in: Graswurzelrevolution / GWR 268 · April 2002

Die Dilemmata des Israel/Palästina-Konfliktes

Notwendig ist eine Debatte um die Lebensverhältnisse vor Ort und ein Ende der israelischen Besatzungspolitik

von: Tobias Pflüger | Veröffentlicht am: 26. März 2002

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Es gibt mehrere Möglichkeiten mit dem Krieg in Palästina/Israel umzugehen. Viele machen es so, wie ich es – auch aus speziellen biographischen Gründen – lange Zeit auch gemacht hatte, sie wollen sich zu diesem Konflikt nicht verhalten: Zu kompliziert, zu viele Details, historisch zu belastet, keine Sicht auf einen Ausweg.

Informationen über die schrecklichen Lebensverhältnisse vor Ort, insbesondere der Palästinenser/innen interessieren viele nicht. Sie wollen es nicht hören, die Fakten werden ignoriert und geleugnet. Stattdessen dominieren die ideologischen Scheuklappen die Sicht auf den Konflikt. Nur sind in diesem Zusammenhang die ideologischen Scheuklappen, welche die „gutgemeint“ sind.

Ich habe den Eindruck, daß es in Deutschland viele gibt, die für sich sagen, ich will ganz konsequent gegen Antisemitismus sein (so weit so hervorragend). Und dabei meinen, eine Kritik an israelischer Politik sei automatisch antisemitisch. Das Gegenteil ist der Fall: Wer für Israel ist, muß sich automatisch gegen die Besatzungspolitik Israels engagieren, denn dadurch gefährdet sich Israel ständig selbst.

Der Ansatz von klassischer Aufklärung durch Vermittlung von Fakten, zieht beim Israel/Palästina-Konflikt offensichtlich nicht. Stattdessen fallen Menschen, die bei anderen Konflikten genau zwischen Regierung, Militär und Bevölkerung unterscheiden können, in die Muster etablierten Politikverständnisses: „Arafat hat seine Leute nicht im Griff“. So ein Unsinn, will hier jemand noch autoritärere Strukturen auf palästinensischer Seite einfordern? Die Brüche in den jeweiligen Konfliktparteien werden einfach geleugnet.

Für manche gibt es bezogen auf Israel: gutes (israelisches) Militär und schlechtes Militär (der Rest), gute (israelische) Gelöbnisse und schlechte Gelöbnisse (der Rest) , guter (…) Terrorismus und schlechter Terrorismus (…), guter Staatsterrorismus und schlechter Staatsterrorismus, gute Militärzusammenarbeit mit der Türkei und schlechte Militärzusammenarbeit mit der Türkei, gute Militärzusammenarbeit mit den USA und schlechte Militärzusammenarbeit mit den USA, gute Militärzusammenarbeit mit Deutschland und schlechte Militärzusammenarbeit mit Deutschland, gute Geheimdienste und schlechte Geheimdienste, gute Kriege (Golfkrieg, Besatzungskrieg etc.) und schlechte Kriege, gute apartheitsähnliche Strukturen und schlechte apartheitsähnliche Strukturen, schlechte Deserteure und gute Deserteure, gute Folter und schlechte Folter. Herrschaftskritische Positionen müssen jede Form von Herrschaft kritisieren…

Derjenige, der die konsequenteste Politik g e g e n Israel macht ist Scharon. Mit dieser Eskalationspolitik, mit diesen „Abschüssen“, destabilisiert Sharon und sein Militärapparat bewußt die palästinensische Autonomiebehörde und stärkt die Hardliner. Aber er destabilisiert auch Israel. Gewalt erzeugt Gegengewalt, das ist eine alte schreckliche Unlogik.

Die israelische Regierung nutzt die Losung „Krieg gegen den Terrorismus“ aus und betreibt ihre Eskalationspolitik. Manchmal habe ich das Gefühl und sehr viele Fakten sprechen dafür, daß die Hardliner beider Kriegsseiten(Scharon / militante Siedler einerseits und Hamas / islamischer Jihad andererseits) sich gegenseitig brauchen, um ihre jeweilige Politik der Verschärfung weiterzutreiben.

