Irak: Sanktionen, Menschenrechte und die Optionen der internationalen Politik
Ein Beitrag von Barbara Lochbihler (Generalsekretärin von amnesty international, Deutschland)
von: Barbara Lochbihler / amnesty international (ai) Deutschland / Dokumentation | Veröffentlicht am: 9. Dezember 2002
Im Folgenden dokumentieren wir den Vortrag von Barbara Lochbihler beim Internationalen Irak-Kongress am 1. November in Berlin (Rathaus Schöneberg).
Völkerrechtliche Grundlagen und UN-Sicherheitsrat
Vordringlichste Aufgabe des UN-Sicherheitsrates ist es, mit friedlichen Mitteln eine Lösung für Konflikte zu finden. In der UN-Charta hat die Förderung des Friedens und die Achtung der Menschenrechte einen zentralen Stellenwert im Selbstverständnis der UN. Der UN-Sicherheitsrat muss seine einflussreichsten Mitglieder darauf hinweisen, dass Gewalt nur als allerletztes Mittel angewendet werden darf, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.
Das absolute Gewaltverbot ist eine Hauptregel im modernen Völkerrecht (Art. 2 (4) UN-Charta) und es kann nur im Falle des Selbstverteidigungsrechts (Art. 51) und wenn der UN-Sicherheitsrat kollektive Zwangsmaßnahmen (Art. 42 u. 53) erlaubt, gebrochen werden. Namhafte Völkerrechtsexperten haben im vorliegenden Fall erhebliche Zweifel, ob bereits der Punkt der unmittelbaren Gefahr erreicht ist und ob mögliche politische Mittel zur Lösung dieses Konflikts gesucht wurden.
Die Einhaltung und Weiterentwicklung der völkerrechtlichen Grundlagen ist entscheidend für den Menschenrechtsschutz.
Wir kritisieren fast täglich die mangelhafte Umsetzung der völkerrechtlich verankerten Menschenrechte. Wir tun dies im Bewusstsein, dass eine rechtliche Grundlage Voraussetzung dafür ist, Staaten in die Pflicht zu nehmen, diese Rechte anzuerkennen und nach der Ratifizierung entsprechend zu handeln.
Trotz politischer Beteuerungen, es gäbe keinen ‚Menschenrechtsrabatt‘ beim Anti-Terrorkampf, beobachtet ai weltweit einen Relativierung von Menschenrechten zu Gunsten sicherheitspolitischer Überlegungen. Hinzu kommt die neue US-amerikanische Doktrin der ‚vorbeugenden Selbstverteidigung‘ gegen die Feinde der Vereinigten Staaten. Diese Doktrin ist in ihren Aussagen zum Völkerrecht unmissverständlich: Künftig sollen je nach gemeinsamen Willenserklärungen Koalitionen eingegangen werden. Die Vereinten Nationen werden um Hilfe gebeten; verweigern sie diese oder ‚ist Eile geboten‘, dann behalten sich die USA vor ‚ohne zu zögern‘ allein und in ‚vorbeugender Selbstverteidigung‘ zu handeln, ‚wenn ihre Interessen und ihre ‚einzigartige Verantwortung‘ es verlangen. Völkerrechtliche Verbindlichkeiten und Erneuerungen, wie z.B. der Internationale Strafgerichtshof, sind passé und stehen dieser Politik im Wege.
Diese Entwicklung ist auch für die Menschenrechtspolitik sehr Besorgnis erregend. Denn nur wenn die Staaten ihre Beziehungen auf die Grundlage des Rechts stellen und international anerkannte Werte nicht nur anerkennen, sondern umsetzen, besteht die Hoffnung, dass sich in der internationalen Politik das Recht und nicht die Macht des Stärkeren durchsetzt.
In den Mittelpunkt der Diskussion über einen drohenden Krieg stellt amnesty international die menschenrechtlichen Konsequenzen. Wir fordern die politisch Verantwortlichen auf, den Schutz der Menschenrechte ins Zentrum ihrer Handlungsoptionen zu rücken.
Im Einzelnen bringen wir folgende Überlegungen und Forderungen in die Diskussion ein:
Zivile Opfer eines möglichen Angriffs:
Die politischen Entscheidungsträger müssen sich die unvermeidlichen menschlichen Leiden der irakischen Bevölkerung durch einen Krieg vor Augen halten und diese bei ihren Entscheidungen zentral berücksichtigen. Schon seit langem leiden die Menschen im Irak unter schweren Menschenrechtsverletzungen. Ein Krieg würde neue Menschenrechtsverletzungen verursachen. Beides spielt in der nationalen und internationalen Diskussion bislang kaum eine Rolle. Schon die Androhung von Bombardierungen treibt Menschen zur Flucht. amnesty befürchtet, dass ein Angriff auf den Irak eine Massenflucht sowohl im Land als auch in Richtung seiner Grenzen auslösen wird. Die Türkei und Jordanien haben im Fall eines Angriffs angekündigt, keine Flüchtlinge aufzunehmen bzw. Flüchtlingslager auf irakischer Grenzseite einzurichten.
