Pressebericht / in: Hompeage des Bundes der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar (BBMN)
Bericht von der Veranstaltung des BBMN zum 17. Jahrestag der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl am Samstag, den 26. April 2003.
Organisation: BBMN, Aktion "Strom ohne Atom" Stuttgart, Arbeitskreis Kommunalpolitik Kirchheim am Neckar.
von: Dokumentation / Pressebericht / Joachim Wölk / BBMN | Veröffentlicht am: 8. Mai 2003
http://www.bbmn.de/Archiv/26.04.2003/26.04.2003.html
Zunächst wurden um 18 Uhr im Kulturzentrum „Alte Schule“ in Kirchheim/Neckar zwei Dokumentarfilme aus der UdSSR gezeigt, die etwa 1989, also um den 2. Jahrestag des Unglücks, entstanden sind.
Entgegen der Planung hat Dr. Jörg Schmid (Aktion Strom ohne Atom) zwei statt einem Film von der Ev. Medienzentrale mitgebracht. Es wurde beschlossen, zunächst den längeren, 90 Minuten langen, und danach den kürzeren Film (20 Minuten) anzusehen. Aus Zeitmangel wurde der längere nach 45 Minuten abgebrochen, damit noch Zeit für den anderen Film blieb.
Der erste Film hatte den Titel „Tschernobyl – Die Schwelle“ (Regie: Rollan Sergijenko, UdSSR 1986-88). Mitwirkende des Films sind Betroffene, vor allem ehemalige Angestellte des Kraftwerks, die evakuiert wurden und jetzt irgendwo, der Heimat entwurzelt, leben und das Vergessen verhindern wollen. Immer noch wird die Strahlenbelastung der Bevölkerung von den Behörden verharmlost, so wie von Anfang an die Evakuierungen zu spät anfingen, als „zeitweise“ deklariert wurden (die Personen sollten nur die wichtigsten Dokumente und Essen für einen Tag mitnehmen). Hier die Beschreibung des Films von der Ev. Medienzentrale Stuttgart: „Künstlerisch ambitionierte Auseinandersetzung mit den Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl als ein leidenschaftlicher Aufruf wider das Vergessen. Überlebende verdeutlichen die verheerenden gesundheitlichen, ökologischen und psychischen Auswirkungen und gedenken derer, die sich ohne zu zögern opferten und damit verhinderten, dass große Teile Europas so unbewohnbar wurden wie Pripjat, der Hauptschauplatz des Films. Diese Siedlung für Angestellte des KKW Tschernobyl wurde zur Geisterstadt. Der Film klagt an: Behördenschlendrian und menschenverachtende Beschwichtigungsversuche angesichts der schleichenden Symptome lautloser Strahlenschäden. Die bedrückenden und erschütternden Bilder werden von Texten und Liedern russischer Künstler begleitet, die sich für eine grundlegende ökologische und gesellschaftliche Erneuerung der Sowjetunion einsetzen.“
Der zweite Film hatte den Titel „Mikrofon (Microphone)“ (Regisseur G. Schkliarewskij, UdSSR 1989) Er hat ein recht ähnliches Thema, die Mitwirkenden sind aber diesmal keine ehemaligen Angestellten und politisch Aktive, sondern die einfache Landbevölkerung in aus unerfindlichen Gründen nicht evakuierten Dörfern, denen von den Behörden verboten wird, ihre selbsterzeugten Nahrungsmittel zu essen oder zu verkaufen, die aber auch keine Alternativen in Form unbelasteter Lebensmittel bekommen können. Ein missgebildetes Ferkel wird gezeigt. Manche Behörden sprechen in Gegensatz dazu von „eingebildeten Strahlenkranken“, so als ob man sich gegen Strahlen erst dann schützen dürfe, wenn man bereits daran erkrankt ist. Es wird eine regelrechte Desinformationspolitik betrieben.
