IMI-Analyse 2020/01
Großverbände gegen Russland – Deutschland als Speerspitze
von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 8. Januar 2020
Bei diesem Text handelt es sich um eine erweiterte Variante eines Beitrags, der zuerst bei Telepolis am 26. Dezember 2019 erschien.
Bei ihren „denkwürdigen“ Auftritten auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2014 forderte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck, flankiert von Ursula von der Leyen und Frank-Walter Steinmeier, nicht weniger als einen Paradigmenwechsel in der deutschen Außen- und Militärpolitik. Deutschland solle der „Kultur der militärischen Zurückhaltung“ entsagen und sich künftig deutlich öfter (militärisch) auf der Weltbühne positionieren, so die damalige Botschaft, die seither maßgeblich die deutsche sicherheitspolitische Debatte prägt (Wir sind die Guten).
Auch die deutsche NATO-Politik der folgenden Jahre sollte davon nicht unberührt bleiben, erste Gelegenheiten dazu ergaben sich bereits auf den NATO-Gipfeln in Wales (2014) und Warschau (2016), auf denen eine Reihe gegen Russland gerichteter Rüstungsmaßnahmen beschlossen wurden, bei denen sich Deutschland fast überall buchstäblich an vorderster Front positionierte. Die nächsten wichtigen Schritte wurden dann im Jahr 2018 eingeleitet – die NATO-Krisenreaktionsinitiative sowie die Verabschiedung des Fähigkeitsprofils der Bundeswehr. Bei beiden geht es um den Aufbau bzw. die Bereitstellung von Bundeswehr-Großverbänden für Auseinandersetzungen mit Russland, über die Ende des Jahres neue Informationen zum Stand der Umsetzung durchsickerten.
Militärisch erwacht
Nach der Eskalation der westlich-russischen Beziehungen im Zuge der Ukraine-Krise wurden erste wichtige Weichenstellung für eine endgültige Verfestigung des Neuen Kalten Krieges beim NATO-Gipfel in Wales im September 2014 getroffen. Bei nahezu allen damals in Angriff genommenen Projekten spielte Deutschland eine führende Rolle: Die Schnelle Eingreiftruppe der NATO (NATO Response Force, NRF) wurde von 13.000 auf 40.000 Soldaten aufgestockt und ergänzend der Aufbau einer 5.000 Mann starken Ultraschnellen Eingreiftruppe (Very High Readiness Joint Task Force, VJTF) beschlossen, was zunächst unter deutscher Führung geschah. Gleichzeitig wurde die Manövertätigkeit massiv erhöht, wofür entschieden wurde, das Multinationale Korps Nord-Ost in Stettin unter polnisch-deutscher Führung deutlich auszubauen, damit von dort aus (seit Juni 2017) Einsätze und Manöver in einem Umfang von bis zu 60.000 Soldaten geleitet werden können.
Beim NATO-Gipfel in Warschau erfolgte dann im Juli 2016 in Form permanenter Truppenstationierungen der endgültige Schritt über den Rubikon. Unter dem Begriff „Enhanced Forward Presence“ wurde beschlossen, vier NATO-Bataillone (à 1000 Soldaten) dauerhaft in unmittelbarer Nähe zu Russland zu stationieren. Damit wurde auch die NATO-Russland-Akte aus dem Jahr 1997 und die darin enthaltene Zusage, die NATO werde keine substantiellen Kampftruppen dauerhaft in Osteuropa stationieren, faktisch versenkt – und das erneut unter substantieller deutscher Beteiligung. So werden die NATO-Truppen in Polen von den USA, in Estland von Großbritannien und in Lettland von Polen befehligt, während die Bundeswehr in Litauen das dort stationierte NATO-Bataillon kommandiert.
