in: illoyal 21, Herbst 2002

Deutschland im Krieg?

Über 10.000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sind gegenwärtig im Auslandseinsatz.

von: Paul Schäfer | Veröffentlicht am: 5. September 2002

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Über 10.000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sind gegenwärtig im Auslandseinsatz. Zu Beginn der SPD/Grünen-Bundesregierung wurden für den damaligen Bosnien-Einsatz (SFOR) 25 Mio. € aufgewandt, heute verschlingen die fünf großen Missionen (SFOR, KFOR, Amber Fox, Enduring Freedom, ISAF) über 2 Milliarden Euro jährlich! Ein wahrer Quantensprung. Diese Militäreinsätze haben in allen Fällen mit Krieg zu tun. Genauer: Mit „Nachkriegsordnung“. Sie sind die zwingende Folge militärischer Interventionen, mit denen die westlichen Hegemonialmächte Störpotentiale der globalisierten Welt einhegen wollen.

17-mal hat sich in der abgelaufenen Legislaturperiode die Bundesregierung Militäreinsätze mandatieren lassen, ein Ende ist nicht absehbar. Die militärische Präsenz auf dem Balkan gilt bis auf weiteres als unverzichtbar. Für die Beteiligung an der Internationalen Schutztruppe in Afghanistan wird ein Zeitrahmen von 10 bis 15 Jahren kalkuliert. Schon der Balkan-Einsatz dauert vielen Beteiligten viel zu lange; der Wehrbeauftragte hat bei Soldaten wachsenden Unmut über fehlende „Exit-Strategien“ der politisch Verantwortlichen festgestellt. Doch noch wird an der besseren Befähigung der Truppe für die „Krisenreaktion“ gearbeitet wird. Schon heute kann Kanzler Schröder darauf verweisen, dass die Bundesrepublik zweitgrößter Truppensteller bei internationalen Kriseneinsätzen sei. In Zeiten des bench-marking wird man diesen Platz festigen wollen.

Dabei haben die laufenden Einsätze dem Anschein nach wenig Martialisch-kriegerisches. Die Einsätze im Rahmen der Anti-Terror-Operation „Enduring Freedom“ gleichen eher anspruchsvollen Manöverübungen. Am Horn von Afrika werden 1450 Soldaten, drei Fregatten, fünf Schnellboote und ein Einsatzgruppenversorger für die Jagd auf Piraten und Schmuggler eingesetzt. Immerhin könnte man dieses Unternehmen als erste Gehversuche bei der Umsetzung der Verteidigungspolitischen Richtlinien werten: Sicherung des freien Zugangs zu lebenswichtigen Rohstoffen und Ressourcen. In Kuwait wartet eine Handvoll Soldaten der ABC-Schutztruppe samt Spürpanzern auf einen Überfall mit Massenvernichtungswaffen. Das Kommando Spezialkräfte, mit 100 Mann in Afghanistan vertreten, hat (angeblich) keine Gefangenen gemacht und schon gar nicht, diese den USA überstellt. SPIEGEL-Meldungen, die Truppe wolle mangels Beschäftigung nach Hause, werden dienstbeflissen zurückgewiesen.

Doch täuschen wir uns nicht. Das „Dabeisein ist wichtig“ kann schnell in eine andere Qualität umschlagen. Vor allem die Kräfte in der Nähe des Persischen Golfs könnten allzuschnell in einen neuen Krieg verstrickt werden. Vor allem die ABC-Truppe ist keine Formation der Etappe, sondern der ersten Reihe. Der neue Verteidigungsminister Struck hat sich hier weit aus dem Fenster gelehnt: Beim Ausbruch eines Krieges, müsste er sofort die deutschen Einheiten zurückziehen. Es sei denn, der Bundestag erteile ein neues Mandat. Genau in diesem ungewissen Zustand befindet sich die Bundeswehr. Soll sie oder soll sie nicht? Die Frage ist noch nicht entschieden. Sie beschreibt auch unabhängig vom Ausgang der Bundestagswahl das Dilemma, in dem sich die Bundesrepublik Deutschland befindet.

