IMI-Analyse 2013/036 - in: Graswurzelrevolution Nr. 385

Der Große Koalitionsvertrag: Paradigmenwechsel zur offensiven Verantwortungsrhetorik

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 20. Dezember 2013

Drucken

Hier finden sich ähnliche Artikel

Glaubt man der Einschätzung des der Rüstungsindustrie nahestehenden Newsletter Verteidigung (Nr. 47/2013), so habe die Außen- und Militärpolitik während der Schwarz-Roten Koalitionsverhandlungen kaum Aufmerksamkeit erhalten. Die sei – so auch der Titel des Artikels – ein sichtbarer Ausdruck für den drohenden „Sturz in die Bedeutungslosigkeit“: „Von unverrückbaren 8,50 Euro Mindestlohn-Forderungen, endlosen Pkw-Maut-Debatten und Lastenverteilungsdiskussionen zur Finanzierung der Energiewende dominiert, kristallisiert sich die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik innerhalb der laufenden Koalitionsverhandlungen nach jetzigem Sachstand als konturloses Randthema heraus.“

Tatsächlich wurde über die Verhandlungen zum außen- und sicherheitspolitischen Teil des Koalitionsvertrages vergleichsweise wenig berichtet. Dies war jedoch am ehesten der Tatsache geschuldet, dass es augenscheinlich so gut wie keine Streitpunkte zwischen CDU/CSU und SPD gab.

Schon über die mitten im Verhandlungsprozess vorgelegte Koalitionsvereinbarung, die später nahezu eins zu eins in den Koalitionsvertrag übernommen wurde, hieß es in der FAZ (6.11.2013): „In der Außenpolitik haben die Koalitionsunterhändler […] fast vollständig vom selben Blatt gesungen. Die Positionen und Standpunkte […] unterscheiden sich nur noch in ganz wenigen Punkten.“

Einig war man sich nicht nur darin, die Militarisierung Deutschlands zielstrebig weiter voranzutreiben, sondern diese Maßnahmen darüber hinaus in einen neuen Duktus „Machtpolitischer Verantwortung“ einzubetten.

Die scheinbar bislang in Deutschland vorherrschende „Kultur der Zurückhaltung“ was den Einsatz militärischer Gewalt anbelangt, müsse endlich ad acta gelegt werden, so die wohl wichtigste Aussage des Koalitionsvertrags. Natürlich war es mit der vielbeschworenen „Kultur der Zurückhaltung“ noch nie allzu weit her – dass diese aber nun buchstäblich beerdigt und durch ein neu­es offensives Leitbild ersetzt wird, kann dennoch, zumindest was die Außendarstellung anbelangt, getrost als tief greifender Paradigmenwechsel angesehen werden.

Neue Macht – Neue Verantwortung

Als wesentlichen „Fortschritt“ machte die FAZ in dem oben bereits zitierten Artikel die im Gegensatz zu früheren schwarz-roten Papieren inzwischen offen reklamierten Großmachtambitionen aus: „Einen Unterschied zum Koalitionsfundament des Jahres 2005 markiert die außenpolitische Präambel des aktuellen Entwurfes.
Die Formulierungen markieren einen Abschied von der Kultur außenpolitischer Zurückhaltung, die frühere Grundsatztexte prägte. Stattdessen haben die Teilnehmer, wie es aus der Verhandlungsrunde heißt, eine selbstbewusste Rolle Deutschlands beschrieben, die mit dem Bekenntnis beginnt, die Bundesregierung wolle die globale Ordnung aktiv mitgestalten.“

Selbstredend fiel dieser neue machtpolitische Duktus nicht vom Himmel, worauf etwa German-Foreign-Policy.com (7.11.2013) hinweist: „Die offensiven Ankündigungen […] knüpfen unmittelbar an jüngste Vorstöße aus Berlin an, die in den vergangenen Wochen ein deutlich stärkeres deutsches Ausgreifen in alle Welt gefordert haben. In enger Abstimmung mit dem außenpolitischen Establishment in der deutschen Hauptstadt hat etwa Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede zum diesjährigen Nationalfeiertag erklärt, Deutschland sei ‚bevölkerungsreich, in der Mitte des Kontinents gelegen und die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt‘; er lehne es ab, ‘dass Deutschland sich klein macht‘“.

