IMI-Analyse 2003/014 - in: Volksstimme, Nr. 9, 27.2.2003 // ISSN 1611-213X

Vom Riss zum Kompromiss

Lieferung von Patriot-Raketen an die Türkei und Israel, deutsche Soldaten in AWACS-Flugzeugen, Spürpanzer in Kuwait: Die deutsche Regierung vollzieht den Schwenk von der verdeckten Unterstützung des US-Aufmarsches am Golf - etwa durch die Gewährung von Überflugsrechten - zur offenen Kriegsunterstützung.

von: Dirk Eckert | Veröffentlicht am: 10. März 2003

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Zunächst schien es noch so, als würde die EU von den Meinungsverschiedenheiten ihrer Mitglieder in der Irak-Frage verschont bleiben. Paris, Berlin und London sind sich zwar nicht einig darüber, wieweit die Unterstützung der US-Politik gehen sollte. Trotzdem bemühten sich alle Seiten, ihre Differenzen nicht auf die Union zu übertragen. Die EU-Außenminister fanden am 27. Jänner eine gemeinsame Linie. Demnach setzte die EU auf weitere UN-Inspektionen im Irak und bekräftigte ihre Unterstützung für die UN-Resolution 1441.

Brief der Acht

Die Harmonie währte nicht lange. Am 30. Jänner veröffentlichten die Regierungschefs von Großbritannien, Italien, Spanien, Portugal, Tschechien, Ungarn, Polen und Dänemark den so genannten „Brief der Acht“, dem sich später noch Slowenien und Lettland anschlossen. In Deutschland bekundete die CDU-Vorsitzende Angela Merkel, sie hätte den Brief auch unterschrieben, wenn sie Regierungsverantwortung hätte.

Das hätte zu ihr gepasst. Inhaltlich ist jede Zeile des Briefes eine Zumutung. Ganz im Stile der Bush-Regierung wird eine Verbindung zwischen Saddam Hussein und Al-Kaida herbei geschrieben und vor der „Kombination aus Massenvernichtungswaffen und Terrorismus“ gewarnt. Den Vereinigten Staaten bescheinigen die Autoren, mit „Mut“, „Großzügigkeit“ und „Weitsicht“ „Europa im 20. Jahrhundert gleich zwei Mal von Tyrannei befreit“ zu haben: „von Nazi-Herrschaft und Kommunismus“. Und so weiter.

Der Brief der Acht schlug ein wie eine Bombe. Die deutsche Regierung warf den Unterzeichnern ein Abweichen von der gemeinsamen Linie vor. „Die Stärke der Union liegt in der gemeinsamen Position“, mahnte der deutsche Regierungssprecher Béla Anda. Die Unterzeichnerländer sahen sich hingegen durch die bisherigen EU-Beschlüsse gedeckt. Damit war die Spaltung der Union in der Irak-Frage deutlich sichtbar. Griechenland, das gerade die EU-Präsidentschaft inne hatte, erwog einen Sondergipfel.

Die EU-Mitglieder, die den Brief unterschrieben hatten, hätten gegen den Geist des Vertrages von Nizza verstoßen, äußerten einige Diplomaten in Brüssel, wie die „Frankfurter Rundschau“ berichtete. Dort heißt es in Artikel 11 Absatz 9, die Mitgliedsstaaten hätten alles zu unterlassen, was der Wirksamkeit der EU „als kohärente Kraft in den internationalen Beziehungen schaden könnte“. Ein richtiger Verstoß gegen den Vertrag konnte der Brief freilich nicht sein, da der Nizza-Vertrag erst einige Tage später in Kraft trat, am 1. Februar.

Blamage für Berlin-Paris

Die Zahl der europäischen Länder, die sich der Bush-Regierung anschlossen, stieg in den folgenden Tagen sogar noch an. Am 5. Februar, kurz nach der Multimedia-Präsentation von US-Außenminister Colin Powell im UN-Sicherheitsrat über irakische Massenvernichtungswaffen, veröffentlichte die „Vilnius-Gruppe“, bestehend aus Albanien, Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Mazedonien, Rumänien, Slowenien und der Slowakei, einen Brief, in dem sie sich hinter die US-Regierung stellten.

