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4.000 km rund um Brüssel

Interview mit Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. in Tübingen zur Entwicklung der Militarisierung der Europäischen Union (EU).

von: Kopenhagen2002 / Dokumentation / Interview / Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 10. November 2002

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Anbei ein Interview was die Kampagnenzeitung zu den Protesten zum EU-Gipfel am 14.12. „Kopenhagen2002“ mit Tobias Pflüger zur Militarisierung der Europäischen Union (EU) geführt hat.

Kopenhagen2002: Was ist derzeit der Stand der Militarisierung der EU?

Tobias Pflüger: Die EU-Staaten haben vereinbart, eine EU-Interventionstruppe zu schaffen, die im Einsatz bis zu 60.000 Mann umfassen soll. Insgesamt haben die Regierungen der EU-Staaten (mit Ausnahme Dänemarks, das sich nicht an der militärischen Komponente der EU beteiligt) und der EU-Kandidaten ca. 100.000 Soldat/inn/en „angemeldet“. Auf der Homepage der Bundesregierung heißt es dazu: „Insgesamt werden von den Mitgliedstaaten rund 100.000 Soldaten bereitgestellt, von denen 60.000 für ein Jahr permanent weltweit einsatzfähig sein sollen.“

Diese Interventionstruppe soll innerhalb von 60 Tagen einsatzfähig sein. Selbst der Interventionsradius von 4.000 km rund um Brüssel wurde verbindlich festgelegt. Die EU-Interventionstruppe ist keine „stehende Truppe“, sondern wird aus den bereitgehaltenen Truppenkontingenten jeweils zusammengestellt. Die Truppe soll im Laufe des Jahres 2003 „einsatzfähig“ sein. Ob diese strenge Zeitplanung tatsächlich umgesetzt wird, ist noch offen. Politisch interessant ist die Zusammensetzung der Truppe: Belgien: 1.000, (Deutschland: 18.000), Großbritannien: 12.500, Finnland: 2.000, Frankreich: 12.000, Griechenland: 3.500, Irland: 1.000, Italien: 6.000, Luxemburg: 100, Niederlande: 5.000, Österreich: 3.500, Portugal: 1.000, Schweden: 1.500. Dänemark beteiligt sich ja erfreulicherweise nicht an der EU-Truppe.

Kopenhagen2002: Welche Rolle spielt Deutschland bei der EU-Interventionstruppe?

Tobias Pflüger: Deutschland stellt mit 18.000 Soldat/inn/en das mit Abstand größte Kontingent. Auf der Homepage der Bundesregierung wird in Bezug auf die Truppenzusammensetzung stolz verkündet: „Ein Drittel aus Deutschland“, „Die Bundesregierung sagte einen Beitrag von insgesamt 32.000 Soldaten zu. Die Fähigkeiten der Bundeswehr beziehen sich vor allem auf die Bereiche Strategische Aufklärung, Führungsfähigkeit und Strategische Verlegefähigkeit.“

Um 18.000 einsatzfähige Soldat/inn/en zu haben, sind 32.000 notwendig, die extra dafür ausgebildet werden. Von den 18.000 Soldaten kommen 12.000 aus dem Heer. Zugesagt sind zudem 93 Kampf-, 35 Transport- und 3 Überwachungsflugzeuge, vier Kampfhubschrauber und Einheiten der Marine. Der Befehlshaber der EU-Truppe wird der deutsche General Rainer Schuwirth sein.

Die EU-Interventionstruppe kann vom Einsatzführungskommando in Potsdam-Geltow aus befehligt werden, denn das Einsatzführungskommando ist auch der „Kern eines Operation Headquarters der Europäischen Union“. Also Militärinterventionen der EU sollen vom Einsatzführungskommando in Potsdam gesteuert werden. Die FAZ sagt über die Einsatzzentrale in Potsdam: „Mit dem Einsatzführungskommando verfügt die Bundeswehr über einen operativen Führungsstab auf der Armee-Ebene, der in seinen Funktionen Aufgaben wahrnimmt, die in den früheren deutschen Armeen von Generalstäben wahrgenommen wurden“. Das Einsatzführungskommando ist also ein De-facto-Generalstab der Bundeswehr.

Um es klar zu formulieren: Hier wird eine gefährliche europäische Interventionstruppe unter deutscher Führung zusammengestellt für Militärinterventionen (sprich Kriegseinsätze) im Einsatzradius von 4.000 km (!) rund um Brüssel.

Kopenhagen2002: Tobias, vorhin kam in den Nachrichten eine wichtige Meldung: Das immer noch in Afghanistan stationierte deutsche Kommando Spezialkräfte (KSK) soll dort künftig eigenständige militärische Einsätze ausführen dürfen. Ein erster Kommentar zu dieser aktuellen Entwicklung?

