IMI-Analyse 2003/003 - in: Raumzeit Nr. 19 - 20. Dezember 2002 / ISSN: 1611-213X

NATO als Kriegsführungsbündnis

Prager Neuausrichtung der Nordatlantischen Allianz

von: Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 11. Januar 2003

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Es war ein NATO-Gipfel mit viel Show am 21. und 22. November in Prag. Wie so oft beschäftigte sich ein Großteil der Medien mit dem Atmosphärischen – ob sich der deutsche Kanzler und der US-Präsident bei ihrer ersten persönlichen Begegnung nach dem Wahlkampf in der Bundesrepublik wieder freundlich behandelten. Die beiden Herren waren bei ihren gemeinsamen öffentlichen Auftritten sehr freundlich zueinander, „herzlich“ hieß es. Auch bei den inhaltlich diskutierten Punkten sind sie sehr freundlich miteinander umgegangen.

Zu besprechen gab es auch einiges: NATO-Osterweiterung, Gründung einer NATO-Interventionstruppe, Terrorismusbekämpfung als neue NATO-Aufgabe, verbindliches Aufrüstungsprogramm für alle Mitgliedsstaaten. Dazu kamen: Überprüfung der Rolle der NATO bei den Einsätzen auf dem Balkan und die Beziehungen zu Nicht-NATO-Staaten, insbesondere zu Russland. Offiziell nicht auf der Tagesordnung: der geplante Krieg gegen den Irak. Einen Punkt suchte man vergeblich auf der Agenda, er wurde schon vor dem Gipfel durch die Hintertür eingeführt: Der Einsatzradius soll in Zukunft global sein und nicht mehr auf das NATO-Gebiet beschränkt bleiben. Unverwechselbar klar ist dazu die militärnahe deutsche Zeitung „Die Welt“: „Die Nato bereitet sich auf Einsätze in der ganzen Welt vor.“ Die Militärzeitschrift „IAP-Dienst“ wurde noch deutlicher: Es gehe um eine neue „geopolitische Ausrichtung nach Süden“.

Offizieller Hauptpunkt war die so genannte „Osterweiterung“. Nachdem in einer ersten Runde kurz vor dem Krieg gegen Jugoslawien 1999 Ungarn, Tschechien und Polen aufgenommen worden waren, lud die NATO nun in Prag Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien zum Beitritt ein. Dieser soll im Mai 2004 erfolgen. Albanien, Mazedonien und Kroatien hatten ebenfalls am „Membership Action Plan“ (MAP) teilgenommen. Beim MAP handelt es sich im Wesentlichen um eine Überprüfung der NATO-Kompatibilität der Armeen, die Zusage der Kandidaten zu einer deutlichen Erhöhung der Militärausgaben und die Untersuchung von Menschenrechts- oder Demokratie-„Defiziten“.

„Lackmustest“ für die Relevanz

Nach Angaben der US-Regierung, die mit den Gipfelergebnissen am offensten umgeht, waren allerdings vor allem die Beschlüsse für den direkt militärischen Bereich, und da vor allem der Entscheid für eine eigenständige Interventionstruppe (NATO Response Force, NRF) mit 21 000 Mann, zentrales Ergebnis. Diese Interventionstruppe soll ab Oktober 2004 teilweise und ab 2006 vollständig bereitstehen. Aus einem von den NATO-Staaten bereitgehaltenen NRF-Pool soll sie innerhab kürzester Frist zusammengestellt werden können und rasch – die Rede ist von sieben bis dreißig Tagen – in Kriegs- und Konfliktregionen verschoben werden können. Die US-Regierung, und besonders Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, hatte diese Stand-by-Kriegsführungstruppe schon zu einem Lackmustest für die Relevanz der NATO erklärt. Zentrales politisches Problem für die Regierungen der Europäischen Union (EU) ist aber die sichtliche Konkurrenz dieser neuen NATO-Interventionstruppe zur geplanten EU-Interventionstruppe mit 60 000 Mann. Erst kurz vor dem NATO-Gipfel hatte die EU betont, dass ihre Truppe nächstes Jahr einsatzbereit sein soll. Doch es gibt erhebliche Probleme: Die EU-Einheit muss auf NATO-Material und -Soldaten zurückgreifen. Innerhalb der NATO blockiert aber die Türkei, dass der EU-Truppe NATO-Ausrüstung zur Verfügung gestellt wird – umgekehrt sträubt sich Griechenland gegen eine türkische Mitsprache bei der EU-Truppe. Die NATO-Truppe ist auf der Überholspur, das EU-Pendant steckt im Stau. Bei der NATO heißt es: „Eine Konkurrenzsituation ist vorstellbar.“ Letztlich werden wohl aber beide Interventionstruppen gebildet werden.