Konfliktforschung fragt auch nach den Akteuren eines Konfliktes. Die Akteure dieses Konfliktes sind sehr unterschiedliche: Auf der israelischen Seite schießen Gruppen z.B. aus den israelischen Siedlungen in der Westbank und (Elite-)Soldaten im staatlichen Auftrag. Auf palästinensischer Seite werfen einzelne und oder in Gruppen organisierte Menschen, meist Jugendliche Steine, andere schießen. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass in einem Fall (Israel) der Staat Akteur des Konfliktes ist und im anderem (palästinensische Seite) Gruppen und Einzelpersonen. Entsprechend sehen die Todeszahlen aus… Deshalb ist die Forderung nach einer Waffenpause vor Gesprächen so unsinnig, weil damit ganz wenigen Menschen die Definitionsgewalt über den gesamten Konflikt gegeben wird. Wer eine Waffenpause vor Gesprächen fordert, will keine Gespräche…

Ein Großteil der Menschen, die sich gegen die israelische Besatzung – im Übrigen auf sehr unterschiedliche Art und Weiße – wehren, macht dies nicht aus Antisemitismus, nein sie machen das, weil sie sich gegen die Unterdrückung wehren. Es geht bei den meisten nicht gegen „die Juden“, sondern gegen die israelische Besatzung(spolitik).

Denn Militär erzeugt Krieg und Krieg erzeugt neuen Krieg. Militärische Eigendynamik nennt man/frau das… Das hat Gush Shalom sehr klar beschrieben: Rache und Gegenrache und neue Gegenrache etc. eine ewige Spirale.

Ich kann einen Besuch in Israel u n d Palästina im übrigen nur empfehlen. „Lass dir nichts einreden, sieh selber nach! Was du nicht weisst, weisst du nicht.“ (Brecht) Notfalls stelle ich gerne Kontaktadressen zur Verfügung. Es war schon interessant, als uns israelische Linke sagten, wir möchten uns bitte explizit in Deutschland dafür einsetzen, daß die israelische Besatzungspolitik und ihre direkten und indirekten Unterstützungen beendet werden. Sie kritisieren die Kriegspolitik ihrer Regierung im übrigen äußerst scharf, meine Kritik ist dagegen lau.

In der Konfliktregion selbst haben wir direkt erlebt, was strukturelle Gewalt ist. Brecht hat das sehr schön beschrieben: „Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stecken, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Selbstmord treiben, einen in den Krieg führen. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“ Das trifft nicht nur auf Deutschland sondern auch genau auf Israel / Palästina zu. Amira Hass und Felicia Langer, beide Kinder von Holocaust-Überlebenden beschrieben die Situation für die Palästinenser/innen, die Besatzung des israelischen Militärs treffend als Apartheit.

Im Moment sehen ja einige Postmodernen, die sich selbst als „Linke“ bezeichnen, überall Antisemitismus. Auch „die Friedensbewegung“ soll antisemitisch sein. Bestimmte Menschen haben in ihren Köpfen antisemitische Grundmuster und entdecken deshalb überall den Antisemitismus, auch in den Anschlägen auf das World Trade Center. Ich nenne das einen „philosemitischen Antisemitismus“. Ein Beispiel dafür: Die von uns als Informationsstelle Militarisierung (IMI) und Winfried Wolf (PDS) herausgegebene und von vielen unterstütze „Zeitung gegen den Krieg“ hat seit der ersten Nummer ein Titelblatt, auf dem ein Kapitalist, eine Fabrik, ein Offizier und viele Soldaten zu sehen sind. Wir bekamen eine Zuschrift, in der es hieß: „Unserer Meinung nach werden mit der Darstellung antisemitische Stereotype weitergegeben, da ein zigarreschmauchender und Zylinder tragender Mann in Anzug, auf dem ein Stern!!! zu erkennen ist, mit Geld auf einer Fabrik sitzt und die Arbeiter anweist, in den Krieg zu ziehen. Es wird der Anschein erweckt, daß er den Krieg angeordnet hat und der Militär in der Mitte des Bildes lediglich die Befehle des Kapitalisten ausführt. Wir sind uns darüber im Klaren, dass Kriege auch auf Grund einer wirtschaftlichen Lobby stattfinden, die aus Rüstungsindustrie, rüstungsnahen Betrieben und dem Militär besteht. Dies in einer Graphik zu thematisieren, ist legitim. In unserer Gruppe löste Euer Titelbild allerdings (und wir glauben nicht unbegründet) auch Assoziationen wie „jüdisches Finanzkapital“ oder „jüdische Weltverschwörung“ aus, weil die Darstellung antisemitische Stereotypen vom fädenziehenden Juden reproduziert.“ Aus unserer Antwort: „- Der angebliche Stern ist keiner, sondern eindeutig eine Blume am Revers der schmucken Kleidung des Kapitalisten. – Außerdem (und das ist schon echt bemerkenswert): Die Blume hat fünf runde „Zacken“, der Judenstern hat bekanntlich sechs Zacken! – Im übrigen war der Judenstern eine Zeichen, was die Nationalsozialist/inn/en Menschen aus der jüdischen Bevölkerung zwangsweise verschrieben haben. Der Judenstern war ein sechseckiger Stern aus zwei ineinander geschobenen schwarz umrandeten gelben Stoffdreiecken. In der Mitte stand die schwarze Aufschrift „Jude“. (…) Bei diesem Bild auf die Assoziation „jüdisches Finanzkapital“ zu kommen ist schon sehr frei in den Assoziationen. Bitte überprüft mal, warum Ihr auf diese Assoziation kommt. Könnte es vielleicht sein, daß wer bei diesem Bild auf diese Assoziation kommt, womöglich genau diese Stereotype im Kopf hat, die Ihr angebt?“