Durch die zusätzlich massive Zerstörung der Infrastruktur im Kriegsfall würde sich deren katastrophaler Zustand weiter verschlechtern. In diesem Zusammenhang ist auch mit einer Steigerung der bereits sehr hohen Kindersterblichkeitsrate aufgrund unzureichender Versorgung mit Medikamenten und Lebensmitteln zu rechnen.
amnesty international hat in der Vergangenheit gravierende Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten dokumentiert:
* Während des Iran-Irak Krieges 1980-88 ist es wiederholt zu Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung gekommen. 1983 wurden beispielsweise 8000 kurdische Männer und Jungen des Barzani Klans in der Nähe von Arbil festgenommen und nach Bagdad verschleppt. Sie gelten seitdem als „verschwunden“.
* Während des Golfkrieges sind nach Aufständen im März 1991 im Süden und Norden Hunderte Menschen festgenommen und verschleppt worden. Die meisten von ihnen gelten bis heute als „verschwunden“, wie z.B. das unbekannte Schicksal von 106 schiitischen Geistlichen und Studenten verdeutlicht. (Vgl.: Iraq: The fate of 106 religious clerics and students still unknown after ten years, 29.03.2001. ai-Index: MDE 14/003/2001)
* Im Zuge der Niederschlagung der Aufstände im März 1991 fanden Hunderte extralegaler Hinrichtungen statt. (Vgl.: Iraq: Human rights violations since the uprising: summary of amnesty international’s concerns, 16.07.1991. ai-Index: MDE 14/005/1991.
Wir weisen den Versuch der US-Regierung zurück, die Berichte von amnesty selektiv zu missbrauchen, um ein militärisches Eingreifen zu rechtfertigen. Weder die USA noch andere westliche Regierungen haben sich in den 80er Jahren während des Krieges zwischen dem Iran und Irak für die katastrophale Menschenrechtslage im Irak interessiert. Auch wurde die ai-Kampagne für die unbewaffneten kurdischen Zivilisten, die Opfer der Giftgasangriffe auf die Stadt Halabja 1988 wurden, weitgehend ignoriert. Der jetzige Verweis auf die Menschenrechte ist kühl kalkuliert, um eine Zustimmung zu einem militärischen Angriff zu erreichen.
Zur Menschenrechtssituation im Irak:
amnesty international hat seit Jahrzehnten auf die schweren Menschenrechtsverletzungen im Irak aufmerksam gemacht. Es ist unsere Aufgabe, sich für die Menschenrechte der irakischen Bevölkerung einzusetzen. Die internationale Gemeinschaft muss dem Menschenrechtsschutz bei jeder Entscheidung höchsten Stellenwert einräumen.
Die deutsche Regierung ist als neues, nicht ständiges Mitglied im Sicherheitsrat ab Januar 2003 (bis Dezember 2005) in allen Gremien der Vereinten Nationen und innerhalb der EU aufgerufen, den Schutz der irakischen Bevölkerung vor Menschenrechtsverletzungen deutlich zu fordern.
Die irakische Bevölkerung leidet seit Jahren unter den Menschenrechtsverletzungen, die ihr ihre Regierung zufügt: systematische Folter, extralegale Hinrichtungen, ‚Verschwindenlassen‘, willkürliche Verhaftungen, Vertreibung und unfaire Gerichtsverhandlungen. Auch sind es die Menschen im Irak, die die Konsequenzen der UN-Sanktionen erleiden müssen.
Zu den von amnesty international dokumentierten Verletzungen der Menschenrechte im Irak zählen:
* Massentötungen, extralegale Hinrichtungen Schätzungen zufolge sollen seit den 80er Jahren Hunderttausende – meist Kurden und Schiiten – extralegaler Tötungen zum Opfer gefallen sein.
* So durch den bereits erwähnten Einsatz von Chemiewaffen gegen die kurdische Zivilbevölkerung. (Vgl.: Iraq: The need for further United Nations action to protect human rights in Iraq, 15.07.1991. ai-Index: MDE 14/006/1991)
* Durch die gezielte Tötung von Oppositionellen mit Thallium oder anderen toxischen Stoffen. (Vgl.: Iraq: amnesty international calls on Iraqi government to investigate reports of security forces‘ use of thallium poisoning against political opponents, 13.01.1988. ai-Index: MDE 14/002/1988.)