Für Frankreich und Deutschland war der Brief der Acht eine besondere Blamage. Erst kurz vorher, anlässlich der Feiern zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrages in Paris, hatten beide Länder ihr Vorgehen in der Irak-Frage abgestimmt und ihren Führungsanspruch in Europa bekräftigt. Chirac sprach dabei von einem „deutsch-französischen Tandem“, und Paris und Berlin beschlossen, sich „immer enger über Fragen der Sicherheit und der Verteidigung in der Europäischen Union“ abzustimmen. Das war so deutlich, dass Schröder sich genötigt sah zu versichern, dass die Zusammenarbeit beider Ländern „gegen niemand gerichtet“ sei und auch „niemanden dominieren“ solle.

Damit betrieben Paris und Berlin genau das, was sie den „Acht“ später vorwerfen sollten: eigene Außenpolitik an der EU vorbei. Und sie betreiben sie weiter: Am 10. Februar gingen Frankreich, Deutschland und Russland mit einer gemeinsamen Erklärung an die Öffentlichkeit. Der „Einsatz von Gewalt“ wird darin nicht mehr kategorisch ausgeschlossen, auch wenn er nur als „letztes Mittel“ bezeichnet wird. Diese Formel sollte in den nächsten Wochen noch öfter Verwendung finden. Für die deutsche Bundesregierung kam sie einem Abrücken von der prinzipiellen Kriegsablehnung gleich, die Schröder im Januar auf einer SPD-Wahlkampfveranstaltung in Goslar formuliert hatte.

Rache an der NATO

Deutschland und Frankreich revanchierten sich schnell dafür, dass sie in der EU brüskiert worden waren, und verweigerten ihrerseits in der NATO die Gefolgschaft gegenüber den USA, der Führungsmacht im atlantischen Bündnis. Die Gelegenheit dazu kam, als in der NATO über Planungen für den Fall eines irakischen Angriffs auf die Türkei beraten wurden. Experten halten dieses Szenario zwar für gänzlich unwahrscheinlich und rechnen eher damit, dass die Türkei im Kriegsfall in den Nordirak einmarschiert, um die Bildung eines Kurdenstaates zu unterbinden.

Trotzdem stand das Thema im NATO-Rat auf der Tagesordnung. Wie auch sonst üblich, beschloss das Gremium, Konzepte für den Bündnisfall auszuarbeiten. Der Beschluss sollte in Kraft treten, wenn bis zum 10. Februar kein Mitgliedsstaat Einspruch erhebt. Doch genau das taten Belgien und Frankreich in letzter Minute. Deutschland schloss sich dem Veto an, wenn auch formal zu spät. Jetzt war der Spaltpilz an die NATO weitergegeben worden. US-Botschafter Nicholas Burns sah das Bündnis „vor einer Glaubwürdigkeitskrise“.

Die drei Länder rechtfertigten ihr Verhalten damit, keinen Beschluss fassen zu wollen, der „auch als Vorbereitung eines militärischen Eingreifens im Irak gewertet werden könnte“, so der Berliner Regierungssprecher Béla Anda. Doch im Hintergrund gingen genau diese Vorbereitungen weiter – unter deutscher Beteiligung: Zeitgleich zum Veto bestätigte das Berliner Verteidigungsministerium, Patriot-Raketen über die Niederlande an die Türkei zu liefern. Das sei „logisch mit dem Veto zur Planung kaum in Einklang zu bringen“, befand der ehemalige General Klaus Naumann in der „Welt“ und sah die NATO schon als „erstes Opfer Saddam Husseins“: „Planung zu stoppen, das legt die Axt an die Wurzeln der NATO.“ Tatsächlich hatte das Veto viel mit transatlantischen Streiterein zu tun und wenig mit den Kriegsvorbereitungen, die ungehindert weiter gingen.