Die fieberhaften Aktivitäten der Bundesregierung wurden bei den üblichen Verdächtigen durchaus wohlwollend registriert und kommentiert. Unter der völlig inakzeptablen Überschrift „Deutschlands militärisches Erwachen“ stellte seinerzeit zum Beispiel die FAZ ein lobendes Zeugnis aus: „Deutschland präsentiert sich auf dem Nato-Gipfel in Warschau mit neuem Selbstverständnis. Vergessen sind Jahrzehnte der politischen und militärischen Zurückhaltung. Jetzt geht es Berlin um die aktive Mitgestaltung der globalen Ordnung. […] Die neuen Bedrohungen durch die russische Aggressionspolitik im Osten und durch den islamistischen Terror im Süden des Nato-Bündnisgebietes haben die Bundesregierung veranlasst, die Kultur politischer und militärischer Zurückhaltung aufzugeben, die über Jahrzehnte ein eingeübtes Verhaltensgebot der deutschen politischen Führung war.“
Die völlig aus dem Ruder geratene Überschrift wurde zwar später in ein unverfänglicheres „Vom verlässlichen Partner zum Impulsgeber“ verändert, die Botschaft des Artikels blieb allerdings dieselbe. Und auch in den Folgejahren war Deutschland weiter bemüht, im Fahrersitz der NATO zu bleiben.
Bereitschaftsinitiative (4X30)
Als nächste wichtige Station erwies sich die NATO-Tagung in Brüssel im Juli 2018, auf der zwei weitere Projekte mit zentraler deutscher Beteiligung beschlossen wurden. Dabei handelte es sich einmal um die Reaktionsinitiative (Nato Readiness Initiative, NRI) – auch „4X30“ genannt. Woher die Abkürzung stammt, wird aus dieser Passage des Abschlussdokuments der Tagung ersichtlich: „Aus dem Gesamtpool an Streitkräften werden die Verbündeten zusätzlich 30 größere Kampfschiffe, 30 schwere oder mittlere Infanteriebataillone und 30 Kampfflugzeugstaffeln mit Unterstützungskräften in eine Reaktionsfähigkeit von 30 Tagen oder weniger versetzen.“
Danach wurde es zunächst einmal etwas ruhig um die Initiative, deren Kontingente zusätzlich zur ohnehin bereits auf 40.000 Soldaten aufgestockten Schnellen Eingreiftruppe mobilisierbar sein sollen. Seit erstem Januar 2020 gilt die Bereitschaftsinitiative aber als umgesetzt, wobei Deutschland hier laut einem Bericht der Stuttgarter Nachrichten erneut eine prominente Rolle spielt: „Deutschland unterstützt das Streben der Nato, über mehr voll ausgerüstete und ausgebildete Truppen innerhalb kürzerer Reaktionszeiten zu verfügen. Dafür hat die Bundeswehr rund 7200 Soldaten für die […] Bereitschafts-Initiative des Bündnisses (Nato Readiness Initiative, NRI) gemeldet. […] Als Ziel der NRI hat sie definiert, dass ein höherer Anteil der in den Nato-Staaten vorhandenen Truppen in der Lage sein soll, zu einer kürzeren Reaktionszeit des Bündnisses beizutragen. Außerdem soll die Beweglichkeit dieser Truppen innerhalb Europas und über den Atlantik hinweg verbessert werden.“