* 1998 und 1999 starben mehrere prominente schiitische Geistliche bzw. Gelehrte unter Umständen, die auf eine extralegale Hinrichtung schließen lassen. Ayatollah Mohammad Sadeq al-Sadr wurde auf dem Weg von einer Moschee im Februar 1999 in seinem Auto erschossen. Im März 1999 wurden die vier angeblichen Täter im irakischen Fernsehen präsentiert und einen Monat später hingerichtet. Einer von ihnen war Berichten zufolge bereits seit Dezember 1998 in Haft. (Vgl.: Iraq: Victims of systematic repression, 24.11.1999. ai-Index: MDE 14/010/1999.)
* Im Oktober und November 2000 wurden Dutzende Frauen der Prostitution verdächtigt und ohne juristisches Verfahren in Bagdad und anderen Städten von der paramilitärischen Miliz Fida´yi Saddam enthauptet. So auch Frau Dr. Najat Mohammad Haydar, Ärztin aus Bagdad. Der Grund ihrer extralegalen Hinrichtung war vermutlich ihre Kritik an Korruption im Gesundheitswesen. (Vgl.: Iraq: Systematic torture of political prisoners, 15.08.2001. ai-Index: MDE 14/008/2001.)
* Zwangsvertreibungen
Seit Mitte 1997 wurden Tausende Kurden und andere Nicht-Araber, wie Turkmenen und Assyrer, zwangsweise aus den Regionen um Kirkuk und Khanaqin nördlich von Bagdad vertrieben. Die Gründe hierfür sind die nicht-arabische ethnische Zugehörigkeit der oben genannten Volksgruppen, Kirkuks‘ strategische Lage sowie die vorhandenen regionalen Ölvorkommen. Die vertriebenen Familien haben entweder die Wahl der Auswanderung in den Süden mit dem Zugeständnis, einige Besitztümer behalten zu dürfen oder in den Nordirak zu ziehen, was jedoch mit der Konfiszierung des gesamten Besitzes verbunden ist. In den Häusern der vertriebenen Familien werden in der Regel Araber angesiedelt. Zwangsweise Vertreibungen innerhalb des Zentraliraks bzw. in den Nordirak dauern bis heute an. (Vgl.: Iraq: Expulsion of Kurdish families must stop, 29.04.1998. ai-Index: MDE 14/02/98.)
* Sippenhaft / Repressalien gegen Angehörige von mutmaßlichen Oppositionellen
Verwandte von inhaftierten oder verdächtigen Oppositionellen oder von Exiloppositionellen werden häufig festgenommen, verhört und unter Hausarrest gestellt. Die Angehörigen im Irak werden unter Druck gesetzt, um sich von den Oppositionellen im Exil öffentlich zu distanzieren. Ziel des irakischen Regimes ist es, die Opposition im Ausland zum Schweigen zu bringen.
* Folter und grausame Bestrafungen
Sowohl brutalste körperliche als auch psychologische Folter ist im Irak weit verbreitet und wird systematisch an politischen Gefangenen angewendet. (Vgl.: Iraq: Systematic torture of political prisoners, 15.08.2001. ai-Index: MDE 14/008/2001.)
1994 wurden per Dekret des Revolutionären Kommandorats für mindestens 30 strafrechtliche Vergehen grausame Bestrafungen eingeführt, wie Amputation der rechten Hand bei erstmaligem Vergehen, Amputation des linken Fußes bei Wiederholungstat des gleichen Vergehens. Die offizielle Begründung der irakischen Regierung ist die steigende Kriminalitätsrate durch Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage aufgrund internationaler Sanktionen. (Vgl.: Iraq: Amputation: Two men sentenced to amputation for theft, 24.06.1994. UA 248/94, ai-Index: MDE 14/04/94.) Allerdings soll ein Dekret von 1994 zur Amputation des Ohres bei Desertion vom Wehrdienst und der Brandmarkung der Stirn nach Angaben der irakischen Regierung annulliert worden sein. amnesty international hat in jüngster Zeit keine derartigen Fälle dokumentiert.
Durch die Miliz Feda´yi Saddam soll jedoch im September 2000 einer Person die Zunge wegen Verleumdung des irakischen Präsidenten amputiert worden sein. (Vgl.: Iraq: Systematic torture, execution and punitive surgery: Medical letter writing action, 15.08.2001. MDE 14/010/2001.)
