IMI-Standpunkt 2003/36, ISSN 1611-2725, in: junge Welt vom 07.04.2003

Deutsche Kollateralgewinne: Militärmacht Kerneuropa?

Interview mit Tobias Pflüger, Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung

von: Junge Welt/ Michael Liebler / Interview / Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 16. April 2003

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F: Bundeskanzler Schröder sorgte unlängst mit seinen Äußerungen, man müsse über die Finanzierung der Bundeswehr neu nachdenken, für Aufregung innerhalb der Koalition. Später nahm er dieses Statement zurück. War es nur so dahin gesagt?

Verteidigungsminister Peter Struck hat ja nach einer ersten Irritation darauf hingewiesen, daß die Umstrukturierung der Bundeswehr planmäßig laufe. Es ist eine Umschichtung der Militärausgaben in zwei Richtungen vorgesehen: Zum einem werden die Ausgaben für Beschaffungsprojekte insgesamt erhöht. Zum anderen forciert man innerhalb dieser Beschaffungsprojekte diejenigen, mit denen auch Interventionen oder Stationierungseinsätze möglich sind. Das heißt, der Umbau der Bundeswehr zur Interventionsarmee wird vorangetrieben.

F: Bedeutet das Nein der Bundesregierung zum Irak-Krieg, daß sie gegen Präventivkriege ist?

Nein. Zentraler Punkt der Veränderungen bei der Bundeswehr sind die neuen verteidigungspolitischen Richtlinien, die im Mai vorgelegt werden sollen. Bundeswehr-Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan sagt, daß in ihnen auch das Konzept des Präventivkriegs eine Rolle spiele. Und das bedeutet natürlich, daß man bei der Bundeswehr ähnliche strategische Grundlagen wie die in den USA bereits geltenden (National Security Strategy) einführen will.

F: Haben Schröders Äußerungen mit der Spaltung Europas in der Kriegsfrage zu tun? Könnten sie auf eine eigenständige Rolle der Bundeswehr abzielen?

Die französische, deutsche und belgische Regierung kündigten an, sich auf einem Sondergipfel am 29. April über eine Forcierung gemeinsamer Militärpolitik unterhalten zu wollen – sowohl im Industriebereich als auch im Bereich der Armeen. Und das bedeutet die Konkretisierung dessen, was Fischer und der französische Außenminister de Villepin in den EU-Konvent eingebracht haben: nämlich daß in Zukunft auch Koalitionen einzelner Staaten innerhalb der EU Militärinterventionen durchführen können. Und insofern fügt sich dies alles sehr gut zur Entwicklung einer Gegenmacht Europa zusammen.

F: Der Chef des auswärtigen Ausschusses in der russischen Duma, Dimitri Rogossin, phantasierte über eine Eurasische Union, in der Frankreich, Deutschland und Rußland den Kern einer Gegenmacht bilden. Könnten sich die globalen politischen Verhältnisse derartig drastisch verschieben?

Was ich für sehr realistisch halte, ist, daß diejenigen Länder in der EU, die eine andere Position haben als die britische und die US-amerikanische Regierung, dieses Gegenmachtmodell vorantreiben und dann auch jeweils ad-hoc-Koalitionen mit Rußland oder China bilden. Eine feste Koalition Rußland/China mit Deutschland/Frankreich sehe ich noch nicht, aber man stimmt sich, wie im Vorfeld des Krieges im UN-Sicherheitsrat, durchaus miteinander ab und nimmt auf die gegenseitigen Positionen Rücksicht. Und insofern denke ich, es hat eine Neuordnung innerhalb der Weltpolitik gegeben. Darin zeichnen sich zwar noch keine eindeutigen Konstellationen ab, aber es ist relativ deutlich, daß eine Reihe von Ländern eine Weltordnung, die im wesentlichen von einem Staat geprägt wird, nicht akzeptiert.

F: Läßt sich für die Antikriegsbewegung aus dieser Debatte irgend etwas Positives ablesen?

Nein. Unsere Position als Antikriegs- und Friedensbewegung muß eindeutig lauten: Solche Gegenmachtmodelle führen nur zu einer Kopie der Hegemonialmacht USA. Dem EU-Konvent wurde unlängst der sogenannte Barnier-Bericht für den Bereich der Verteidigung vorgelegt, in dem die Ausgaben der EU-Staaten im Militärbereich zusammengerechnet und gefordert wurde, sie müßten mindestens so hoch sein wie die der USA. Das ist eindeutig der Versuch, eine interimperiale Aufrechnung durchzuführen. Wenn wir also tatsächlich die Herausbildung einer Gegenmacht erleben, dann müssen wir genauso gegen Interventionskriege Stellung beziehen, die von dieser ausgehen. Und das heißt für uns in Deutschland: Der Kampf gegen die Militarisierung der Außenpolitik ist noch wichtiger als bisher.

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