Das Wort von der uneingeschränkten Solidarität mit den USA will man aufrechterhalten, gleichzeitig sollen erhebliche Bedenken gegen die US-Kriegspläne geltend gemacht werden. Wird die künftige deutsche Regierung versuchen, sich mit einer Form niedriger Beteiligung durchzumogeln?

Der Grundsatz, dass Deutschland nur als militärische Ordnungsmacht auch international konkurrenzfähig sei, hat sich in den letzten zehn Jahren bei den Eliten dieses Landes fest etabliert. Unter dem Schlagwort der gestiegenen internationalen Verantwortung ist das Militär zu einem erstrangigen Faktor außenpolitischer Gestaltungsmacht avanciert. Mit der „Enttabuisierung des Militärischen“ hat Rot-Grün den über zehn Jahre währenden Prozess, Deutschland als normale „Mittelmacht“ mit militärischer Interventionskompetenz zu etablieren, zum Abschluss gebracht und dabei als besondere Leistung verbucht, daß unter der Schröder/Fischer-Regie der Rubikon zur Kriegführungsmacht überschritten wurde.

Das bedeutet noch lange nicht, dass Deutschland eine „militaristische“ Außenpolitik verfolgt. Aber die Versuchung, Streitkräfte als Mittel der Politik einzusetzen, wächst mit den stetig weiterentwickelten Interventionsfähigkeiten. Und auf deren Vervollkommnung ist die gesamte Planung der Streitkräfte ausgerichtet.

Gegenwärtig geht es im besonderen um die Bewaffnung des Eurofighters (der nun Typhoon genannt wird) mit neuen Raketen (Iris-T, Meteor), um neue Abstandswaffen (TAURUS), um einen neuen Schützenpanzer, um die Transportflugzeuge A 400 M (mit denen die Transportkapazitäten der Bundeswehr vervierfacht werden), und um die Aufklärungssatelliten SAR Lupe. Eine neue Hubschraubergeneration ist im Zulauf, eine umfassende Modernisierung der Truppe mit Informations- und Kommunikationssystemen ebenfalls auf den Weg gebracht. Diese Rüstungsmodernisierung ist eingebettet in die Planung der Europäischen Union zur Aufstellung einer schlagkräftigen EU-Eingreiftruppe (EU-Headline Goals), die ab nächstem Jahr eine erste Operationsfähigkeit erlangen soll. Der Zulauf der für EU-Interventionen essentiell wichtigen Systeme wird aber erst ab 2007/2008 erfolgen. Noch ist die EU eine rudimentäre Militärmacht.

Diese umfassende Rüstungsmodernisierung hat ihren Preis. In diesem Jahr sind, dank der zusätzlichen „Anti-Terror-Mittel“, die Ausgaben für das Militär wieder um fast 800 Mio. € nach oben gegangen. Die jetzt erreichten 24,4 Mrd. € sollen im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung verstetigt werden. Fachleute sind sich weitgehend einig, daß dieser Betrag nicht ausreicht, wenn man an den jetzigen Zielgrößen der Bundeswehrplanung festhält. Die Unionsparteien wollen daher 1 Mrd. € zusätzlich einstellen – falls sie die Wahl gewinnen. Aber dieses Versprechen könnte, gerade nach der Flutkatastrophe, schnell Makulatur werden. Aber Tatsache bleibt, dass die Bundesrepublik mit dem Rüstungsschub dieses Jahrzehnts exponierte Interventionsfähigkeiten besäße und folgerichtig immer bei Kriseneinsätzen gefragt wäre. Selbst in Militärkreisen wird es mit gemischten Gefühlen gesehen, dass die Bundesrepublik dann nicht mehr mit Verweis auf Überlastung und fehlendes Gerät „passen“ könnte.

