IMI-Analyse 2002/100
„Willkommen im 21. Jahrhundert“
Andreas Seifert zum neuen chinesischen Weißbuch
von: Andreas Seifert | Veröffentlicht am: 20. Dezember 2002
Das jüngste Dokument der chinesischen Regierung zur eigenen Militärpolitik, das baipishu (Weißbuch) zeigt auf, wie sich die chinesische Führung eine ganz eigene Welt von Bedrohung und Sicherheit zusammengeschustert hat. Man verteidigt den eingeschlagenen Weg steigender Militärbudgets und kündigt gleichzeitig das verstärkte Engagement im Krieg gegen den Terrorismus an. Überrascht?
Angesichts der Berichterstattung in den Medien bleibt es tatsächlich offen, wem man zur Ankunft im 21. Jahrhundert gratulieren soll, westlichen Journalisten oder der kommunistischen Partei Chinas, die auf dem 16. Parteitag einen Großteil des ideologischen Ballastes und so manchen Grundwert des Kommunismus über Bord geworfen hat. Aber überrascht es wirklich wenn das System, welches sich nach innen nach wie vor repressiv verhält und öffentliche Diskussionen nationaler Politiken scheut, an dieser Stelle beweist, auf der Höhe der Zeit zu sein? Die Rhetorik, wie sie der amerikanische Präsident ungestraft und meist zur besten Sendezeit in die Welt setzt, findet hier ihr Spiegelbild und Nachklang: auch hier wird darauf vorbereitet, dass man mit den „Terroristen“ im eigenen Land, aber auch sonst wo hart ins Gericht gehen wird, auch hier wird mit einer Steigerung des Militärbudget eine Antwort auf die globalen Probleme unserer Zeit gesucht.
Mit dem Verweis auf „Terror“ legitimiert man z.B. die eigene Präsenz im Grenzgebiet zu Zentralasien und unterstreicht damit den Anspruch auf ein Mitspracherecht bei allem was in der Region gemacht wird. In der chinesischen Provinz Xinjiang, so wird wieder einmal deutlich, werden regionale Interessen landesweiten untergeordnet sein, auch wenn dies heißt, kulturelle Differenzen gewaltsam einzuebnen und regionale Selbstbestimmung systematisch auszuhöhlen. Die wirtschaftlich „Entwicklung und Öffnung des chinesischen Westens“ erfordern demnach nicht nur große Investitionen in dessen Infrastruktur, sondern auch das Überdenken dessen Sicherheitssystems.
Bündnisse wie die „Shanghai-Fünf“, in denen neben China noch Russland und die zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgisistan, Taschikistan und Usbekistan beteiligt sind, weisen jedoch noch darüber hinaus und ergänzen dies Bild zu einem komplexeren Zusammenhang wirtschaftlicher und machtpolitischer Interessen. Damit ist die Bekämpfung des „Terrorismus“ in Xinjiang nicht das endgültige Ziel, sondern nur Etappe im Hinblick auf die „neue“ geostrategische Bedeutung Zentralasiens und damit eine Anmeldung eines Anspruches.
Dass dies wiederum nicht mit neuer Blockbildung gleichzusetzen ist offenbart das Dokument ebenfalls, denn die internationale Zusammenarbeit erstreckt sich nicht nur auf diese eine Option, sondern benennt auch Alternativen. Das Dokument kommt nicht umhin, auch die Befriedung der koreanischen Halbinsel als ein Thema zu benennen.
In beiden Punkten wird, wie man heimischen Politikern aus dem Verteidigungsministerium als mutig attestieren würde, eine neue Definition von Sicherheit entworfen. Die von vielen als positiv empfundenen Elemente von ‚globaler Verantwortung‘, ‚Krieg gegen den Terrorismus‘ werden aufgegriffen und mit den ureigenen Konzepten von einer ‚Gesellschaft im gemäßigten Wohlstand‘ und wirtschaftlicher „Entwicklung und Öffnung“ verknüpft und, kaum weniger schlüssig, als unser Minister es je könnte, in ein offensives Konzept von Intervention und Einschränkung hoheitlicher Rechte umgewandelt: empfundene oder wirtschaftlich notwendige Bedrohungsszenarien ziehen reale Kriege und Repression nach sich, egal wo.