Die Bundeswehr stellt also nicht nur rund ein Viertel der Truppen für die Reaktionsinitiative, auch was die Logistik anbelangt, spielt sie eine Führungsrolle. Denn um die „Beweglichkeit innerhalb Europas“ und vor allem die schnelle Verlegefähigkeit in Richtung Osteuropa zu „verbessern“, wurde bei der NATO-Tagung in Brüssel als zweite wichtige Initiative der Aufbau eines in Ulm beheimateten Logistikkommandos (Joint Support and Enabling Command, JSEC) beschlossen. In der Abschlusserklärung der Tagung hieß es dazu konkret: „Wir haben auch weitreichende Beschlüsse gefasst, um die NATO-Kommandostruktur – das militärische Rückgrat des Bündnisses – anzupassen und zu stärken. […] Wir werden […] ein Gemeinsames Unterstützungs- und Befähigungskommando (Joint Support and Enabling Command) in Deutschland zur Gewährleistung der Operationsfreiheit und der Durchhaltefähigkeit im rückwärtigen Raum zur Unterstützung schneller Transporte von Truppen und Ausrüstung nach, durch und aus Europa aufbauen.“
Das JSEC soll zwar erst Ende 2021 voll funktionsfähig sein, aber bereits bei den NATO-Begleitmanövern zur US-Großübung „Defender 2020“ im April und Mai 2020 eine Rolle spielen – damit nähert sich Deutschland dem in der Konzeption der Bundeswehr vom Juli 2018 formulierten Ziel an, als Planungszentrum und Logistikdrehscheibe für den Weg nach Osten zu fungieren: „Die Rolle Deutschlands als mögliche Basis für Operationen, rückwärtiges Einsatzgebiet und Drehscheibe der Unterstützung stellt Anforderungen an den Nationalen Territorialen Befehlshaber (NatTerrBefh), die insbesondere im Hinblick auf Reaktionsfähigkeit, Führungsorganisation, Abstimmung mit und Unterstützung durch Dritte, Resilienz des Gesamtsystems sowie die Kräfte für den Heimatschutz einschließlich der territorialen Reserve zu erfüllen sind.“
Fähigkeitsprofil: Rüstung gegen Russland
Über die Beteiligung an konkreten NATO-Projekten wie der NRI oder dem Logistikkommando hinaus hat die Bundewehr einen Komplettumbau ihrer Strukturen auf den Weg gebracht, um so künftig „besser“ für Auseinandersetzungen mit Russland gerüstet zu sein. Den Aufschlag dazu machten im April 2017 die „Vorläufigen konzeptionellen Vorgaben für das künftige Fähigkeitsprofil der Bundeswehr“. Das nach seinem Verfasser auch „Bühler-Papier“ genannte Dokument schlug einen umfassenden Umbau der Bundeswehr-Großverbände vor, der damals von der FAZ treffend mit folgenden Worten beschrieben wurde: „Damit würden die Divisionen wieder die klassische Struktur aus der Zeit vor 1990 einnehmen.“
In einem nächsten Schritt folgte anschließend am 20. Juli 2018 die Veröffentlichung der bereits erwähnten Konzeption der Bundeswehr. In diesem wichtigsten Bundeswehr-Planungsdokument wurde ebenfalls die Ausrichtung auf Russland anvisiert (bei gleichzeitiger Beibehaltung der Fähigkeit von Militärinterventionen im Globalen Süden). Wörtlich hieß es in der Konzeption: „Die Bundeswehr muss […] in der Lage sein, zur kollektiven Bündnisverteidigung in allen Dimensionen mit kurzem Vorlauf, mit umfassenden Fähigkeiten bis hin zu kampfkräftigen Großverbänden innerhalb und auch am Rande des Bündnisgebietes eingesetzt zu werden.“
Eine Feinausplanung, wie sich diese Ambitionen direkt in den Strukturen der Bundeswehr abbilden sollen, lieferte dann das „Fähigkeitsprofil der Bundeswehr“ vom 3. September 2018, das im Wesentlichen die bereits im Bühler-Papier auffindbaren Vorschläge übernahm, sie aber noch einmal deutlich präzisierte. Das Fähigkeitsprofil selbst ist unter Verschluss, allerdings finden sich auf der entsprechenden Bundeswehrseite genug Informationen darüber, wie sich die Bundeswehr die künftige Struktur der Streitkräfte vorstellt.