Ich meine, diese e-mail ist typisch für einen Teil der „Linken“, das ist „philosemitischer Antisemitismus“. Genau dieses Grundmuster fand sich in vielen Kritiken von bestimmten „Linken“ an „der Friedensbewegung“. Um es noch mal deutlich zu sagen, ich halte das Verhalten vieler hiesiger Fans von Scharon und der brutalen israelischen Regierungspolitik für de facto antisemitisch, weil sie Juden anders vermeintlich „besser“ behandeln, als andere. Daniel Cohn-Bendit (!) sagte dazu mal etwas sinnvolles: „Das alles erinnert an die philosemitische Behauptung, die Juden seien kein schlechtes, sondern ein ganz besonderes Volk – schließlich habe kein anderes so viele Nobelpreisträger. Das ist falsch: die Juden sind kein Volk von Nobelpreisträgern, genau so wenig wie sie ein Volk von Bankiers sind. Jean Paul Sartre hat das einmal schön auf den Punkt gebracht, als er anmerkte, dass der Antisemitismus erst dann überwunden sei, wenn man die Juden als das verstehe, was sie sind: Menschen wie Du und ich: Polizisten und Ganoven, Krankenschwestern und Huren, Nobelpreisträger und Dummköpfe.“

Bezüglich der Kriegsregion Israel / Palästina ist eine Debatte überfällig, die sich mit der Situation vor Ort beschäftigt und nicht so sehr mit der Befindlichkeit von Menschen hier. Es ist notwendig sich für ein Ende der direkten Gewalt in Israel und Palästina einzusetzen. Ein Ende der direkten Gewalt zu fordern, bedeutet eine klare Kritik zu üben, an jedem Attentat von palästinensischer Seite und jedem Attentat israelischer Siedler oder des israelischen Staates (insbesondere der sogenannten „Liquidierungen“).

Das genügt aber bei weitem nicht. Insbesondere nötig ist ein Ende der strukturellen Gewalt in der Region. Es muß ein Ende – der Absperrungen, – der allnächtlichen (Kollektiv-)Bombardierungen palästinensischer Siedlungen durch israelisches Militär und – ein Ende der Sonderrechte israelischer Siedler im besetzten Gebiet z.B. bei der Straßennutzung, der Wassernutzung und der Landnahme geben.

Politisch notwendig ist ein Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten, sprich aus der Westbank und dem Gazastreifen. Die israelischen Siedlungen sind entweder aufzugeben oder in einen zukünftigen Staat Palästina einzugliedern. Extremistischen israelischen Siedlern muß endlich Einhalt geboten werden.

Dieser palästinensische Staat, um auf die Graswurzelkontroverse zu antworten, wäre nicht anderes als ein (kleiner) Schutz für die Palästinenser vor der weiteren Besatzung. Es wäre vermutlich auch ein weiterer Staat, gegen dessen Methoden der Herrschaftsausübung dann Kritik vonnöten wäre. Der Vorschlag aber, lieber auf den palästinensischen Staat zu verzichten, ist reine Ideologie, Ideologie von einem, der im Verhältnis zu den Betroffenen vor Ort an einem sicheren und frei zugänglichen Ort lebt.

Menschenrechte sind universal. D.h. auch die deutlichen Menschenrechtsverletzungen der israelischen Regierung und des israelischen Militärs müssen kritisiert werden. Wer nach der Formel vorgeht: „Israel darf nicht kritisiert werden“, entweder aus historischem Gründen oder religiösem Pietismus, verschließt die Augen gegenüber heutigen realen Gewalt- und Machtverhältnissen vor Ort. Der Nahostkriegsprozeß wird instrumentalisiert für hiesige Debatten. Historische deutsche Schuld wird auf dem Rücken der Palästinenser ausgetragen.

