Die USA wandeln sich zum Unrechtsstaat

Das neue beängstigende Gesicht Amerikas

von: Dokumentation / Jimmy Carter / Washington Post / Freitag | Veröffentlicht am: 25. September 2002

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EX-PRÄSIDENT JIMMY CARTER IN DER „WASHINGTON POST“

Original in der Washington Post vom 05.09.2002
Übersetzung von Hans Thie aus Freitag 20.09.2002

Die Politik der Vereinigten Staaten erlebt gegenwärtig fundamentale Veränderungen – in der Frage der Menschenrechte, in unserer Rolle gegenüber den anderen Nationen dieser Welt und im Friedensprozess des Nahen Ostens. All das passiert ohne große Debatten – außer, bisweilen, innerhalb der Administration. Nach der Tragödie des 11. September musste der Präsident reagieren, und er hat das zunächst auch schnell und vernünftig getan. Aber mittlerweile versucht eine Gruppe von Konservativen, lang gehegte Ambitionen unter dem Deckmantel des Krieges gegen den Terrorismus zu verfolgen.

Früher von den meisten Ländern als Champion der Menschenrechte bewundert, beargwöhnen respektable internationale Organisationen nun, ob unser Land noch zu den Grundprinzipien des demokratischen Lebens steht. Über das Unrecht in den Ländern, die uns beim Kampf um den Terrorismus unterstützten, haben wir hinweg gesehen. Bei uns im eigenen Land wurden amerikanische Bürger als Feinde inhaftiert, ohne Anschuldigung und ohne juristischen Beistand. Trotz aller Kritik der Bundesgerichte verweigert sich das Justizministerium diesem Problem. Und mit Blick auf die Gefangenen in Guantanamo erklärt der Verteidigungsminister, dass sie selbst dann nicht freigelassen werden würden, wenn sich ihre Unschuld erwiesen hat. All das passt zu Unrechtsstaaten, die von amerikanischen Präsidenten in der Vergangenheit immer verurteilt wurden.

Während der Präsident sich noch nicht abschließend geäußert hat, wird das amerikanische Volk fast täglich vom Vizepräsidenten und anderen hohen Regierungsvertretern damit konfrontiert, dass die Massenvernichtungswaffen des Irak eine tödliche Bedrohung darstellen und Saddam Hussein aus dem Amt gejagt werden muss, ob mit oder ohne Unterstützung der Verbündeten. Wie aber die Verbündeten und auch verantwortliche Politiker früherer Administrationen immer wieder betont haben, gibt es gegenwärtig keine Bedrohung der Vereinigten Staaten durch Bagdad.

Angesichts intensiver Überwachung und einer überwältigenden militärischen Übermacht der USA wäre jede kriegerische Handlung von Saddam ein Akt des Selbstmords. So unwahrscheinlich es ist, dass Saddam Nachbarstaaten attackiert, Nuklearwaffen testet, mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen droht oder sie Terroristen zur Verfügung zu stellt, so sehr ist es doch möglich, dass – im Falle eines amerikanischen Angriffs auf den Irak – diese Waffen gegen Israel oder gegen unsere Truppen als Reaktion eingesetzt werden. Wir können die Entwicklung von ABC-Waffen nicht ignorieren, aber ein einseitiger Krieg gegen den Irak ist nicht die Antwort. Unbehinderte Inspektionen im Irak sind dringend. Aber genau das ist offenkundig gar nicht gewollt, wie insbesondere der Vizepräsident mehrfach angedeutet hat.

Wir haben unsere Missachtung der restlichen Welt auch gezeigt, indem wir aus mühsam vereinbarten internationalen Abkommen ausgestiegen sind. Verträge über Rüstungskontrolle, Konventionen über biologische Waffen, Umweltabkommen und Vereinbarungen, mit den die Folterung und Bestrafung von Kriegsgefangenen verhindert werden soll – all das haben wir nicht nur abgelehnt, sondern auch all jene bedroht, die an diesen Abkommen festhalten. Diese ganze einseitige Politik isoliert die Vereinigten Staaten immer mehr von den Nationen, die wir brauchen, um den Terrorismus zu bekämpfen.

Tragisch ist auch, dass unsere Regierung substantielle Verhandlungen zwischen Palästinensern und Israelis nicht länger aktiv unterstützt. Offensichtlich besteht unsere gegenwärtige Politik darin, jede Aktion der Israelis in den besetzten Gebieten zu begrüßen und die Palästinenser zum Ziel unseres Krieges gegen den Terrorismus zu erklären, während die Israelis ihre Siedlungen ausdehnen und die palästinensischen Enklaven zusammenschrumpfen.