Im Wesentlichen soll der Umbau der Bundeswehr in drei Schritten erfolgen: 2023 soll ein VJTF-Brigadeäquivalent – also etwa 5000 Soldaten – mit voller Bewaffnung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung aller anderen „Verpflichtungen“ (z.B. für die EU-Kampftruppen) in die NATO eingebracht werden können. Der zweite Schritt soll dann 2027 folgen, da will die Bundeswehr dann eine Division (knapp 20.000 Soldaten) beisteuern. Das Ende des im Fähigkeitsprofil beschriebenen Planungshorizontes ist schließlich 2031 erreicht, von da ab sollen dann alle Teilstreitkräfte für einen Krieg mit Russland gerüstet sein: Drei Divisionen (Heer), vier gemischte Einsatzverbände (Luftwaffe), 25 Kampfschiffe (davon elf Fregatten) und 8 U-Boote (Marine) sowie Kapazitäten zur Erlangung der Hoheit im Informationsraum (Cyber) will die Bundeswehr bis dahin am Start haben.
Und weil hierfür selbstredend eine Menge Soldaten und Gelder benötigen werden, wurde auch diesbezüglich der Bedarf präzisiert: Allein für die erste „Ausbaustufe“ müsse die Truppengröße von gegenwärtig ca. 180.000 auf 203.000 Soldaten nach oben korrigiert werden. Und eine Vollausstattung mit schwerem Gerät erfordere Militärausgaben von mindestens 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), so das Fähigkeitsprofil.
Realitätscheck I: Personal
Mitte Dezember wurde dem Bundestag ein – erneut unter Verschluss gehaltener – vom Verteidigungsministerium angefertigter Zwischenbericht zur Umsetzung des Fähigkeitsprofils vorgelegt, aus dem anschließend sowohl der Spiegel als auch der militärnahe Blog Augengeradeaus zitierten. Das Fazit fiel zwiespältig aus: Einerseits sei man mit Blick auf 2023 mehr oder weniger in der Spur – für die noch einmal ambitionierteren Vorhaben darüber hinaus fehle es aber aktuell an der finanziellen wie personellen Unterfütterung.
Schon was die Aufstockung der Truppe auf 203.000 Soldaten anbelangt, meldeten sich zuhauf kritische Stimmen zu Wort, die dies für illusorisch hielten. Anfang des Jahres schrieb zum Beispiel Spiegel Online: „Die Bundeswehr hat zu wenig Soldaten, und die Truppe ist überaltert, sie braucht Nachwuchs. Doch diesen für sich zu gewinnen, dürfte in Zukunft noch schwieriger werden, als bislang bekannt. Wie „Bild am Sonntag“ („BamS“) unter Berufung auf interne Papiere des Verteidigungsministeriums berichtet, rechnet die Bundeswehr damit, dass 2020 von 760.000 Schulabgängern nur die Hälfte für die Armee geeignet ist. Der Rest habe entweder keinen deutschen Pass, bringe nicht die nötige sportliche Fitness mit oder lehne das Militär grundsätzlich ab. Von den übrig bleibenden jungen Menschen müsste sich unter dem Strich jeder Vierte bei der Armee bewerben, damit diese ihren Bedarf decken kann.“
Um hier Abhilfe zu schaffen, werden allerlei Stellschrauben gedreht: Mehr Werbung, Attraktivitätsgesetz, Bahnfahren im Flecktarn usw. Doch wie der Überprüfungsbricht zum Fähigkeitsprofil einräumt, wird dies alles allenfalls helfen, den Bedarf für die VJTF-2023 zu decken – bei den für später geplanten Divisionen dürfte es in jedem Fall eng werden.
