefällt oder nicht – ein globaler Akteur; sie sollte daher bereit sein, einen Teil der Verantwortung für die globale Sicherheit zu tragen.“ (ESS: 2)

Neben Energiesicherung und Peripheriestabilisierung bedeutet anscheinend „globale Sicherheit“, analog zur amerikanischen Doktrin der neuen „Bedrohungstriade“, bestehend aus der Zunahme des Terrorismus, der wachsenden Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln sowie dem Scheitern staatlicher Systeme, militärisch zu begegnen. Denn „bei einer Summierung dieser verschiedenen Elemente“ – diese Gefahren lassen sich nur sehr bedingt, wenn überhaupt summieren – könnte „Europa einer sehr ernsten Bedrohung ausgesetzt sein.“ (ESS: 6)
Wie in der US-Doktrin ist diese Bedrohungsanalyse der Türöffner für eine Präventivkriegsstrategie: „Beide Konzeptionen decken sich […] in der Aussage, dass das Prinzip der Abschreckung unter diesen neuen strategischen Rahmenbedingungen nur noch sehr bedingt funktioniert. Vielmehr müsse über neue aktivere Formen der Sicherheitspolitik nachgedacht werden.“[8] In der ESS wird dem folgendermaßen Rechnung getragen: „Daher müssen wir bereit sein, vor dem Ausbrechen einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden.“ (ESS: 12) Dankenswerterweise könne hiergegen „nicht mit rein militärischen Mitteln vorgegangen werden“, aber eben auch und wohl auch primär. Selbstredend benötigt man deshalb „mehr Mittel für Verteidigung.“ (ESS: 14) Intensiv wird derzeit über eine Aufweichung der Maastricht-Kriterien diskutiert, aus denen die Verteidigungsausgaben ausgeklammert werden sollen.
Viele Aspekte der ESS decken sich mit dem „liberalen Imperialismus“ Robert Coopers, dessen beide Komponenten von ihm als Grundlage der künftigen europäischen Außenpolitik betrachtet werden. Erstens sei dies „der freiwillige Imperialismus der globalen Ökonomie. Er wird normalerweise von einem internationalen Konsortium durch internationale Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank ausgeübt.“ Der zweite Bestandteil des „liberalen Imperialismus“ erinnert verdächtig an die US-amerikanische Sichtweise der internationalen Beziehungen: „Die Herausforderung der postmodernen Welt ist es, mit der Idee doppelter Standards klarzukommen. Unter uns gehen wir auf der Basis von Gesetzen und offener kooperativer Sicherheit um. Aber wenn es um traditionellere Staaten außerhalb des postmodernen Kontinents Europa geht, müssen wir auf die raueren Methoden einer vergangenen Ära zurückgreifen – Gewalt, präventive Angriffe, Irreführung, was auch immer nötig ist, um mit denen klarzukommen, die immer noch im 19. Jahrhundert leben, in dem jeder Staat für sich selber stand. Unter uns halten wir uns an das Gesetz, aber wenn wir im Dschungel operieren, müssen wir ebenfalls das Gesetz des Dschungels anwenden.“[9]
Coopers Forderung, dass zukünftig Staaten, die sich nicht an die kapitalistischen Spielregeln halten, unter Umständen auch militärisch gemaßregelt werden, findet sich auch in der ESS: „Eine Reihe von Staaten haben sich von der internationalen Staatengemeinschaft abgekehrt. Einige haben sich isoliert, andere verstoßen beharrlich gegen die internationalen Normen innerer Staatsführung oder des Verhaltens in den internationalen Beziehungen. Es ist zu wünschen, dass solche Staaten zur internationalen Gemeinschaft zurückfinden. Diejenigen, die hierzu nicht bereit sind, sollten sich darüber im Klaren sein, dass sie dafür einen Preis bezahlen müssen.“ (ESS: 10)
Dies allein steht keineswegs im Widerspruch zu den USA. Es ist lediglich Ausdruck des europäischen Abschieds aus dem „postmodernen Paradies“. Cooper und anderen aus diesem Lager geht es darum, den „freiwilligen Imperialismus der globalen Ökonomie“, sprich die westlich-kapitalistische Interessensgemeinschaft, gegen Bedrohungen abzusichern. Ihr Problem hierbei ist nicht Washingtons imperiale Politik, sondern, dass sie angemessen an deren Vorteilen beteiligt werden. Gleichzeitig geht es darum, die Tendenz der US-Regierung, auf einen Beitrag der Europäer ebenso wenig Wert, wie auf deren Interessen zu legen, rückgängig zu machen. Es geht nun darum, wie es ein Vorstandsmitglied der SPD-nahen Stiftung Wissenschaft und Politik formuliert, „offen über die Konditionen der weiteren sicherheitspolitischen Zusammenarbeit“ zu verhandeln.[10]
Dies kann aber erst erreicht werden, wenn Europa im militärischen Bereich ernstzunehmende Fähigkeiten besitzt. Wenn George W. Bush schreibt: „Wir kommen hier zu einer entscheidenden Zeit in der Geschichte […] der zivilisierten Welt zusammen. Ein Teil dieser Geschichte ist von anderen geschrieben worden, der Rest wird von uns geschrieben werden,“ wird dies von Cooper folgendermaßen kommentiert: „Wenn dieses ›uns‹ auch die Europäer einschließen soll, müssen wir mehr Einfluss auf die Vereinigten Staaten ausüben. Und das bedeutet, wir brauchen mehr Macht – auch mehr militärische Macht.“[11] Dies soll sicherstellen, dass künftig Differenzen bei der Ausbeutung der restlichen Welt nicht ausschließlich zugunsten Washingtons beigelegt werden können. Burden and power sharing – mehr Clinton, weniger Bush – ist die strategische Vision Coopers. Mit anderen Worten die Verfolgung eines „ideellen Gesamtimperialismus“ (Robert Kurz). „The West against the Rest.“
Es gibt einige Hinweise dafür, das sich das transatlantische Verhältnis in eine solche Richtung entwickeln könnte. Insbesondere die beiderseitigen Versuche, die NATO als zentrales Instrument westlicher Interessenswahrung wieder aufzuwerten, sprechen für eine solche Interpretation. Hervorstechend ist hier die Gründung der NATO Response Force (NRF) zur weltweiten Durchführung von NATO-Präventivkriegen, die 2004 einsatzbereit sein soll. Auch die NATO-Übernahme des ISAF-Mandates in Afghanistan deutet auf eine Wiederannäherung hin, wie die Tatsache, dass selbst einige Neokonservative mittlerweile die Notwendigkeit einer gemeinsamen Interessenswahrung betonen.
Allerdings wird dieser Ansatz nur funktionieren, wenn Washington tatsächlich bereit sein sollte, europäische Interessen in einem ungleich höherem Maße als bisher zu respektieren. Für die Zukunft wird deshalb viel davon abhängen, wie sich der „widersprüchliche Doppelstatus der USA als Nationalstaat einerseits und als „ideeller Gesamtimperialist“ andererseits entwickelt.[12]

