in: WOZ [Schweizer] Wochenzeitung 28.11.2002

Die Nato will jetzt weltweit Krieg führen

Prager Neuausrichtung der Nordatlantischen Allianz

von: Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 2. Dezember 2002

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Es war ein Nato-Gipfel mit viel Show am letzten Donnerstag und Freitag in Prag. Wie so oft beschäftigte sich ein Grossteil der Medien mit dem Atmosphärischen. Dabei gab es auch inhaltlich einiges zu besprechen: Nato-Osterweiterung, Gründung einer Nato-Interventionstruppe, Terrorismusbekämpfung als neue Nato-Aufgabe, verbindliches Aufrüstungsprogramm für alle Nato-Staaten. Dazu kamen: Überprüfung der Rolle der Nato bei den Einsätzen auf dem Balkan und die Beziehungen zu Nicht-Nato-Staaten, insbesondere zu Russland. Offiziell nicht auf der Tagesordnung: der geplante Krieg gegen den Irak. Einen Punkt suchte man vergeblich auf der Agenda, er wurde schon vor dem Nato-Gipfel durch die Hintertür eingeführt: Der Einsatzradius der Nato soll in Zukunft global sein und nicht mehr auf das Nato-Gebiet beschränkt bleiben. Unverwechselbar klar ist dazu die militärnahe deutsche Zeitung «Die Welt»: «Die Nato bereitet sich auf Einsätze in der ganzen Welt vor.» Die Militärzeitschrift «IAP-Dienst» wurde noch deutlicher: Es gehe um eine neue «geopolitische Ausrichtung nach Süden».

Offizieller Hauptpunkt war die so genannte «Osterweiterung der Nato». Nachdem in einer ersten Runde kurz vor dem Krieg gegen Jugoslawien 1999 Ungarn, Tschechien und Polen in die Nato aufgenommen worden waren, lud die Nato nun in Prag Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien zum Beitritt ein. Dieser soll im Mai 2004 erfolgen. Albanien, Mazedonien und Kroatien hatten ebenfalls am «Membership Action Plan» (MAP) teilgenommen. Beim MAP handelt es sich im Wesentlichen um eine Überprüfung der Nato-Kompatibilität der Armeen, die Zusage der Kandidaten zu einer deutlichen Erhöhung der Militärausgaben und die Untersuchung von Menschenrechts- oder Demokratie-«Defiziten».

Nach Angaben der US-Regierung, die mit den Gipfelergebnissen am offensten umgeht, waren allerdings vor allem die Beschlüsse für den direkt militärischen Bereich, und da vor allem der Entscheid für eine eigenständige Nato-Interventionstruppe (Nato Response Force, NRF) mit 21 000 Mann, zentrales Ergebnis. Diese Interventionstruppe soll ab Oktober 2004 teilweise und ab 2006 vollständig bereitstehen. Aus einem von den Nato-Staaten bereitgehaltenen NRF-Pool soll sie innerhalb kürzester Frist zusammengestellt werden können und rasch – die Rede ist von sieben bis dreissig Tagen – in Kriegs- und Konfliktregionen verschoben werden können. Die US-Regierung, und besonders Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, hatte diese Stand-by-Kriegsführungstruppe schon zu einem Lackmustest für die Relevanz der Nato erklärt. Zentrales politisches Problem für die Regierungen der Europäischen Union (EU) ist aber die sichtliche Konkurrenz dieser neuen Nato-Interventionstruppe zur geplanten EU-Interventionstruppe mit 60 000 Mann. Erst kurz vor dem Nato-Gipfel hatte die EU betont, dass die EU-Truppe nächstes Jahr einsatzbereit sein soll. Doch es gibt erhebliche Probleme: Die EU-Truppe muss auf Nato-Material und Nato-Soldaten zurückgreifen. Innerhalb der Nato blockiert aber die Türkei, dass der EU-Truppe Nato-Ausrüstung zur Verfügung gestellt wird – umgekehrt sträubt sich Griechenland gegen eine türkische Mitsprache bei der EU-Truppe. Die Nato-Truppe ist auf der Überholspur, die EU-Truppe steckt im Stau. Bei der Nato heisst es: «Eine Konkurrenzsituation ist vorstellbar.» Letztlich werden wohl aber beide Interventionstruppen gebildet.

In einer «Prager Verpflichtungserklärung» haben alle Nato-Staaten (und alle Kandidaten) bestimmte Bereiche übernommen, was der Nato zur besseren Fähigkeit zur Kriegsführung verhelfen soll. Konkret bedeutet das, dass sich Deutschland verpflichtet hat, «als Interimsmassnahme C-17-Transportflugzeuge zu leasen» und «ein Konsortium von Nationen mit dem Ziel der Bündelung von Lufttransportfähigkeiten und -ressourcen» zu führen. Kanada, Frankreich, Italien, die Niederlande, Spanien und die Türkei haben sich zum Kauf von «Aufklärungs-Drohnen» verpflichtet, die Niederlande führen «ein Konsortium der Länder Kanada, Dänemark, Belgien und Norwegen zur Bündelung der Beschaffung präzisionsgelenkter Kampfmittel», Spanien und die Niederlande beschaffen Kampf-mittel «zur Unterdrückung der gegnerischen Luftverteidigung», Dänemark und Norwegen «tragen zur Luftbetankung bei», und Spanien «führt ein Länderkonsortium, das Luftbetankungsfähigkeiten bündeln will». «Norwegen und Deutschland haben sich zur Verbesserung maritimer Minenabwehrfähigkeiten verpflichtet», Polen und Ungarn verbessern ihre Spür- und Abwehrfähigkeiten gegen nukleare, chemische und biologische Waffen (ABC-Waffen).

Eine Kontroverse um den Irak gab es am Nato-Gipfel nicht. Mit einer scharfen Erklärung wurde die – interpretierbare – Uno-Resolution 1441 unterstützt, andererseits wurden dem Irak bei «weiterer Verletzung seiner Pflichten ernsthafte Konsequenzen» angedroht. Damit wurde gleich- zeitig klar, dass die Nato nicht direkt an einem neuen Irak-Krieg teilnehmen wird, aber die USA in ihrem Kriegskurs unterstützt.

Ein wesentlicher Punkt wurde auf dem Prager Nato-Gipfel en passant erst andiskutiert, nämlich ob die verbindliche US-Militärstrategie, die National Security Strategy, besser bekannt als Bush-Doktrin, in ihren Kernteilen von der Nato übernommen wird oder nicht. Das Kernelement der Bush-Doktrin, die Führung von Präventivkriegen, wenn die Regierenden die Hegemonie bedroht sehen, würde dann verbindlicher Teil der Nato-Strategie. Umso wichtiger waren die (wenigen) Aktionen von globalisierungskritischen Gruppen, von Friedens- und Antikriegsbewegung gegen den Gipfel in Prag.

* Der Autor ist Vorstandsmitglied bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

Original: http://www.woz.ch/wozhomepage/48j02/nato.htm