Schon jetzt hat sich die Bundeswehr deshalb von dem ursprünglichen Ziel verabschiedet, 2031 eine personell vollausgestattete dritte Division zur Verfügung zu haben. Im Fähigkeitsprofil-Zwischenbericht heißt es dazu ein wenig verklausuliert: „Erste Abschätzungen für eine mit dem Zwischenschritt Ende 2031 zu erreichende vollumfängliche Erfüllung aller durch Deutschland akzeptierten NATO-Planungsziele weisen in Richtung eines deutlich höheren Gesamtbedarfs an Soldatinnen und Soldaten.“
In etwas verständlicheren Worten fasste Spiegel Online den Kern dieser Aussagen folgendermaßen zusammen: „Die Militärplaner verabschieden sich auch von ihrer Zusage an die Nato, bis Ende 2031 drei voll ausgerüstete Heeresdivisionen mit jeweils etwa 20.000 Soldaten aufzustellen. Der dritte Großverband werde nun nur noch in ‚gekaderter‘ Form geplant, also als Formation, die bei Bedarf mit Reservisten aufgefüllt würde.“
Dies dürfte wohl auch der Grund für die jüngsten Versuche sein, die Ränge der Reserve deutlich aufzufüllen. Dafür wurde am 18. Oktober 2019 von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer die Strategie der Reserve erlassen, die als ein wesentliches neues Element die sogenannte Grundbeordung enthält, die vorschreibt, dass ausgeschiedene Soldaten nun einen relativ langen Zeitraum der Reserve zur Verfügung stehen müssen: „Alle ausscheidenden Soldaten werden künftig für einen Zeitraum von sechs Jahren in die Reserve eingegliedert, um den Bedarf der Truppenreserve und der territorialen Reserve im Konfliktfall decken zu können.“
Zusätzlich ist geplant, den Reservistenpool um „Ungediente“ zu ergänzen, wie bereits Ende August zu lesen war: „Der Reserve der Bundeswehr fehlt es an Personal. Mit einer ‚Grundausbildung für ungediente Reservisten‘ wollen die Streitkräfte gegensteuern und gleichzeitig das Image der Bundeswehr wieder aufpolieren.“ So hofft die Bundeswehr also ihre Personalsorgen perspektivisch beheben zu können, wobei ihr eben nach eigenen Angaben auch an einer anderen Ecke noch der Schuh drückt.
Realitätscheck II: Finanzen
Zur finanziellen Seite fasst Augengeradeaus die wesentlichen Aussagen des Zwischenberichts zum Fähigkeitsprofil folgendermaßen zusammen: „Die Finanzierung der Vorhaben der Streitkräfte hängt dagegen vor allem davon ab, wie sich die Haushaltsplanung nach dem kommenden Jahr entwickelt. Für das kommende Jahr liegt der auf gut 45 Milliarden Euro gestiegene Verteidigungsetat zwar um rund 1,3 Milliarden Euro unter der Projektion, die mit dem Fähigkeitsprofil im vergangenen Jahr verbunden wurde – dennoch sei für das wichtigste kurzfristige Projekt, die Ausstattung der NATO-Speerspitze (Very High Readiness Joint Task Force, VJTF) unter deutscher Führung 2023 ein wesentlicher Teil der Mittel vorhanden.“
Mit anderen Worten: Man sei halbwegs auf Kurs mit den kurzfristigen NATO-Zusagen, aber nur solange man das Ziel eines Militärhaushalts im Umfang von 1,5 Prozent des BIP nicht zu weit aus den Augen verliere. Was das in Zahlen bedeuten würde, hatte bereits das Fähigkeitsprofil von 2018 errechnet, nämlich ein Militärbudget von rund 58 Mrd. Euro im Jahr 2024. Davon ist die aktuelle Mittelfristige Finanzplanung doch ein Stück weg, weshalb die Bundeswehr die Parlamentarier in ihrem Zwischenbericht noch einmal daran erinnert, dass es mit den bisherigen üppigen Aufwüchsen bei Weitem nicht getan sei: „Wesentliches Hindernis für die Einplanung der genannten mehrjährigen Rüstungsvorhaben ist die im 53. Finanzplan ab dem Haushaltsjahr 2021 stagnierende bzw. leicht fallende Finanzlinie. Bei kontinuierlich steigenden Ausgaben im Betrieb führt dies bereits heute zu Verzögerungen und im Einzelfall auch zu Streichungen. Dies bedingt eine verlässliche Perspektive für eine im Einklang mit den gegenüber der NATO kommunizierten Absichten einer bis 2024 geplanten Erreichung von Verteidigungsausgaben in Höhe von 1,5 Prozent BIP sowie einer Steigerung auf eine Höhe von zwei Prozent des BIP bis 2031 stehenden Finanzplanung des Bundes.“
Da trifft es sich doch, dass Verteidigungsministerin und CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer exakt diese Zahlen, also eine Erhöhung der Ausgaben auf genau die geforderten 1,5 Prozent bis 2024 und dann sogar auf 2 Prozent bis 2031, also auf geschätzte 75 Mrd. Euro, bereits Anfang November versprochen hat.