Hier die Beschreibung des Films von der Ev. Medienzentrale Stuttgart:
„Wochenschauaufnahmen zeigen die Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes Tschernobyl. In pathetischen Worten wird der Sieg des Sozialismus, der Wissenschaft und des Fortschritts gefeiert. Dagegen setzt der Film den Bericht über das Leben und die Bedrohung derjenigen Menschen, die heute unmittelbar an der gesperrten Zone leben und einer Strahlung von 2600 Mikroröntgen pro Stunde ausgesetzt sind. Er macht auch deutlich, welche grotesken Beschwichtigungsversuche von offizieller Seite gemacht wurden, um vom eigentlichen Inferno abzulenken. Die Menschen äußern den Verdacht, als Versuchsobjekte missbraucht zu werden.“
Ich kann leider nicht verschweigen, dass die vielen vorgetragenen russischen oder ukrainischen Lieder im ersten Film trotz deutscher Untertexte insgesamt eher ermüdend als interessierend waren. Eine lyrische Stimmung kam jedenfalls für mich als des Russischen Unkundigen nicht auf. Ich kann leider auch nicht nachvollziehen, inwieweit diese Filme auch heute noch aktuell sind (ich fürchte allerdings, dass sich inzwischen nichts wesentliches geändert hat).
Im Anschluss fand auf dem Besucherparkplatz vor dem GKN-Tor eine Mahn- und Protestaktion statt. Es sprachen Tobias Pflüger (Geschäftsführer der Informationsstelle Militarisierung Tübingen) und Dr. Jörg Schmid.
T. Pflüger umspann in seiner Rede die aktuellen Streitpunkte Irakkrieg, Militarisierung, Atombombe und Atomkraft und versuchte, die Zusammenhänge zu verdeutlichen. Die Behauptung, der Irak habe Massenvernichtungswaffen, war nur ein Vorwand für die Durchsetzung der amerikanischen Hegemonialordnung und für den Zugang zum Öl. Dass es nicht darum ging, den Irak abzurüsten, zeigte Richard Perle: „Was soll das Affentheater mit den UN-Waffeninspektoren?“ Wir steuern möglicherweise auf einen permanenten Krieg zu: erst Afghanistan, dann Irak, dann Syrien, …
Deutschland fährt eindeutig eine Doppelstrategie: vordergründig gegen den Krieg eingestellt, werden doch alle Truppentransporte durch Deutschland toleriert, obwohl Grundgesetz-Artikel 26(1) jegliche Teilnahme oder Vorbereitung eines Angriffskrieges unter Strafe stellt. Von Frankfurt/Main Airbase ausgehende Transporte werden offiziell als für den Schutz Israels notwendig dargestellt, obwohl klar ist, dass wesentlich mehr Material als hierfür notwendig ausgeflogen wurde und außerdem fast ausschließlich nach Kuwait ging. Wäre z.B. den B52-Bombern der Überflug Deutschlands verboten worden, wäre der Krieg in dieser Form nicht möglich gewesen. Deutschland befindet sich damit de facto wie Jordanien in der „Allianz der Willigen“. Es zeigt sich jetzt auch eine zunehmende Militarisierung der EU. Die EU-Streitkräfte sollen für Präventivkriege fähig gemacht werden. Die Militarisierungsgegner müssen sich mit anderen kritischen Kräften, z.B. Anti-Atom-Bewegung, verbünden, um genügend Druck von unten auf die Regierungen auszuüben. Da diese Kräfte mobilisierungsfähig seien, hätte T. Pflüger keine Bange, dass diese Strategie des Drucks von unten nicht funktionieren würde.
Dr. Jörg Schmid sprach einige Worte zur Geschichte des Reaktorunglücks. Eine Dokumentation des Unglücksablaufs am 25. und 26. 4. wurde vorgelesen. Noch heute ist nicht klar, wie viel Nuklear- Brennstoff denn nun eigentlich noch im Reaktor verblieben ist. Um die Geschehnisse wird immer noch viel Geheimniskrämerei betrieben. Die deutsche Regierung, die sich den Ausstieg aus der Atomkraft auf die Fahne geschrieben hat, genehmigt derweil den Betrieb des neuen Forschungsreaktors FRM-II in Garching, der mit hochangereichertem waffenfähigem Uran betrieben wird, nachdem sie schon dabei ist, jede Menge von Atommüll-Zwischenlagern zu genehmigen. Wird der Wähler an der Nase herumgeführt?