Imperialer Niedergang

Es ist allerdings zweifelhaft, ob ein Interessensausgleich überhaupt möglich ist. Da die USA erklärtermaßen alles daran setzen wollen ihre Hegemonialposition zu bewahren, würde der Verzicht auf die rigorose Wahrung eigener Interessen diese Stellung gefährden und den graduellen Aufstieg anderer Mächte befördern. Dies wird durch die Analyse von Emmanuel Todd weiter verschärft, der überzeugend nachgewiesen hat, dass sich die Vereinigten Staaten bereits in der Phase eines hegemonialen Abstiegs befinden, in der insbesondere die ökonomische Machtbasis zusehends erodiert. Richtigerweise interpretiert er die gegenwärtige US-Kriegspolitik als verzweifeltes Umsichschlagen, um diesen imperialen Niedergang aufzuhalten.[13]
Für Weltsystemanalytiker wie George Modelski sind die gegenwärtigen Konflikte in ein historisch beobachtbares Muster einordenbar. Ihm zufolge „durchläuft jedes Hegemonialsystem einen Zyklus, der schematisch durch vier Phasen charakterisiert werden kann. Auf die (1) Phase der Existenz einer stabilen Weltmacht folgt zunächst (2) eine Phase der Delegitimation, in der die geltende, durch die hegemoniale Nation bestimmte Weltordnung in Frage gestellt wird. Dieser Verlust an Konsens geht über in eine (3) Periode der Dekonzentration in Gestalt konkurrierender Mächte, deren Rivalitäten schließlich in einen (4) Weltkrieg münden.“[14]
Ganz offensichtlich wurden die Phasen eins und zwei „erfolgreich“ passiert. Die Frage bleibt, ob klare Anzeichen für einen Übergang in die nächste Phase erkennbar sind.

