in: Freitag 22.11.2002

BEWÄHRUNG IN PRAG – Gulliver schwingt die Bündniskeule

Für US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ist der NATO-Gipfel ein Lackmustest für die Relevanz der Allianz

von: Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 2. Dezember 2002

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NATO-Generalsekretär George Robertson will nach dem Gipfel in Tschechien eines mit Bestimmtheit sagen können – der militärische Bedeutungsverlust des Bündnisses konnte aufgehalten werden. Ein verbindliches Aufrüstungsprogramm für alle neuen und alten NATO-Staaten gilt als beschlossene Sache. Es soll – um in der Sprache der Militärs zu bleiben – der „Abwehr chemischer, biologischer, radiologischer und nuklearer Angriffe“ ebenso dienen wie einer „Verbesserung der Interoperabilität dislozierter Streitkräfte“ oder einer „langfristigen Durchhaltefähigkeit“ entsprechender Formationen. Mit anderen Worten – die NATO soll an ihrem Vermögen feilen, Krieg führen zu können, und demzufolge mehr gefechtsorientierte Einheiten mit kriegstauglichem Material zur Verfügung stellen. Für die Bundeswehr heißt das, auch sie wird sich um den Aus- und Aufbau interventionsfähiger „Einsatzkräfte“ zu kümmern haben.

Stand By-Formation mit 20.000 Mann

Robertson schwebt eine Allianz vor, die sich als „neue Anti-Terror-Organisation“ für globale Einsätze empfiehlt und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (bei anderen) unterbindet. Eigentlich würde dies ein neues Strategisches Konzept erfordern, doch das von 1999 ist noch zu jung, um schon wieder ein neues aufzulegen, so werden dann eben die Aufgaben einfach „angepasst“.

Für erheblichen Wirbel im Vorfeld des Prager Gipfels hat die Forderung der USA nach Aufstellung einer NATO-Interventionstruppe (NATO Response Force / NRF) in einer Stärke von 20.000 Mann gesorgt. Dieses Korps soll ab 2006 aus einem jeweils bereit gehaltenen NRF-Pool aller NATO-Staaten rekrutiert werden können und das innerhalb einer Frist von sieben Tagen. Donald Rumsfeld hat eine solche Stand by-Formation schon zum Lackmustest für die Relevanz der NATO erklärt. Allerdings dürfte es für die Bundeswehr bei einer derart kurzen Vorwarnzeit schwierig sein, gemessen an der geltenden Rechtslage entsprechende Auslandseinsätze vom Bundestag genehmigen zu lassen. Auch wird dieses Ad-hoc-Kontingent unweigerlich zum Konkurrenten der ab 2003 vorgesehenen EU-Interventionstruppe mit 60.000 Mann (ein Drittel davon will Deutschland stellen). Das Einsatzführungskommando in Potsdam-Geltow soll bekanntlich der Kern eines „Operation-Headquarters der EU“ sein.

Sehr viel wesentlicher für die Zukunft des Bündnisses ist zweifelsfrei die Frage, ob die National Security Strategy (NSS) der USA – bekannt als „Bush-Doktrin“ – in ihrem Kern von der NATO übernommen wird oder nicht. Wolfgang Schäuble hat das im Bundestag vor Wochenfrist bereits gefordert. Vermutlich war er damit zu schnell, denn eine Übernahme dieser Doktrin würde bedeuten, dass die beiden neuen und zentralen Kernelemente der NSS gültiger Teil der NATO-Strategie werden – es geht dabei immerhin um die Führung von Präventivkriegen und einen sogenannten „niederschwelligen“ Einsatz von Kernwaffen. Die rot-grüne Bundesregierung will sich hier vorläufig nicht festlegen, unstrittig ist aber, dass dieser Punkt für die Amerikaner um einiges wichtiger ist als die 20.000 Mann einer NATO Response Force es sind – Gleiches gilt für einen möglichen Irak-Krieg.

Lead-Nation in Afghanistan

Nachdem die Wahlkampf-Ernte für SPD und Grüne eingefahren ist, wird das Aufbegehren gegen ein Irak-Abenteuer spürbar dezenter vorgetragen. Der von Verteidigungsminister Struck im Kriegsfall versprochene Abzug der ABC-Panzer aus Kuwait ist auf Wunsch von Außenminister Fischer zurückgenommen worden. Das Kabinett hat gerade fast geräuschlos im Parlament eine Verlängerung des „Enduring Freedom“-Mandats durchbekommen (mit Soldaten in Kuwait und Einheiten des Kommandos Spezialkräfte/KSK, die jetzt einen erweiterten Auftrag haben).

Damit ist eigentlich klar, dass durch die Mission der ABC-Abwehrkräfte in Kuwait (Unterstützung von US-Soldaten), die im Zweifelsfall unter US-Kommando stehen, mit einer Einbeziehung deutscher Soldaten in einen Irak-Krieg gerechnet werden muss. Das gilt ebenso für die multinationalen (und deutschen) Besatzungen beim geplanten Einsatz von AWACS-Aufklärungsflugzeugen. So ist Deutschland dann nicht mehr „nur“ indirekt wie bisher (Truppentransporte über Frankfurt Airbase, Ramstein und Spangdahlem), sondern wohl auch direkt beteiligt. Der Gebrauch deutscher, britischer und amerikanischer Infrastruktur in Deutschland wird den kriegführenden Staaten durch die Bundesregierung gewiss nicht verboten, obwohl sie bei einem Angriffskrieg nicht nur die Möglichkeit, sondern laut Grundgesetz sogar die Pflicht hätte, eine Nutzung zu untersagen. Kaum anders dürfte bei den Überflugrechten verfahren werden.

Kontroversen wird deshalb die Irak-Frage auf dem NATO-Gipfel kaum auslösen, nicht zuletzt, weil auch die deutsche Seite kein Veto gegen einen Krieg riskieren will. Zu erwarten sind eher ein offizielles Nichtverhalten der Allianz gegenüber den Plänen in Washington und London und damit Duldung sowie inoffizielle Mitwirkung.

Erst wenn die USA als nächstes Kriegsziel Iran ins Visier nehmen, erscheinen heftigere Kontroversen zwischen den Regierungen der USA und Deutschlands denkbar, denn hier unterscheiden sich die geopolitischen und ökonomischen Interessen erheblich.

Deutschland wird also auf dem Prager Gipfel steigende Verteidigungsausgaben versprechen und seine Teilnahme am neuen NATO-Interventionskorps zusagen, das hieße allerdings, die in Arbeit befindlichen neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) müssten noch einmal umgeschrieben werden, weil eine „Light“-Form von Präventivkriegen und die Übernahme weiterer militärischer Engagements (als „Lead-Nation“) in Afghanistan, auf dem Balkan und anderswo im permanenten Anti-Terror-Krieg hinzu kommen. Schließlich ist die Bundesrepublik Deutschland schon heute nach den USA der Staat, der – gemessen an seiner Truppenstärke – das größte Militärkontingent außerhalb der eigenen Grenzen im Einsatz hat.

Der Autor ist Vorstandsmitglied bei der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. /s. www.imi-online.de

Original: http://www.freitag.de/2002/48/02480802.php