Verbindliches Aufrüstungsprogramm

In einer „Prager Verpflichtungserklärung“ haben alle Mitglieds-Staaten (und alle Kandidaten) bestimmte Bereiche übernommen, was dem Bündnis zu einer besseren Fähigkeit der Kriegsführung verhelfen soll. Konkret bedeutet das, dass sich Deutschland verpflichtet hat, „als Interimsmaßnahme C-17-Transportflugzeuge zu leasen“ und „ein Konsortium von Nationen mit dem Ziel der Bündelung von Lufttransportfähigkeiten und -ressourcen“ zu führen. Kanada, Frankreich, Italien, die Niederlande, Spanien und die Türkei haben sich zum Kauf von „Aufklärungs-Drohnen“ verpflichtet, die Niederlande führen „ein Konsortium der Länder Kanada, Dänemark, Belgien und Norwegen zur Bündelung der Beschaffung präzisionsgelenkter Kampfmittel“, Spanien und die Niederlande beschaffen Waffen „zur Unterdrückung der gegnerischen Luftverteidigung“, Dänemark und Norwegen „tragen zur Luftbetankung bei“, und Spanien „führt ein Länderkonsortium, das Luftbetankungsfähigkeiten bündeln will“. „Norwegen und Deutschland haben sich zur Verbesserung maritimer Minenabwehrfähigkeiten verpflichtet“, Polen und Ungarn verbessern ihre Spür- und Abwehrfähigkeiten gegen nukleare, chemische und biologische Waffen (ABC-Waffen).

Deutschland und der Irak-Krieg

Genau diese ABC-Soldaten sind in Deutschland nach dem NATO-Gipfel verschärft in der Diskussion. Am 15.11.2002 hatte die Bundesregierung im Bundestag relativ geräuschlos eine Verlängerung des „Enduring Freedom“-Mandats durchbekommen – wir erinnern uns, vor einem Jahr bedurfte es dazu noch der „Vertrauensfrage“ – obwohl der Auftrag deutlich ausgeweitet wurde. Teil des Beschlusses sind auch 52 ABC-Abwehrsoldaten in Kuwait. Nach Ansicht von vielen Militärexperten ist klar, dass durch die Aufgaben der ABC-Abwehrkräfte in Kuwait (Unterstützung von US-Soldaten) im Gesamtverband vor Ort, sowie deren Unterstellung unter US-Befehl eine Teilnahme deutscher Soldaten beim Irak-Krieg sehr wahrscheinlich geworden ist. Ein SPD-Staatssekretär (Wagner vom Verteidigungsministerium) und SPD-Abgeordnete (wie Klose) sagen dies nun auch ganz offen.

Eine Kontroverse um den Irak gab es am NATO-Gipfel nicht. Mit einer scharfen Erklärung wurde die – interpretierbare – Uno-Resolution 1441 unterstützt, andererseits wurden dem Irak bei „weiterer Verletzung seiner Pflichten ernsthafte Konsequenzen“ angedroht. Damit wurde gleichzeitig klar, dass die NATO nicht direkt an einem neuen Irak-Krieg teilnehmen wird, aber die USA in ihrem Kriegskurs unterstützt.

Anfragen an die deutsche Regierung

Die US-Regierung hatte der Bundesregierung in Prag eine offizielle Anfrage für eine direkte Unterstützung beim Irak-Krieg zukommen lassen. Gleichzeitig wurde bekannt, dass die israelische Regierung die Bundesregierung gebeten hat, Flugabwehrraketen („Patriot“) zur Verfügung zu stellen. In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ haben Regierungsbeamte angedeutet, dass damit auch die neuerliche Position, „nicht aktiv am Irak-Krieg mitzumachen“, ins Schwimmen geraten sei: Die Bundesregierung werde in eine „ausgesprochen schwierige“ Lage geraten. „Bei Israel könnten wir nur schwer ablehnen.“ Sollte es zu dieser Entscheidung kommen, wird das auch Auswirkungen auf die Friedens- und Antikriegsbewegung in Deutschland haben. Die Angriffe von (de facto)-Unterstützern der Politik Scharons auf die Friedens- und Antikriegsbewegung werden dann noch einmal stark zunehmen.

Der ehemalige NATO-General Wesley Clark geht davon aus, dass die neuen NATO-Kandidaten bei einem möglichen Irak-Krieg auch dabei sind. Er rechnet mit einem Kriegsbeginn Ende Januar und der Teilnahme von Italien, Spanien, den USA, Großbritannien, Bulgarien, Polen, Ungarn, Rumänien, Lettland, Litauen und Estland.

Erst wenn die USA das nächste Kriegsziel Iran ins Visier nehmen, ist eine heftigere Auseinandersetzung zwischen den Regierungen der USA und Deutschlands wahrscheinlich. Im Falle des Iran gibt es einfach andere Interessen, sowohl im geopolitischen als auch im wirtschaftlichen Bereich. Hier liegt wohl ein weiterer Grund für die „Kriegsablehnung“ der Bundesregierung, die in der Gesamtregion andere Interessen hat.

Ein wesentlicher Punkt wurde auf dem Prager Gipfel en passant erst andiskutiert, nämlich ob die verbindliche US-Militärstrategie, die National Security Strategy, besser bekannt als Bush-Doktrin, in ihren Kernteilen von der NATO übernommen wird oder nicht. Das Kernelement der Bush-Doktrin, die Führung von Präventivkriegen wenn die Regierenden die Hegemonie bedroht sehen, würde dann verbindlicher Teil der NATO-Strategie. Umso wichtiger waren die (wenigen) Aktionen von globalisierungskritischen Gruppen, von Friedens- und Antikriegsbewegung gegen den Gipfel in Prag.

Tobias Pflüger, Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

https://www.imi-online.de