Und doch, bei aller Rhetorik sind die chinesischen Stellen ein wenig vorsichtiger – sie adaptieren das Konzept vom „Krieg gegen den Terror“ nur insoweit, als sich damit die Grundrichtung der eigenen Politik stützen lässt: chinesische Soldaten sind kaum in Europa zu erwarten, sondern China begreift sich als asiatische Großmacht.
Ach ja, da ist dann noch Taiwan. Als abtrünnige Provinz genießt die Inselrepublik einen Sonderstatus in den Äußerungen der chinesischen Regierung und doch findet sich hier nichts neues – ein Weißbuch ist wohl auch nicht der Ort, Vereinigungsgedanken zu entwerfen und so verbleibt das Dokument in der gewohnt harten Gangart den Separationsbestrebungen gegenüber und spricht harsche Wort an all jene, die den Gedanken der Unabhängigkeit durch Waffenverkäufe oder durch diplomatische Präsenz fördern wollen. Diese Einmischung verbittet man sich schlicht.
Ein erheblicher Teil des Weißbuches wird darauf verwendet darzulegen, dass die Entwicklung des Militärbudgets weitgehend im Reflex auf die steigenden Bedürfnisse der Soldaten erfolgt: erhöhter Sold um den sozialen Frieden zu erhalten. Erst an dritter Stelle steht klassische „technische Aufrüstung“.
Man wird überdies auch nicht müde, den moderaten Rahmen des Budget zu betonen – und in der Tat, allein die Steigerung des amerikanischen Militärbudgets liegt weit über dem, welches als Gesamtbudget in China vorgesehen ist. Es wird argumentiert, dass gerade einmal 1,5 % des Bruttosozialprodukts Chinas in die Rüstung wandern, ja sogar, dass gemessen am Staatshaushalt der Anteil des Militärs seit 1979 rückläufig ist und sich trotz der Steigerung im Abwärtstrend bei nicht einmal 8% bewegt (ausgehend von 17% 1979).
Im Vergleich zu Deutschland, wo nach dem chinesischen Weißbuch 1,1 % des Bruttosozialproduktes und immerhin fast 10% des Staatshaushaltes für Militärausgaben vorgesehen sind, ist dies eine verblüffende Zahl, denn sie läuft auf eine vergleichbare offizielle Gesamtsumme für Militärausgaben von um die 20 Milliarden Euro (Deutschland und China) hinaus.
Verschwiegen wird freilich, dass ein Großteil der Ausgaben für das chinesische Militär nicht bei diesem geführt werden, sondern in anderen Töpfen und Firmen verschleiert sind. So gehen Schätzungen des Pentagon von dem Dreifachen an tatsächlich eingesetzten Mitteln aus – aber auch diese Rechnung würde nicht das Bild eines hochgerüsteten Staat entstehen lassen.
Noch ist Chinas Armee eine konventionell dominierte Größe, die sich nur langsam und punktuell zu einer offensiv schlagfertigen Truppe entwickelt. Nichts desto trotz: die schlagkräftige Truppe ist das Ziel! Militärstrategen wie Shen Weiguang, die schon seit längerem eine Entwicklung in die Richtung einer umfassenden Stärkung der Truppe im Bezug auf Information-Warfare fordern, setzen sich in der Wahrnehmung der chinesischen Regierung durch.
Die strategischen Abteilungen, gebündelt in verschiedenen Forschungsinstituten, die direkt von der Volksbefreiungsarmee unterstehen, diskutieren nicht erst seit dem 2. Golfkrieg entsprechende Ideen. Dieses wird, so sehen es jedenfalls die bereits angesprochenen amerikanischen Quellen, immer mit Hinblick auf Taiwan getan: Schlagkraft erhalten.
Mit Bezug auf das chinesische Weißbuch bleibt festzuhalten, dass in ihm Tendenzen zusammengefasst werden, die aber in der konkreten Formulierung noch zu unspezifisch bleiben, um verwertbare völlig neue Informationen zu erhalten. Lesenswert ist es jedoch für alle, die sich ein Bild vom chinesischen Militär machen wollen.
Originalquelle des chinesischen Weißbuches: http://www.peopledaily.com.cn/GB/junshi/20021209/884483.html
Jetzt auch als englische Quelle: http://english.peopledaily.com.cn/features/ndpaper2002/nd.html
* Andreas Seifert ist Sinologe und Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.