Die gegenwärtig zu beobachtende „pazifistische Rückbesinnung“ der rot-grünen Regierung in puncto Irak-Krieg hat nun die Frage ausgelöst, ob sich eine neuerliche Kehrtwende in der deutschen Außenpolitik abzeichnen könnte – zumal auch FDP und Teile der CDU vor militärischen Abenteuern warnen. Doch gemach. Schauen wir uns die Lage nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 an: Die Bush-Administration hat von einem lang andauernden Krieg gesprochen. Die US-amerikanische Gesellschaft soll einer permanenten Mobilisierung gegen den „Feind“ ausgesetzt werden, mit der Absicht der Administration innen- und außenpolitisch freie Hand zu verschaffen. Die Gelegenheit sei günstig, hatte Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice ihrem Präsidenten souffliert. George W. Bush hat dies aufgegriffen: „Die Geschichte hat uns eine einmalige Gelegenheit gegeben, die Freiheit zu verteidigen. Wir werden sie nutzen.“(1) Diese Freiheit meint, dass sich die USA nach dem Angriff auf ihr Territorium ermächtigt sehen, weltpolitisch ohne Rücksicht auf Völkerrecht und internationalen Interessenausgleich agieren zu können.

Die neue Doktrin der „defensiven Intervention“ (D. Rumsfeld), der „präemptiven Aktionen“ gegen Schurkenstaaten, Terroristenfreunde oder sonstige mißliebige Regimes(2), dient einzig dem Zweck, die einzigartige Weltmachtrolle der USA zu festigen und auszubauen. Die USA haben den „Anti-Terror-Kampf“ genutzt, um „by the way“ zwei strategische Ziele zu erreichen: Sie haben sich an der Südflanke der Russischen Föderation festgesetzt und sich den Zugriff auf die erheblichen Ressourcen der Kaspi-Region gesichert. Durch die Ausweitung der Militärpräsenz von Südasien bis zum Südpazifik ist man dem Ziel der Einkreisung Chinas einen wichtigen Schritt näher gekommen.(3) Ein drittes Ziel bleibt die Kontrolle der ölreichen Golf-Region. Dabei geht es den USA um die Kontrolle über den Zugang zu den Ölressourcen der Region und mindestens in gleichem Maße darum, Anderen die Kontrolle über diese Machtquellen zu verwehren. Einen entscheidenden Positionsgewinn verspricht sich die Bush-Administration von einem „Regimewechsel“ im Irak. Ein solches Kriegsziel wäre ein Novum. Henry Kissinger sieht mit dieser Doktrin das gesamte System der Staatenwelt, wie es seit dem Westfälischen Frieden von 1648 Gültigkeit besessen habe, über den Haufen geworfen.(4) In der Tat: Ein durch Krieg herbeigeführter Regimewechsel wäre ein Präzedenzfall, der die Prinzipien der UNO pulverisieren und die Macht des Stärkeren in den Internationalen Beziehungen unverhüllt etablieren würde.

Deutsche Außenpolitik, die sich als Bestandteil europäischer Außenpolitik versteht, muss sich mehr denn je im Verhältnis zur Supermacht USA definieren. Die unverhohlene Absicht der Falken im Weißen Haus, Bagdad zu erobern, fordert jetzt eine Positionsbestimmung heraus. Nach dem 11.9.2001 war die EU, wie im übrigen auch der „Rest der Welt“, siehe Russland oder China, darum bemüht, eine weltweite Koalition gegen den Terror zusammenzubringen. Die dabei vorausgesetzte Subordination unter die USA, war mit einer doppelten Hoffnung verbunden: Einerseits wollte man als „Partner“ politisches Abenteurertum der Führungsmacht abmildern und zum anderen die Anti-Terror-Alllianz zur Durchsetzung eigener Interessen benutzen. Für die großen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union geht es dabei schlicht darum, in den Kriegs- und Krisenregionen „im Geschäft zu bleiben“.

