Brief von Dr. med. Silke Reinecke an den Marburger Bund


von: Silke Reinecke | Veröffentlicht am: 14. Dezember 2002

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Dr. Silke Reinecke Göttingen, 09.12.2002
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37077 Göttingen
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e-mail: silke.reinecke@freenet.de

Marburger-Bund-Zeitung
Riehler Str. 6
50668 Köln

nachrichtlich:
Marburger Bund, Landesverband Niedersachsen, Berliner Allee 20, 30175 Hannover
Herrn Dr. Montgomery, Humboldtstr. 56, 22083 Hamburg

Sehr geehrte Damen und Herren,

seit Jahren bin ich Mitglied des Marburger Bundes. Ich habe ihn immer als „meine Gewerkschaft“ und damit als Teil einer politischen Bewegung angesehen, die sich für soziale Gerechtigkeit, Antifaschismus und ein friedliches Zusammenleben der Völker einsetzt, wie es alte gewerkschaftliche Tradition ist. Umso mehr hat mich in der aktuellen Marburger-Bund-Zeitung (Nr. 17 vom 6. Dezember 2002) der Artikel auf Seite 8 erschreckt und empört, in dem Generaloberstabsarzt Dr. Karl Demmer auf einer ganzen Seite die Gelegenheit gegeben wird, sich völlig unkommentiert und ohne jegliche politische Einordnung seitens des Marburger Bundes über die Umstrukturierung des ZsanDstBW auszulassen („Der neue Zentrale Sanitätsdienst der Bundeswehr im Porträt“).

Um von vornherein Missverständnissen vorzubeugen: Selbstverständlich halte ich eine gute und einfühlsame medizinische Betreuung des / der individuellen verletzten oder erkrankten Soldaten / der Soldatin für unabdingbar und seitens des ärztlichen Berufsethos für geboten. Nicht anders handle ich in meine beruflichen Alltag, in dem ich nicht wenige Soldaten zu betreuen habe: Als Menschen und Patienten genießen sie mein volles ärztliches Engagement und meine Anteilnahme wie jeder zivile Patient auch.

Völlig anders gelagert ist jedoch die politische Einschätzung der Entwicklung der Bundeswehr, und um nichts anderes geht es in der Bewertung der Entwicklung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr zum gegenwärtigen Zeitpunkt.

Die Bundeswehr ist weit auf ihrem Weg vorangeschritten, sich von der verfassungsmäßig gebotenen Verteidigungsarmee in eine Armee für weltweite Interventionen umzustrukturieren. Bereits in den noch gültigen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ von 1992 wird die Verfolgung deutscher Wirtschaftsinteressen („Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt“) als Aufgabe der Bundeswehr genannt. Noch deutlicher wird dies wohl in der zur Zeit erstellten Neuauflage geschehen.

Die Bundeswehr ist von einer Armee mit der Hauptaufgabe der Landesverteidigung zu einer „Armee im Einsatz“ geworden. Augenfällig wurde die Veränderung der Bundeswehr mit dem völkerrechtswidrigen NATO-Angriffskrieg auf Jugoslawien. Die Bundeswehr war aktiv an den Bombardierungen Jugoslawiens von Ende März bis Juni 1999 beteiligt und hat sich damit am Tod zahlreicher Zivilisten, an Umweltzerstörung und Zerschlagung der zivilen und wirtschaftlichen Infrastruktur des Landes schuldig gemacht. Gegenwärtig befinden sich über 10.000 Soldaten der Bundeswehr im ständigen Auslandseinsatz von sogenannten „humanitären Aktionen“ bis hin zu reinen und brutalen Kampfeinsätzen (Kommando Spezialkräfte in Afghanistan). Damit ist die Bundesrepublik Deutschland noch vor Großbritannien zweitgrößter Truppensteller geworden.

Krieg ist in Deutschland wieder alltägliches Mittel der Politik!

Insbesondere angesichts des drohendes Angriffskrieges gegen den Irak, an dem sich die Bundeswehr entgegen aller Rot-Grüner Lippenbekenntnisse beteiligen wird (Spürpanzer Fuchs, AWACS etc.), ist es empörend und erschreckend, wie Sie Herrn Demmer gestatten, sich umkommentiert über die Neuausrichtung der Bundeswehr hin zu einer Armee im Einsatz auszulassen.

Damit nicht genug:
Wie auch von Herrn Demmer erwähnt, ist für die Aufgabenbewältigung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr die Zusammenarbeit mit zivilen Einrichtungen erforderlich. Bereits im Jahre 1999 wurde eine gemeinsame Erklärung des Bundesverteidigungsministers und der DKG zur zivil-militärischen Zusammenarbeit unterzeichnet und ein Mustervertrag zur Kooperation zwischen Bundeswehr und zivilen Krankenhäusern verabschiedet. Konkrete Verträge sind von zahlreichen Kliniken bereits verabschiedet worden, übrigens ohne nennenswerten Protest, insbesondere auch nicht seitens des Marburger Bundes. Stattdessen wird stillschweigend eine zunehmende Durchmischung des zivilen und militärischen Sektors hingenommen oder gar gefördert. Auf diese Weise wird das dem Leben und der Heilung verpflichtete Gesundheitswesen in die tödliche, lebensfeindliche Kriegsmaschinerie personell, organisatorisch und finanziell eingebunden.

Abgesehen von derartigen politischen Stellungnahmen:
Der Marburger Bund beschäftigt sich völlig zu Recht sehr intensiv mit den katastrophalen Auswirkungen der immer neuen Einsparungen im Gesundheitswesen auf Patientenversorgung, Arbeitsbedingungen und Strukturveränderungen in der medizinischen Landschaft. Nicht zuletzt die vorliegende Zeitschrift ist voll von diesbezüglichen Artikeln.

Mutet es da nicht auch Sie merkwürdig an, dass jüngst am 30.10.2002 die 700 Millionen Euro teure Fregatte „Sachsen“ als erste von dreien in Dienst gestellt wurde? Also wohlgemerkt: 2,1 Milliarden Euro für lediglich drei Kriegsschiffe? Wie viele ärztliche Überstunden dadurch durch Neueinstellungen vermieden werden könnten, wissen Sie besser als ich.

Es gibt doch einen klaren Zusammenhang zwischen den drastischen Einsparungen im Gesundheitswesen, dem Zerreißen des sozialen Netzes insgesamt, und den Plänen für eine qualitative Aufrüstung der Bundeswehr: Jeder Euro kann nur einmal ausgegeben werden, und jeder Euro, der für den Umbau der Bundeswehr in eine Angriffsarmee und die dafür benötigten Waffensysteme gebraucht wird, fehlt für soziale Belange.

Fazit:
Ich erwarte von Ihnen, dass in der nächsten Ausgabe der Marburger-Bund-Zeitung ein kritische politische Bewertung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr in gleichem Umfang erscheint.
Autor sollte ein unabhängiger Friedensforscher sein. Ich schlage Ihnen den Politikwissenschaftler Tobias Pflüger aus Tübingen vor, der sich seit langem sachkundig mit der Entwicklung der Bundeswehr und auch sehr kenntnisreich mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr beschäftigt (mail@tobias-pflueger.de).

Ich erwarte von Ihnen eine schnelle Antwort, denn wie bereits erwähnt: „Meine Gewerkschaft“ ist ein Teil der Friedensbewegung, oder sie ist nicht mehr „meine Gewerkschaft“!

Mit engagiertem Gruß

Dr. Silke Reinecke
Fachärztin für Dermatologie / Allergologie