Blinde hiesige Solidarität und Verherrlichung der palästinensischen Intifada – mit allen Auswüchsen wie dem fatalen Märtyrerkult und dem Machismus der Gewalt – ist gefährliche Revolutionsromantik und zutiefst unpolitisch. Hier ist ein Blick notwendig auf die verschiedenen Arten des Widerstands vor Ort. Notwendig ist die Stärkung des politischen Widerstands der palästinensischen Seite gegen die Besatzungspolitik Israels. Zentral ist die Unterstützung „radikaler“ israelischer Friedensgruppen, wie Gush-Shalom, die sich seit Jahren gegen die Besatzungspoilitik verschiedener israelischer Regierungen wenden.

Israel schadet sich mit seiner derzeitigen Politik selbst. Wer für das Existenzrecht Israels ist, was alle Linken sein müssen, muß in aller Deutlichkeit die Regierungs-, Besatzungs- und Kriegspolitik der israelischen Regierung kritisieren. Dies tut im übrigen auch die parlamentarische Opposition in Israel: „Israel soll sich nach dem Willen der Opposition in der Knesset aus den palästinensischen Autonomiegebieten zurückziehen und Jerusalem mit den Palästinensern teilen. Der Oppositionsführer im israelischen Parlament, Jossi Sarid, sagte am Sonntag bei einem Besuch in Kairo, ein solcher historischer Kompromiss sei nur noch eine Frage der Zeit. „Die einzige Frage ist, ob er erreicht werden kann, bevor noch mehr Blutvergießen geschieht oder danach“, sagte Sarid nach einem Treffen mit dem ägyptischen Außenminister Ahmed Maher. Israel müsse sich auf die Grenzen von vor 1967 zurückziehen und die jüdischen Siedlungen auflösen. Die Palästinenser müssten aber einsehen, dass ein Anrecht auf die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge nicht umzusetzen sei, sagte Sarid.“ (AP 07.01.2002) Deutsche „Linke“ fallen also noch hinter die Linke in Israel zurück.

Konsequent gegen Rassismus und Antisemitismus vorzugehen, bedeutet auch rassistische Muster in unserem Denken anzugehen. Vielleicht hängt die Affinität vieler im Westen zu Israel mit der (vermeintlichen) kulturellen Nähe der israelischen Gesellschaft mit westlichen Gesellschaften zusammen. Bei so manchen (derzeitigen) Plädoyers „für Israel“ werden rassistische Muster, insbesondere gegen „den Islam“ und „die Araber“ deutlich. Dieser Rassismus ist nicht besser, nur weil er sich teilweise „links“ schimpft.

Ansonsten kann ich zum Thema Antisemitismus nur noch unseren Freund Uri Avnery zitieren, er sagte mal in einem Interview mit mir für die Zeitschrift „Wissenschaft und Frieden“: „Es gibt eine Art unangenehmen Philosemitismus, der mich genauso unangenehm berührt, wie der Antisemitismus. Das ist eine Sonderbehandlung, eine positive Sonderbehandlung, die im Prinzip nicht sehr weit entfernt ist von der negativen Sonderbehandlung. Israel muss genauso betrachtet werden wie jeder andere Staat der Welt, mit den selben Maßstäben, mit den selben moralischen Maßstäben. Von vielen Teilen der deutschen Öffentlichkeit ist es eine moralische Drückebergerei. Man drückt sich vor einer klaren Positionierung mit dem Vorwand, dass der Holocaust es verbietet.“ (Avnery, Uri / Pflüger, Tobias: Vom Frieden weit entfernt in: Wissenschaft und Frieden 2/2001)

Die Hoffung liegt bei der immer stärker werdenden israelischen Friedensbewegung, es fanden mehrere Demonstrationen mit jeweils mehreren Zehntausend Teilnehmer/innen statt, die ein Ende der Besatzungspolitik forderten. Und die Hoffung liegt darin, daß immer mehr israelische Soldatinnen und Soldaten die brutale Besatzungspolitik nicht mehr mitmachen und den Dienst in den besetzten Gebieten verweigert.

Unsere Aufgabe ist es insbesondere die israelische Friedensbewegung und diese israelischen Kriegsdienstverweiger/innen zu unterstützen. Ganz dringend notwendig ist auch eine Unterstützung der zivilen Kräfte auf palästinensischer Seite. Und diese gibt es reichlich, auch wenn sie gerne von den postmodernen „Linken“ geleugnet werden.

Die Zustimmung für Scharon sinkt erheblich, nur noch 35 Prozent der Israelis stehen hinter seiner Politik. 60 Prozent der befragten Israelis sind im übrigen für einen eigenständigen palästinensischen Staat. Wer im übrigen gegen einen palästinensischen Staat schreibt und argumentiert, fordert de facto eine Fortsetzung der Besatzungspolitik…

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