* Todesstrafe / Hinrichtungen
In den vergangenen Jahren wurden im Irak mehrere 10.000 Menschen hingerichtet. Da es keine offiziellen Statistiken bzw. Informationen über Strafprozesse gibt, ist nur schwer zu ermitteln, ob es sich hierbei um Hinrichtungen nach vermutlich grob unfairen Gerichtsverfahren oder um extralegale Hinrichtungen handelt. (Vgl.: Iraq: State cruelty: branding, amputation and the death penalty, 1.04.1996. ai-Index: MDE 14/003/1996.) Im November 1997 und 1998 gab es Berichten zufolge eine Aktion unter dem Namen „Säuberung der Gefängnisse“. Dabei sollen Hunderte politische Gefangene in den Haftanstalten hingerichtet worden sein. (Vgl.: Iraq: Fear of imminent executions, 4.09.1998. ai-Index: MDE 14/03/98.) Auch im Jahr 2002 hat amnesty international Berichte über Exekutionen von politischen Häftlingen erhalten.
* Generalamnestie vom Oktober 2002
Am 20.10.2002 wurde ein Dekret des Revolutionären Kommandorates erlassen – eine Generalamnestie für sowohl politische als auch Strafgefangene. Diese Amnestie schließt Zivilisten, Militärs; in Abwesenheit verurteilte Iraker, sowie Todeskandidaten ein.
Ausgenommen von dieser Amnestie sind:
o Personen, die wegen Mordes verurteilt wurden und bei denen keine Versöhnung (Einigung) mit den Angehörigen des Mordopfers erzielt wurde.
o Häftlinge, die wegen Spionage für die USA oder Israel verurteilt wurden.
o Gefangene, die wegen Schulden gegenüber Individuen oder dem Staat verurteilt wurden und die diese Schulden nicht beglichen haben.
Presseberichten zufolge sollen Tausende Gefangene freigelassen worden sein, vor allem aus dem berüchtigten Gefängnis Abu Ghraib nahe Bagdad. Es gibt jedoch keine offiziellen Angaben darüber, wie viele und welche Gefangenen amnestiert wurden. amnesty international hat die irakische Regierung deshalb aufgefordert, Namenslisten der Amnestierten zu veröffentlichen, denn es besteht die Sorge, dass entlassene Gefangene wieder verhaftet werden könnten.
amnesty international hat zudem Aufklärung über das Schicksal der nicht freigelassenen Gefangenen gefordert. amnesty international ist um das ungeklärte Schicksal von Tausenden in Sorge, die in den 80er Jahren und nach dem zweiten Golfkrieg 1991 „verschwanden“. Auch über diejenigen Gefangenen, die sich in geheimen Haftzentren und den Haftanstalten der Geheimdienste befinden, liegen keine Erkenntnisse vor.
In der nationalen und internationalen Presse wurde berichtet, dass eine Demonstration vor dem Informationsministerium von Angehörigen politischer Gefangener, die nicht aus der Haft entlassen wurden, stattgefunden hat. Die Familien forderten Informationen über den Verbleib ihrer inhaftierten Angehörigen.
Grundsätzlich begrüßt amnesty international die Amnestie, fordert aber genaue Angaben darüber, wer entlassen wurde, sowie die Aufklärung des Schicksals vieler „Verschwundener“ der vergangenen Jahre und Jahrzehnte.
Wir fordern nationale wie internationale Gremien auf, politische Mittel gegenüber der irakischen Regierung einzusetzen, um die Menschenrechtslage im Irak zu verbessern. Wir fordern alle verantwortlichen Politiker auf, die Arbeit des UN-Sonderberichterstatters zu Irak unterstützen und in bilateralen Beziehungen auf eine Verbesserung der Menschenrechtssituation zu drängen. Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international sollte der Zugang ins Land gewährt werden, um Informationen über die Menschenrechtslage vor Ort frei und ungehindert ermitteln zu können.
Sanktionen
Die 1991 von der UN verhängten Sanktionen gegen den Irak haben die Lebensbedingungen extrem verschlechtert, insbesondere für Säuglinge und Kinder. Verschiedene UN- Gremien, wie UNICEF oder das UN-Welternährungsprogramm, verweisen auf das Leid der irakischen Bevölkerung. Der UN-Sicherheitsrat muss diese Appelle berücksichtigen. Die internationalen Sanktionen haben den Zugang zu Nahrung und das Recht auf Gesundheit und Bildung stark beeinträchtigt. Zwar missbraucht die irakische Regierung die Auswirkungen der Sanktionen für eigene Propagandazwecke, doch rechtfertigt dies nicht, dass der UN-Sicherheitsrat den Stimmen keine Beachtung schenkt, die eine Aufhebung der Sanktionen fordern, die zu schweren Verletzungen der Rechte der irakischen Bevölkerung führen.