Innerhalb der Administration scheint es eine Auseinandersetzung über eine schlüssige Nahostpolitik zu geben. Die klaren Positionen des Präsidenten, wichtige UN-Resolutionen nach wie vor zu unterstützen und einem palästinensischen Staat nicht im Wege zu stehen, sind vom Verteidigungsminister negiert worden, der von den „sogenannten besetzten Gebieten“ spricht, in denen sich „irgendetwas schon etablieren werde“. Solche Stellungnahmen von Rumsfeld sind eine radikale Abkehr von der amerikanischen Politik, die seit 1967 immer den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten und einen wirklichen Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarn forderte.

Stimmen des Krieges und der Spaltung scheinen Washington zu dominieren, aber bislang haben weder der Präsident noch der Kongress oder die Bundesgerichte abschließende Entscheidungen getroffen. Die historischen und wohl begründeten Verpflichtungen Amerikas müssen die Oberhand gewinnen: Für Frieden, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Umwelt und internationale Kooperation.

Original: http://www.freitag.de/2002/39/02390403.php

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http://www.washingtonpost.com/ac2/wp-dyn/A38441-2002Sep4
The Troubling New Face of America
By Jimmy Carter

washingtonpost.com Thursday, September 5, 2002; Page A31
Fundamental changes are taking place in the historical policies of the United States with regard to human rights, our role in the community of nations and the Middle East peace process — largely without definitive debates (except, at times, within the administration). Some new approaches have understandably evolved from quick and well-advised reactions by President Bush to the tragedy of Sept. 11, but others seem to be developing from a core group of conservatives who are trying to realize long-pent-up ambitions under the cover of the proclaimed war against terrorism.

Formerly admired almost universally as the preeminent champion of human rights, our country has become the foremost target of respected international organizations concerned about these basic principles of democratic life. We have ignored or condoned abuses in nations that support our anti-terrorism effort, while detaining American citizens as „enemy combatants,“ incarcerating them secretly and indefinitely without their being charged with any crime or having the right to legal counsel. This policy has been condemned by the federal courts, but the Justice Department seems adamant, and the issue is still in doubt. Several hundred captured Taliban soldiers remain imprisoned at Guantanamo Bay under the same circumstances, with the defense secretary declaring that they would not be released even if they were someday tried and found to be innocent. These actions are similar to those of abusive regimes that historically have been condemned by American presidents.

While the president has reserved judgment, the American people are inundated almost daily with claims from the vice president and other top officials that we face a devastating threat from Iraq’s weapons of mass destruction, and with pledges to remove Saddam Hussein from office, with or without support from any allies. As has been emphasized vigorously by foreign allies and by responsible leaders of former administrations and incumbent officeholders, there is no current danger to the United States from Baghdad. In the face of intense monitoring and overwhelming American military superiority, any belligerent move by Hussein against a neighbor, even the smallest nuclear test (necessary before weapons construction), a tangible threat to use a weapon of mass destruction, or sharing this technology with terrorist organizations would be suicidal. But it is quite possible that such weapons would be used against Israel or our forces in response to an American attack.

We cannot ignore the development of chemical, biological or nuclear weapons, but a unilateral war with Iraq is not the answer. There is an urgent need for U.N. action to force unrestricted inspections in Iraq. But perhaps deliberately so, this has become less likely as we alienate our necessary allies. Apparently disagreeing with the president and secretary of state, in fact, the vice president has now discounted this goal as a desirable option.
We have thrown down counterproductive gauntlets to the rest of the world, disavowing U.S. commitments to laboriously negotiated international accords.

Peremptory rejections of nuclear arms agreements, the biological weapons convention, environmental protection, anti-torture proposals, and punishment of war criminals have sometimes been combined with economic threats against those who might disagree with us. These unilateral acts and assertions increasingly isolate the United States from the very nations needed to join in combating terrorism.
Tragically, our government is abandoning any sponsorship of substantive negotiations between Palestinians and Israelis. Our apparent policy is to support almost every Israeli action in the occupied territories and to condemn and isolate the Palestinians as blanket targets of our war on terrorism, while Israeli settlements expand and Palestinian enclaves shrink.

There still seems to be a struggle within the administration over defining a comprehensible Middle East policy. The president’s clear commitments to honor key U.N. resolutions and to support the establishment of a Palestinian state have been substantially negated by statements of the defense secretary that in his lifetime „there will be some sort of an entity that will be established“ and his reference to the „so-called occupation.“ This indicates a radical departure from policies of every administration since 1967, always based on the withdrawal of Israel from occupied territories and a genuine peace between Israelis and their neighbors.

Belligerent and divisive voices now seem to be dominant in Washington, but they do not yet reflect final decisions of the president, Congress or the courts. It is crucial that the historical and well-founded American commitments prevail: to peace, justice, human rights, the environment and international cooperation.

Former president Carter is chairman of the Carter Center in Atlanta.

© 2002 The Washington Post Company