IMI-Standpunkt 2003/059 - in: Neues Deutschland, 30.05.2003

Nicht »Friedensmacht«, sondern militärische Gegenkraft

Sicherheitspolitisch sind USA und Europäische Union kaum voneinander entfernt

von: Theo Wiese / Tobias Pflüger / Pressebericht / Interview / Dokumentation | Veröffentlicht am: 2. Juni 2003

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Tobias Pflüger arbeitet in der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. (www.imi-online.de). Mit ihm sprach Theo Wiese.

ND: Das »alte Europa« erweckte in der Debatte um den Irak-Krieg den Anschein, Friedenskraft und -macht zu sein. Zugleich plant es den Aufbau einer europäischen Eingreiftruppe. Trügt der friedliche Schein?

Pflüger: Viele Menschen haben die Illusion, dass auf der einen Seite die USA, auf der anderen die »gute EU« stünden. Doch die außenpolitischen Grundideen sind bei beiden im Grunde gleich. Nur in der Umsetzung unterscheiden sie sich. Wie den USA geht es den EU-Staaten um die Durchsetzung der eigenen Interessen mit wirtschaftlichen und militärischen Mitteln. Der »Pralinengipfel« in Brüssel Ende April hat gezeigt, dass die Regierungen, die sich gegen den Irak-Krieg wandten, nur gegen diesen Krieg waren, nicht aber gegen Krieg als Mittel der Politik. Belgien, Frankreich, Luxemburg und Deutschland verabredeten eine weitere stärkere militärische und Rüstungszusammenarbeit. So ist ein eigenständiger Militärstab der EU vorgesehen. Bei der Herausbildung einer Militärmacht EU sollen einige vorangehen können. Das alte Kerneuropakonzept findet sich hier auf der militärischen Ebene wieder. In der EU werden so weiter kriegsführungsfähige Strukturen herausgebildet. Das »alte Europa« hat nicht die Intention, »Friedensmacht« zu sein, sondern will seine eigenen Interessen sowohl wirtschaftlich als eben auch militärisch durchsetzen. Ziel ist auch eine Gegen-Militärmacht. Die Grundstrukturen sind gleich: Es geht der EU wie den USA darum, Kriege gegen Bevölkerungen im Süden führen zu können. Frankreich zeigt das ja schon zum Beispiel in der Elfenbeinküste.

Und wo steht das Deutschland?

Die Bundesrepublik hat eine Doppelstrategie angewandt. Sie war öffentlich und diplomatisch gegen diesen Krieg und hat ihn zugleich im militärischen Bereich wesentlich ermöglicht. Die Ziele sind klar: Es geht darum, dass deutsche Firmen nicht ausgeschlossen sind beim Wiederaufbau in Irak, es geht um ein enges Verhältnis zu den USA und um den Aufbau einer Gegen-Militär-Macht EU. Die Wut der US-Regierung richtete sich ja sichtlich schwerpunktmäßig gegen Frankreich und nicht gegen Deutschland, weil Frankreich noch eindeutiger auf dieses Gegenmachtmodell setzt.

Sie widersprechen den Hoffnungen auf ein Europa als Friedensmacht. Wie sieht die Entwicklung der europäischen Militärmacht aus?

Diese war schon im Maastricht-Vertrag angelegt und läuft auf verschiedenen Ebenen ab. Da ist zum einen der Aufbau der EU-Interventionstruppe, die ab diesem Jahr einsatzfähig sein wird mit etwa 60000 Soldaten, davon – um die größten Kontingente zu nennen – 12000 aus Frankreich, 12500 aus Großbritannien und 18000 aus Deutschland. Zumeist wird in der Diskussion übersehen, dass EU-Militär-Kapazitäten schon länger vorhanden sind, in Gestalt der verschiedenen bi- und multinationalen Korps, wie das deutsch-niederländische, das Euro-Korps, das deutsch-dänisch-polnische Korps. Hinzu kommt die Entwicklung in der europäischen Kriegswaffenindustrie mit dem Trend zur Oligopolisierung. Eine schlagkräftige europäische Kriegswaffenwirtschaft soll der US-amerikanischen Konkurrenz machen, das wird ganz offen gesagt und zugegeben.

Das schaut aus wie klassische Konkurrenz?

Ja, es ist interimperiale Konkurrenz, im wirtschaftlichen Bereich auf gleicher Augenhöhe, im militärischen Bereich wird »nachgerüstet«. Es geht um die militärische Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen gegen den Süden. Unterschiede liegen in Interessen in verschiedenen Regionen der Welt. Da ist das Beispiel Iran. Sollten die USA diesen Staat tatsächlich angreifen, wird es harte Interessensauseinandersetzungen mit der Bundesrepublik aufgrund der guten deutsch-iranischen Wirtschaftsbeziehungen geben. Die Bundesregierung hat überhaupt kein Interesse an einem Krieg gegen Iran. Die EU-Staaten sind sich in den Grundideen einig: Es sollen Strukturen bereitgestellt und vorgehalten werden, um Kriege führen zu können. Neu ist, dass dies in unterschiedlichen Koalitionsvarianten möglich sein soll. Es geht um die Möglichkeit, eigenständig Interventions- und Stationierungseinsätze in wechselnden Kombinationen unter der Flagge der EU durchführen zu können.

Nun setzen aber die Friedensbewegungen viel Hoffnung auf die Diskussion um die europäische Verfassung.

Ein Problem ist, dass die Debatte um die Verfassung von den realen Interessen ablenken kann. Außerdem schert die Regierenden erfahrungsgemäß wenig, was festgeschrieben ist, wenn ihnen das Gegenteil politisch notwendig erscheint.