Krisensymptome

Neben dem grundsätzlichen Spannungsverhältnis zwischen unilateralistischer US-Interessenspolitik und den Versuchen, diese über die Einbindung in multilaterale Strukturen abzumildern, lassen sich zahlreiche Konfliktfelder identifizieren, von denen insbesondere drei hervorstechen.
Erstens kämpfen die Vereinigten Staaten und die EU im Bereich der Handelspolitik, vor allem auch im Rüstungssektor – EADS contra Boeing – mit harten Bandagen um Absatzmärkte. Zweitens zeichnen sich grundsätzliche Differenzen hinsichtlich der Ausbeutung und Kontrolle der verbliebenen Weltölreserven ab. Vor allem was die Vorstellungen zur Politik im Mittleren Osten anbelangt, sind deutliche Unterschiede erkennbar. Auch intensiviert sich die Kooperation zwischen Russland – das nach der kurzen energiepolitischen Liaison mit Washington einsah, dass es von dort keine Belohnungen zu erwarten hat – und der EU rapide. Und schließlich ist die Konkurrenz zwischen Dollar und Euro um die Rolle als Weltleitwährung für beide Seiten von enormer Bedeutung. Eine Beendigung der Dollarhegemonie hätte für Washington, angesichts eines Handelsbilanzdefizits von 550 Mrd. Dollar und eines enormen Schuldenberges, katastrophale Folgen.
Der diesbezügliche Zusammenhang zwischen ökonomischen Interessen und militärischer Stärke wurde selten so deutlich formuliert wie von Ex-Verteidigungsstaatssekretär Walter Stützle: „Die Sache ist einfach: Eine Union, die sich nicht verteidigen kann, ist keine Union. Eine harte Währung, die eine schwache Verteidigung hat, ist auf lange Frist keine harte Währung.“[15] Klar wird, dass aus europäischer Sicht militärische Stärke notwendige Bedingung für die Durchsetzung eigener Interessen ist. Vor allem das „alte Europa“ erweist sich hier als Antreiber hin zu einem militarisierten europäischen Gegenblock. Auf dem „Pralienengipfel“ Ende April zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg, wurde explizit versucht, jeglichen Einflussmöglichkeiten der NATO, sprich der USA, auf künftige EU-Einsätze einen Riegel vorzuschieben. Joschka Fischer erwägt sogar die Bildung einer gemeinsam abstimmenden Europäischen Gruppe innerhalb der NATO, also einer Fraktionsbildung, was Washingtons Einfluss auf die Allianz massiv schmälern würde. Zudem werden die knappen Ressourcen primär in Beschaffungsprojekte gesteckt, die eine strategisch unabhängig von US-Kapazitäten einsetzbare EU-Truppe zum Ziel haben. Beispiele sind hier das Gallileo-Satellitensystem und der Airbus A400M. Obwohl die USA alles daran setzen, diese Projekte zu torpedieren, laufen diese Aufrüstungsmaßnahmen nichtsdestotrotz weiter.
Somit ist die EU auf dem besten Wege, „eine Supermacht auf dem europäischen Kontinent [zu werden], ebenbürtig mit den Vereinigten Staaten,“ wie EU-Kommissar Romano Prodi das Hauptziel der Gemeinschaft formulierte.[16] Da die USA kein Interesse an einem gleichberechtigten Europa haben, wird auch von dieser Seite verbal nicht gekleckert. Naturgemäß sind die Neokonservativen dabei am lautesten, wenn etwa Pentagon-Berater Richard Perle „eine Strategie zur Eindämmung des ehemaligen Verbündeten“ Frankreich fordert, weil es dort „Kräfte gibt, die beabsichtigen, Amerikas Weltrolle zu schmälern.“[17] Sein einflussreicher Kollege Michael Leeden geht sogar noch weiter, indem er herausposaunt: „Wir werden den Krieg gegen den Terror weit über die Grenzen des Mittleren Ostens ins Herz Europas verfolgen müssen.“[18]
Dabei beschränkt sich die Skepsis gegenüber der EU nicht auf die Neokonservativen. Eine gemeinsame Erklärung zahlreicher prominenter Demokraten forderte kürzlich, US-Offiziellen müsse ein ständiger Sitz in zentralen EU-Gremien eingeräumt werden, um sicherzustellen, dass der transatlantische Graben nicht noch breiter werde.[19] Ähnlich skurril und ebenso alarmierend sind Äußerungen des demokratischen Senators Carl Levin, der eine Breitseite auf das „alte Europa“ abfeuerte, indem er die Frage aufwarf, ob die NATO künftig nicht die Mitgliedschaft eines Landes suspendieren müsse, wenn es sich „nicht mehr länger zu den fundamentalen Werten der Allianz bekennt.“[20] Während manche versuchen, die Gemeinsamkeiten der „westlichen Wertegemeinschaft“ hervorzuheben, wird inzwischen immer offener auf beiden Seiten des Atlantiks von deutlich wahrnehmbaren kulturellen Unterschieden, ja Gräben gesprochen.[21] Es gibt zahlreiche weitere Hinweise, dass die Konflikte substanzieller Art sind. Beispielsweise die absurde Episode um die „Freiheitsfritten“, aber auch so gravierende Drohungen wie die Washingtons, als Reaktion auf Belgiens US-kritische Politik eine Verlegung des NATO-Hauptquartiers in Erwägung zu ziehen.