Die im Kern unilaterale Politik der USA hat aber nunmehr für die europäischen Verbündeten mehr und mehr die Frage zugespitzt, wie man es mit der Verteidigung eigener Interessen künftig halten will. Während die britische Regierung – wider die eigene öffentliche Meinung – sich am Krieg beteiligen will, sind die französische, die deutsche und andere Regierungen in Europa auf Distanz gegangen. Ein „deutscher“ bzw. „europäischer Weg“ wird beschworen, der dem amerikanischen Abenteurertum entgegengesetzt werden soll. Der europäische Widerspruch zu den USA speist sich aus drei Quellen:

– Das Problem der Legitimation: Zwar behalten sich auch die „Europäer“ das Ausnahmerecht auf Intervention nach dem Muster des Kosovo-Krieges vor (Stichwort: humanitäre Intervention), aber sie wollen keine gesetzlose Welt. Vielmehr sollen moralisch abgeleitete, verbindlich geregelte Verhaltensnormen die Rechtfertigungsgrundlage für eine sog. Weltinnenpolitik darstellen. Der Streit um den Internationalen Strafgerichtshof steht hierfür pardigmatisch.
– Das Problem der Nachkriegsordnung: Die Europäer fürchten eine Art „imperial overstretch“, denn die Besetzung des Irak würde unweigerlich nach Balkan und Afghanistan eine weitere Protektoratslösung nach sich ziehen.
– Das Problem der Eskalationskontrolle: Ein Angriff auf den Irak, während der Palästina-Konflikt weitgehend ungelöst ist, ist ein Spiel mit dem Feuer. Die Furcht, die ganze Entwicklung könnte aus dem Ruder laufen, ist groß und vollauf berechtigt.(5)

Der „Waffengang“ gegen den Irak erscheint in diesem Licht als die Hybris der einzigen Weltmacht, mit deren Folgen insbesondere Europa als Nachbarregion konfrontiert wäre.

Diese gewiss tiefgreifende Differenz im Verhältnis Europa-USA sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass es eine grundsätzliche Übereinstimmung über die gegenwärtige imperiale Konstitution der Welt gibt: Die forcierte Herstellung des globalisierten Weltmarkts verlangt, dass mögliche Störfaktoren beseitigt werden. Diese Störfaktoren können Migrationsbewegungen ebenso sein wie unbotmäßige Diktaturen, die Sand im Getriebe der Kapitalverwertung darstellen, oder Regime, die die hierarchisierte Weltordnung in Frage stellen. Zur hegemonialen Machtausübung gehören Interventionen, die heute mehr denn den Anschein „internationaler Polizeieinsätze“ annehmen: „Die wesentliche Grundlage imperialen Rechts liegt also in der Polizeiaktion und der polizeilichen Macht, Ordnung zu schaffen und aufrechtzuerhalten.“(6) Dass Störenfriede zur Räson gebracht werden, ist die eine Seite der Medaille, dass alle angehalten sind, sich den Direktiven von IWF und Weltbank zu unterwerfen, die andere.

Für die Zukunft ist diese Widersprüchlichkeit zwischen Konsens und Differenz im transatlantischen Verhältnis von wachsender Bedeutung. Es wird eine Aufgabe der Friedensbewegung sein, an diesen Differenzen anzusetzen und die Forderung nach europäischer Eigenständigkeit zu verstärken. Aber die wundersame Wendung der deutschen Debatte darf nicht die Erkenntnis verbauen, dass sich die Friedensbewegung auf die eigene Kraft verlassen muss – und nicht auf die friedlichen Kräfte „da oben“ vertrauen darf.

(1) Zit. nach taz, 19.02.02
(2) Siehe die Rede von George W. Bush an der West Point Militär-Akademie am 1. Juni 2002
(3) Amerikanischer Halbkreis um China, in: Berliner Zeitung vom 22.08.02
(4) Henry Kissinger, Die USA brauchen eine Strategie für die Zeit nach Saddam, in: Die Welt am Sonntag, 11.08.02
(5) „Irak-Krieg würde politisches Erdbeben auslösen“, so der frühere französische Außenminister, Roland Dumas, in Berliner Zeitung, 23.02.02
(6) Michael Hardt/Antonio Negri, Empire, die neue Weltordnung, Frankfurt/M, 2002, S. 32