Besonders einflussreich war auch ein von 50 führenden Vertretern des außenpolitischen Establishments erstelltes Papier, das nahezu wortgleich diesen Gedanken übernahm. Der vielsagende Titel des von „Stiftung Wissenschaft und Politik“ und „German Marshall Fund“ veröffentlichten Strategiedokuments lautet: „Neue Macht – Neue Verantwortung“. In dem zwischen November 2012 und September 2013 erarbeiteten Pamphlet heißt es etwa: „Deutschland war noch nie so wohlhabend, so sicher und so frei wie heute. Es hat – keines­wegs nur durch eigenes Zutun – mehr Macht und Einfluss als jedes demokratische Deutschland vor ihm. Damit wächst ihm auch neue Verantwortung zu.“ Deutschland habe ein großes Interesse an der Aufrechterhal­tung der internationalen Ordnung und habe hierfür als eine der Führungsmächte des Systems künftig größere Verantwortung zu tragen, so die Kernaussage des Papiers.

Ein Dissens herrschte zwischen den einzelnen an der Erstellung des Papiers beteiligten Exponenten deutscher Großmachtambitionen dabei lediglich, ob militärische Gewalt ausschließlich mit einem Mandat der Vereinten Nationen ausgeübt werden dürfe oder – natürlich nur im „Ausnahmefall“ – auch ohne.

Über die grundsätzliche Frage, dass nämlich „Störer“ des für Deutschland so hochprofitablen Systems gegebenenfalls militärisch zur Ordnung gerufen werden müssen, herrschte traute Einigkeit: „Da aber, wo Störer die internationale Ordnung in Frage stellen; wo sie internationale Grundnormen (etwa das Völkermordverbot oder das Verbot der Anwendung von Massenvernichtungswaffen) verletzen; wo sie Herrschaftsansprüche über Ge­mein­schaftsräume oder die kritische Infrastruktur der Globalisierung geltend machen oder gar diese angreifen; wo mit anderen Worten Kompromissangebote oder Streitschlichtung vergeblich sind: Da muss Deutschland bereit und imstan­de sein, zum Schutz dieser Güter, Normen und Gemeinschaftsinteressen im Rahmen völkerrechtsgemäßer kollektiver Maßnahmen auch militärische Gewalt anzuwenden oder zumindest glaubwürdig damit drohen zu können.“

Diese engagiert in den Eliten geführte Debatte und die darin formulierten Forderungen flossen dann auch zunächst in die „Koalitionsvereinbarung CDU, CSU und SPD“ der „AG Auswärtiges, Verteidigung, Entwicklungspolitik und Menschenrechte“ vom 19.11.2013 und später dann in den Koalitionsvertrag ein, der Ende desselben Monats fertigge­stellt war.

Die Präambel des Koalitionsvertrags klingt, als wäre sie nahezu wortgleich aus dem Papier „Neue Macht – Neue Verantwortung“ abgepinselt worden: „Deutschland stellt sich seiner internationalen Verantwortung. Wir wollen die globale Ordnung aktiv mitgestalten. Dabei lassen wir uns von den Interessen und Werten unseres Landes leiten. […] Wir stehen bereit, wenn von unserem Land Beiträge zur Lösung von Krisen und Konflikten erwartet werden. Dabei stehen für uns die Mittel der Diplomatie, der friedlichen Konfliktregulierung und der Entwicklungszusammenarbeit im Vordergrund.“ Ganz so friedlich, wie man sich in der Präambel gibt, will man Deutschlands „internationale Verantwortung“ nun aber doch nicht gewahrt wissen. So wird für die EU eine „strategische Diskussion“ eingefordert, über die geklärt werden solle, „was sie mit vorrangig zivilen Mitteln oder gege­benenfalls auch militärischen Einsätzen erreichen kann und will“. Gleichzeitig bekennt man sich konsequenterweise auch zu einer „starken Verteidigung“ und betont: „Die Bundeswehr wird auch in Zukunft in Auslandseinsätzen gefordert. Das setzt ein breites militärisches Fähigkeitsspektrum voraus.“