Erst nach tagelangen Verhandlungen fand die NATO Mitte Februar doch noch einen Kompromiss. In der Sache blieb alles beim Alten – die Beistandsplanungen konnten anlaufen. Belgien setzte jedoch einen Zusatz durch: „Diese Entscheidung bezieht sich nur auf die Verteidigung der Türkei und greift keiner anderen Operation der Nato vor.“ Im Anschluss erklärten Frankreich, Belgien und Deutschland noch, der „Einsatz von Gewalt“ dürfe „nur ein letztes Mittel darstellen“. Nachdem die NATO den Weg frei gemacht hatte, verlegte der oberste alliierte Befehlshaber in Europa, James L. Jones, sofort AWACS-Aufklärungsflugzeuge von Geilenkirchen in die Türkei. Dort sollen sie den Luftraum überwachen.

Offene Kriegsunterstützung

Der EU gelang es am 17. Februar auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Brüssel, die entstandenen Risse wieder zuzuschütten. Wie in der deutsch-französisch-russischen Erklärung heißt es hier, Gewalt dürfe als letztes Mittel nicht ausgeschlossen werden. Der Kompromiss enthält weitere wichtige Elemente, die der EU eines Tages ermöglichen, doch noch am Krieg gegen den Irak teilzunehmen.

So wird dem Irak die volle und alleinige Verantwortung zugewiesen: „Es ist Sache des irakischen Regimes, diese Krise zu beenden, indem es die Forderungen des Sicherheitsrates erfüllt.“ Und erstmals wird darauf hingewiesen, dass die UN-Inspektionen befristet werden müssten, wenn auch ohne konkretes Datum: „Die Inspektionen können jedoch nicht unbegrenzt fortgesetzt werden, wenn die volle Kooperation von irakischer Seite ausbleibt.“

Jetzt fehlt also nur noch ein glaubwürdiger Anlass. Dann droht, dass die deutsche Regierung von der bisher praktizierten verdeckten Unterstützung des US-Aufmarsches am Golf – etwa durch die Gewährung von Überflugsrechten – zur offenen Kriegsunterstützung übergeht. Mit der Lieferung von Patriot-Raketen an die Türkei und Israel, deutschen Soldaten in AWACS-Flugzeugen, Spürpanzern in Kuwait sind schon Fakten geschaffen, die den Schwenk in letzter Minute noch erleichtern.

Chirac stimmte dem Kompromiss nicht zu, ohne noch nachzutreten. „Sie haben eine großartige Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten“, schimpfte Chirac über die EU-Beitrittskandidaten, die den Brief der Acht unterzeichnet hatten. „Diese Länder sind zugleich, sagen wir es ruhig, nicht besonders wohlerzogen und ein wenig ahnungslos hinsichtlich der Gefahren, die ein zu schnelles Einschwenken auf die amerikanische Position mit sich bringt“, so Chirac. Die Gescholtenen wiesen diese Vorwürfe zurück. „Solche Vorwürfe sind völlig ungerechtfertigt, unklug und undemokratisch“, so Rumäniens Präsident Ion Iliescu. „Verletzend und unnötig“ sei das, hieß es aus Polen. „Wir sind zu höflich, um darauf zu antworten“, so der ungarische Außenminister Laszlo Kovacs.

Chiracs Wutausbruch machte deutlich, dass der ganze Streit längst nicht mehr nur um den Irak ging. Aus dem Konflikt an der Peripherie war ein Konflikt um die Macht in Europa, den deutsch-französischen Führungsanspruch und nicht zuletzt um eine politische Orientierung der EU – Washington folgen oder nicht? – geworden. Vielleicht hat der Konflikt noch Folgen für die EU-Beitrittsländer. Chirac deutete an, dass sich jetzt für einige Kandidaten die Beitrittschancen verschlechtert hätten. „Wenn man zur Familie gehört, hat man mehr Rechte, als wenn man um Aufnahme bittet und an die Tür klopft“.

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