Tobias Pflüger: Dass nun das Kommando Spezialkräfte „eigenständig“ kämpfen „darf“ ist ein weiterer Schritt hin zur militärischen Eigenständigkeit Deutschlands. Das KSK hat einen reinen Kampfauftrag und soll ihn nach dem Willen der Regierenden haben. Das KSK ist so etwas wie der Eisbrecher für die zukünftig immer häufiger werdende „übliche“ Art des Kriegseinsatzes. Und das KSK ist ein Symbol für die neue Form des Militärs: „war fighting profis“, die in allen fünf Varianten eingesetzt werden können: als Truppe innerhalb der NATO, innerhalb der EU, innerhalb der UN, in ad-hoc-Koalitionen oder rein national. Die einzig sinnvolle Sache, die man/frau mit einer solchen Truppe machen kann, ist sie sofort aufzulösen!

Kopenhagen2002: Wie ist das Verhältnis von NATO und EU-Militärs gedacht?

Tobias Pflüger: Zuerst einmal gibt es ja noch alle nationalen Truppen und die werden im Vorfeld des NATO-Gipfels von Prag (21./22. November) weiter in ihren Strukturen kriegsführungsfähig gemacht, d.h. ihre interventionsfähigen Teile werden weiter ausgebaut und erhalten auch neue Kriegswaffen. Da die EU-Interventionstruppe keine eigenständige „stehende“ Truppe ist, muss auf die militärischen Strukturen der einzelnen Länder und damit auf NATO-Strukturen zurückgegriffen werden. Ziel der EU-Oberen ist es allerdings, eine Interventionstruppe, ob mit oder ohne Rückgriff auf NATO-Equipment, zu schaffen, die unabhängig von der NATO, also auch unabhängig von der USA agieren kann. Auf der Homepage der Bundesregierung hört sich das so an: „Diese Kräfte in Form einer europäischen Eingreiftruppe sollen für gemeinsame Einsätze der EU unabhängig von der NATO zur Verfügung stehen.“ Das Verhältnis von EU-Militärs und NATO ist nicht eine Konkurrenz, sondern sich gegenseitig ergänzend. Oder um es deutlicher zu sagen, wenn Militärinterventionen durchgeführt werden sollen, an denen die US-Regierung kein Interesse hat oder bei denen ein anderes Interesse der US-Regierung vorliegt, dann soll in Zukunft auf die EU-Truppe zurückgegriffen werden.

Kopenhagen2002: Es deutet sich also durchaus ein Konkurrenzverhältnis EU-USA an?

Tobias Pflüger: Ja. Es gibt bekanntlich in verschiedenen Bereichen unterschiedliche Interessen, siehe die Positionen zum Irakkrieg. Die Bundesregierung bezieht ihre offiziell ablehnende Haltung auch, weil sie in der Region andere Interessen als die USA haben, Stichwort: Iran. Der Iran ist bei der US-Regierung das nächste Kriegsziel nach dem Irak, Deutschland hat enge wirtschaftliche Beziehungen zum Iran und will diese weiter ausbauen. Nur um auch das deutlich zu sagen, diese Konkurrenz ist sehr weit weg von einer direkten auch militärischen Konfrontation. Dazu sind die Interessen der westlichen Staaten zu nah beieinander: Auch militärische Absicherung des westlichen Wohlstandes gegen alle anderen.

Kopenhagen2002: Das heißt, die Militarisierung der EU hat auch wirtschaftliche Gründe?

Tobias Pflüger: Ja. Den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und militärischer EU machte der frühere Staatssekretär Dr. Walther Stützle aus dem deutschen Verteidigungsministerium auf dem Symposium „Sicherheit, Menschenrechte und Stabilität in Europa und der NATO“ am 28. Juni 1999 im Haus der Industrie in Wien deutlich: „Die Sache ist einfach: Eine Union, die sich nicht verteidigen kann, ist keine Union. Eine harte Währung, die eine schwache Verteidigung hat, ist auf lange Frist keine harte Währung. Daraus gilt es, die praktischen Schlüsse für die Tagesarbeit zu ziehen, es gilt, die zwei Prozesse miteinander zu harmonisieren und im Gleichgewicht zu halten.“ Gegen diesen Januskopf Militär- und Wirtschaftmacht EU ist dringend Protest und Widerstand notwendig. Die Militarisierung der EU ist insbesondere für die deutsche Regierung ein ganz zentrales Projekt. Die Verhinderung oder Behinderung dieses Projektes wird nicht von Regierungen kommen, sondern nur durch Protest und Widerstand und vor allem eine andere Grundstimmung in den Bevölkerungen, und da sollten wir durch Informationen und Aktionen dafür sorgen, dass sich immer mehr Menschen wehren.

Kopenhagen2002: Danke für dieses Interview.