Per Autopilot in den Neuen Kalten Krieg
So lässt sich im Ergebnis festhalten, dass die personellen und finanziellen Fragen zwar dafür sorgen, dass der Zug in Richtung Konfrontation mit Russland ein klein wenig holpert, allzu sehr abbremsen dürften sie ihn allerdings nicht. Zu sehr scheint vor allem die politische Klasse derzeit die „Notwendigkeit“ verinnerlicht zu haben, auf Konfrontationskurs mit Russland zu gehen. Ein Ausbrechen aus dem sich immer weiter verfestigenden Blockdenken und den damit einhergehenden intensivierten Rüstungsanstrengungen scheint jedenfalls aktuell nicht ernsthaft erwogen zu werden.
Das alles ist ein gefährliches Spiel mit dem Feuer: Über die Größenordnung der Folgen eines – nicht-atomaren – Krieges mit Russland klärte zum Beispiel unlängst Generalarzt Dr. Bruno Most auf, der Stellvertretende Kommandeur im Kommando Sanitätsdienstliche Einsatzunterstützung in Weißenfels. Er wurde laut dem russischen Nachrichtensender Russia Today im Reservistenblatt „Loyal“ zu den möglichen Opfern eines westlich-russischen Krieges mit den Worten zitiert: „Wir rechnen mit vier Prozent Ausfallrate pro Brigade jeden Tag. […] Mit Ausfällen meine ich Tote und Verletzte.“ Augenscheinlich rechnet die Bundeswehr aktuell mit 15.000 Soldaten pro Division, denn die Autorin des Loyal-Beitrags, Julia Egleder, präzisiert daraufhin, was das konkret bedeuten würde, sollten schlussendlich die anvisierten Großverbände aufgestellt worden sein: „Wenn nur die Hälfte der Brigaden an der Front im Osten eingesetzt würde, wären das 22.500 Soldaten: Panzertruppen, Grenadiere, Fallschirmjäger, Aufklärer, Pioniere, Artilleristen. Vier Prozent von 22.500 Soldaten ergibt 900. Das ist es, was Generalarzt Most ausdrücken will: In einem Krieg wäre mit 900 gefallenen und verwundeten Soldaten zu rechnen. An einem Tag.“
Dennoch wird, wie gesagt, am Eskalationskurs unbeirrt festgehalten. Symptomatisch hierfür war die Anfang 2019 erneut bei der Münchner Sicherheitskonferenz gehaltene Rede der damals noch als Verteidigungsministerin agierenden Ursula von der Leyen. Fünf Jahre nachdem sie an selber Stelle die deutsche Führungsrolle im Neuen Kalten Krieg ausgerufen hatte, zeigte sie keine Anzeichen der Einsicht über die fatalen Folgen dieser Entscheidung – im Gegenteil: „Als politische Allianz fordert uns das herausstechende Merkmal der neuen Sicherheitslage: Die Wiederkehr der Konkurrenz großer Mächte. […] Ob wir wollen oder nicht, Deutschland und Europa sind Teil dieses Konkurrenzkampfs. Wir sind nicht neutral. Wir stehen auf der Seite der Freiheit und der Menschenwürde. […] Dafür steht die NATO seit 70 Jahren!“