Die Eigenlogik des Militärischen

Ob sich der gegenwärtige Trend weiter verschärft, wird sich an zwei Fragen entscheiden. Einmal, ob die Vereinigten Staaten mit ihrer unilateralistischen Hegemonialpolitik fortfahren, was sehr wahrscheinlich ist. Und zweitens, ob die Europäer zur Abgabe nationalstaatlicher Kompetenzen bereit sind, die Vorbedingung einer ernst zu nehmenden Militarisierung ist.
Zur Behinderung dieses Prozesses können die Vereinigten Staaten auf das „neue Europa“ wenig Hoffnung setzen. Über kurz oder lang werden diese Staaten sich allein schon aufgrund ihrer wirtschaftlichen Erfordernisse zwangsläufig dem „alten Europa“ zuwenden. Wichtiger ist die künftige Rolle Großbritanniens. Die Schaffung eines Gegenpols ist ohne London ungleich schwerer zu erreichen. Augenblicklich deutet wenig auf einen Bruch Großbritanniens mit den USA hin. Im Gegenteil.
Trotzdem sprechen viele Indizien dafür, dass Europa sich auf Kollisionskurs mit den USA befindet. Deshalb ist es umso falscher, den gegenwärtigen europäischen Militarisierungstendenzen eine Absolution zu erteilen, wie es selbst hellsichtige Analytiker wie Todd tun. Er fordert die EU auf, sich zu emanzipieren und „zu einer echten strategischen Unabhängigkeit [zu] gelangen, indem es seine nukleare Schlagkraft erhöht.“[22] Eine unilateralistisch-militaristische Macht ist schon zuviel, es braucht keine Zweite.
Genau diese würde aber aus einem militärisch unterfütterten Gegenmachtprojekt erwachsen. Selbst Cooper konstatiert, es gäbe „keine Garantie dafür, dass die amerikanischen und europäischen Interessen immer übereinstimmen werden.“ Entlarvend ist seine Beschreibung der Eigenlogik des Militärischen: „Würde Europa anders handeln, wenn es mehr militärische Macht hätte? Wahrscheinlich ja. Auf wirtschaftlichem Gebiet, wo Europa mehr oder weniger als Einheit handelt und ein Gewicht ähnlich dem der Vereinigten Staaten hat, geht es sehr viel rauer und härter vor.“[23] Dass angesichts der zahlreichen Interessenskonflikte heftigste Auseinandersetzungen mit Washington vermieden werden können, ist für viele Analytiker mehr als unwahrscheinlich: „Die transatlantische Rivalität hat bereits begonnen und wird sich unweigerlich verschärfen. Machtzentren konkurrieren von Natur aus um ihre Stellung, Einfluss und Prestige.“[24]
Offenbar schaut man sich in Europa bereits nach Partnern für den Prozess einer Gegenmachtbildung um: „Die Europäische Union unterhält Beziehungen in der ganzen Welt, aber in den nächsten Jahren sollten wir uns besonders auf die Entwicklung strategischer Partnerschaften mit Russland, Japan, China, Kanada und Indien konzentrieren. (ESS: 15) Viele fordern bereits offen die Bildung eines eurasischen Gegenblocks, die Achse Paris-Berlin-Moskau. Dementsprechend schreitet auch die militärische Zusammenarbeit dieser Länder immer weiter voran.[25]
Die Militarisierung der EU wird also entweder auf einen westlichen „ideellen Gesamtimperialismus“, oder, was wahrscheinlicher ist, einen militarisierten europäischen Gegenblock hinauslaufen. Beides ist aus linker Sicht nicht akzeptabel, weshalb es kein plausibles Argument gibt, diesen Prozess zu befürworten.
Es handelt sich hierbei allerdings keineswegs um eine unaufhaltsame Entwicklung. Denn ob das Militarisierungsprojekt gelingt, wird ganz erheblich davon abhängen, ob gegenüber der Bevölkerung die hierfür notwendigen finanziellen Mittel durchgesetzt werden können. Genau hier sind die Ansätze für Widerstand zu suchen, um den begonnenen Militarisierungsprozess aufzuhalten, wenn möglich sogar rückgängig zu machen. Denn die Bevölkerung teilt keineswegs die Sichtweise der Herrschenden. Eine repräsentative Umfrage ergab, dass 80% der Deutschen militärische Proliferationsbekämpfung, Kernstück von Bush-Doktrin und Europäischer Sicherheitsstrategie, ablehnen.[26] Angesichts des fortschreitenden Sozialabbaus muss thematisiert werden, weshalb man aufrüstet um Gefahren zu bekämpfen, die für die Mehrheit der Deutschen nicht mit militärischen Mitteln bekämpft werden können.
Weiter ist der Determinismus mancher Weltsystemanalytiker kritisch zu hinterfragen. Denn ein absteigender Hegemonialzyklus muss keineswegs zwangsläufig zu einem Krieg führen. Erinnert sei an den friedlichen Untergang des British Empire wie auch der Sowjetunion. Es gilt also in den USA jene Kräfte zu stärken, die jegliche militärische Interessenswahrung ablehnen. Jene Gruppen, die in Kauf nehmen, dass Washington dadurch seine Hegemonialposition mittelfristig einbüßen wird, und die sich für eine gerechtere Organisation der hieraus entstehenden multipolaren Welt einsetzen, insbesondere was die in diesem Kontext häufig völlig vernachlässigte amerikanisch-europäische Ausbeutung der Dritten Welt anbelangt.