Bei alledem sollte man auf keinen Fall den Fehler begehen zu denken, die SPD müsste hier zum Jagen getragen werden, wie etwa der Tagesspiegel (05.11.2013) betont: „Zur Vorgeschichte des offensiven Ansatzes gehört, dass die SPD in den vergangenen vier Jahren immer wieder kritisiert hatte, die Außenpolitik unter Minister Guido Westerwelle (FDP) bleibe unter ihren Möglichkeiten und nutze in Konflikten wie Iran, Naher Osten und Syrien ihren Hand­lungsspielraum und ihren potenziellen Einfluss nicht aus.“[1] Geradezu triumphierend freut sich die Welt (19.11.2013), dass nun der – aus Sicht des Blattes grundfalschen – „Westerwelle-Doktrin“ außenpolitischer Zurückhaltung in trauter Einigkeit eine klare Absage erteilt wurde: „Einig waren sich Union und SPD aber tatsächlich immer dann, wenn es darum ging, die Doktrin des amtierenden Au­ßenministers Guido Westerwel­le (FDP) zu beerdigen. So ist die von Westerwelle am häufigsten zitierte Formulierung des alten Koalitionsvertrages, man lasse sich bei militärischen Interventionen von einer ‚Kultur der Zurückhaltung‘ leiten, im neuen Vertrag nicht mehr enthalten.“

Verhandlungsführer für die CDU war der damalige Verteidigungsminis­ter Thomas de Maizière, der schon im Mai 2011 in seiner „Rede zur Neuausrichtung der Bundeswehr“ die heutige Marschroute vorgab, als er sagte, der „Einsatz von Soldaten“ könne auch dann erforderlich sein, „wenn keine unmittelbaren Interessen Deutschlands erkennbar sind. Für andere demokratische Nationen ist so etwas längst als Teil internationaler Verantwortung selbstverständlich. Wohlstand erfordert Verantwortung.“

Doch dieses Gerede von der – militärisch umzusetzenden – internationalen Verantwortung ist nichts anderes als der wenig verklausulierte Versuch, mit der „Kultur der Zurückhaltung“ zu­gunsten einer auf Gewalt gestützten Weltmachtpolitik endgültig aufzuräumen. So schreibt etwa der Politikprofessor Gun­ther Hellmann in einem Beitrag für die Internationale Politik, nach eigenem Bekunden „Deutschlands führende außenpolitische Zeitschrift“, über die machtpolitischen Hintergründe dieser Verantwortungsrhetorik: „Deutschland, so heißt es, hat ‚Führungsverantwortung‘ zu übernehmen. Eine ‚Kultur der Zurückhaltung‘, wie sie in Bonner Zeiten verstanden wurde, ist mit einer derart gewachsenen außenpolitischen ‚Verantwortung‘ nicht mehr vereinbar, sei es im Kontext der EU oder in Afghanistan. […] Berlin sagt ‚Verantwortung übernehmen‘, meint aber ‚Macht ausüben‘.“

Attraktivitätsoffensive und finanzieller Schluck aus der Pulle

Damit den deutschen Großmachtambitionen auch künftig genug Personal zur Verfügung steht, wird im Koalitionsvertrag betont, der „Steigerung der Attraktivität des Auftraggebers Bundeswehr“ müsse hohe Priorität zukommen. Als Teil einer solchen „Attraktivitätsoffensive“ wird u.a. der „Aufbau der Kinderbetreuung […] für mehr Familienfreundlichkeit“ genannt.

Ferner wird ein grundsätzliches Bekenntnis zur Propagandatätigkeit im Inland abgegeben, um über die Tätigkeit der Truppe „aufzuklären“: „Der Dialog der Bundeswehr mit der Gesellschaft soll insbesondere mit jungen Menschen geführt werden. Die Jugendoffiziere leisten eine wichtige Arbeit bei der Information über den Auftrag der Bundeswehr. Wir begrüßen es, wenn möglichst viele Bildungsinstitutionen von diesem Angebot Gebrauch machen. Der Zugang der Bundeswehr zu Schulen, Hochschulen, Ausbildungsmessen und ähnlichen Foren ist für uns selbstverständlich.“

Den „Soldatinnen und Soldaten“ wird gleichzeitig die „best­mögliche Ausrüstung“ versprochen. Hierfür – und generell für Deutschlands militärische Potenz – bedürfe es jedoch einer schlagkräftigen Rüs­tungsindustrie, weshalb der Koalitionsvertrag eine regelrechte Liebeserklärung an die Branche enthält: „Deutschland hat ein elementares Interesse an einer innovativen, leistungs- und wettbewerbsfähigen nationalen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Der Erhalt ei­gener industrieller Fähigkeiten sichert nationale Souveränität, schließt militärische Fähigkeitslücken und stärkt die Kooperationsfähigkeit.“