Anmerkungen:
[1] Kagan, Robert: Power and Weakness, in: Policy Review, June-July 2002.
[2] Habermas, Jürgen/Derrida, Jacques: Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas, in: FAZ, 31.5.03.
[3] Vgl. z.B. Chiesa, Giulietto: Das Zeitalter des Imperiums. Europas Rolle im Kampf um die Weltherrschaft, Hamburg 2003.
[4] Nassauer, Otfried: Eine europäische Flagge, in: SPW, Dezember 2000.
[5] Elfferding, Wieland: Euronationalismus statt Pax Americana?, in: Freitag 23/2003.
[6] Neuber, Arno: „Kerneuropa“ auf dem Kriegspfad, IMI-Standpunkt 2003/058.
[7] Cooper, Robert: Macht und Ohnmacht aus europäischer Sicht, in: Internationale Politik 5/03, S. 31-38, hier S. 35.
[8] Fitschen, Pattrick: Europas strategische Antwort auf die Nationale Sicherheitsstrategie der USA, Konrad-Adenauer-Stiftung, 22.7.03, S. 3.
[9] Cooper, Robert: The new liberal imperialism, in: The Observer, 7.4.02.
[10] Vogel, Heinrich: Das Ende des „Westens“, in: Internationale Politik 6/03, S. 27-34, hier S. 27.
[11] Cooper 2003: 38.
[12] Kurz, Robert: Weltordnungskrieg: Die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef 2003, S. 36.
[13] Todd, Emmanuel: Weltmacht USA – Ein Nachruf, München 2003.
[14] Stanger, Michael: Weltwirtschaftliche Hegemonie und Weltgeld, FU Politische Wissenschaft, Arbeitspapier 3/1990, S. 12.
[15] Pflüger, Tobias: Mit Hochgeschwindigkeit in Richtung Militärmacht, IMI-Aktuell-00-12-04.
[16] Kupchan, Charles: The End of the American Era, New York 2002, S. 155.
[17] Pentagon Adviser: France „No Longer Ally“, News Max Wires, 5.2.03.
[18] Laughland, John: Becoming the 51st State, Antiwar.com, 20.5.03.
[19] Joint Declaration: Renewing the Transatlantic Partnership, CSIS, 14.5.03, S. 2.
[20] Pengelly, Owen: NATO’s Angry Sponsors, BASIC Notes, 13.6.03.
[21] Vgl. bspw. Hanson, Victor: Goodbye to Europe?, in: Commentary Magazine, October 2002; Vogel 2003.
[22] Todd 2003: 217.
[23] Cooper 2003: 36, 34.
[24] Kupchan, Charles: The End of the West, in: The Atlantic Monthly, November 2002.
[25] Vgl. die Beiträge auf der Internetseite www.paris-berlin-moscou.org.
[26] Henken, Lühr: Begräbt die EU ihren zivilen Charakter? IMI-Standpunkt 2003/066.

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Jürgen Wagner ist Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung Tübingen (www.imi-online.de) und Autor (zusammen mit Claudia Haydt und Tobias Pflüger) von „Globalisierung und Krieg“, AttacBasisText 5, Hamburg 2003.