Auch konkrete Rüstungsprojekte werden im Koalitionsvertrag angekündigt, dieses etwa verspricht besonders teuer zu werden: „Die Bundesregierung bekennt sich zu ihren bündnispolitischen Zusagen und wird ihren Beitrag zum Aufbau der NATO-Raketenabwehr leisten, die wir für den effektiven Schutz vor der Bedrohung durch Raketen in den Händen von Risikostaaten benötigen.“

Was die Anschaffung von Kampfdrohnen anbelangt, ist diese keineswegs vom Tisch, sondern lediglich auf Wiedervorlage vertagt: „Vor einer Entscheidung über die Beschaffung qualitativ neuer Waffensysteme werden wir alle damit im Zusammenhang stehenden völker- und verfassungsrecht­lichen, sicherheitspolitischen und ethischen Fragen sorgfältig prüfen. Dies gilt insbeson­dere für neue Generationen von unbemannten Luftfahrzeugen, die über Aufklärung hinaus auch weitergehende Kampffähigkeiten haben.“

Fest im Koalitionsvertrag verankert wurde dagegen bereits die Herstellung einer EU-Drohne: „Die Koalition wird eine europäische Entwicklung für unbemannte Luftfahrzeuge voranbringen.“

Da trifft es sich, dass EADS (bald: Airbus) sowohl in den Bau der NATO-Raketenabwehr als auch der EU-Drohne einsteigen will.

Was die Kontrolle der steigenden Rüstungsexporte anbelangt, wird lediglich eine zeitnahe Unterrichtung des Bundestages über „Genehmigungsentscheidungen im Bundessicherheitsrat“ sowie eine frühere „Vorlage des jährlichen Rüstungsexportberichtes noch vor der Sommerpause des Folgejahres“ angekündigt.
Hierbei handelt es sich um ein verfrühtes Weihnachtsge­schenk an die Rüstungsindus­trie, denn dadurch werden die deutschen Rüstungsexporte, die 2012 mit Exportgenehmigungen in einer Höhe von 8,87 Mrd. Euro ein Allzeithoch erreicht haben, jedoch – wenn überhaupt – nur minimal behindert.[2]

Ein letzter wesentlicher Punkt findet sich nicht im Koalitionsvertrag selbst, war aber im Prinzip schon vor Abschluss der Verhandlungen klar: Nämlich dass das vereinbarte Sparziel vom Juni 2010, nach dem der Bundeswehr-Etat bis 2014 auf 27,6 Mrd. Euro hätte reduziert werden müssen, weiter geflissentlich ignoriert wird. Für 2014 sind aktuell 32,8 Mrd. Euro eingeplant (außerdem wurden bis zu 750 Mio. Euro Personalkosten in den allgemeinen Haushalt verschoben).

Dieser Betrag soll laut dem Unionsvorsitzenden Volker Kauder nun augenscheinlich – zumindest gab es bislang keine Dementis – auf diesem hohen Niveau verstetigt werden: So heißt in der FAZ (05.11.2013): „Was politische Vorhaben kosten, verraten Politiker weder im Wahlkampf noch in der Frühphase von Koalitionsverhand­lungen gern. […] Volker Kau­der, der alte und neue Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, hat eine geradezu spektakuläre Ausnahme gemacht. Noch im Wahlkampf hat er die Höhe des Verteidigungshaus­halts bis zum Jahr 2017 präzise festgelegt. Über die komplette Legislaturperiode solle es bei den für 2014 beschlossenen 32,8 Milliarden Euro für die Bundeswehr bleiben, versprach Kauder im September.“

So ist also sichergestellt, dass den deutschen Weltmachtambitionen auch die notwendigen Soldaten, industriellen Kapazitäten und nicht zuletzt auch Gelder zur Verfügung stehen.

Anmerkungen:
[1] Westerwelle setzte sich in einem Interview in der Welt (10.11.2013) mit dieser Kritik aus­einander und hielt ihr entgegen: „Ich bin in meinem politischen Leben oft dafür kritisiert worden, dass ich mich mehrmals gegen eine deutsche Beteiligung an militärischen Interventionen gestellt habe. Aber wie ist denn heute die Lage im Irak? Oder in Libyen? Ich kann nicht sehen, warum eine politische Reifung des wiederverei­nigten Deutschlands mit mehr militärischen Interventionen einhergehen muss. Politische und diplomatische Lösungen haben für mich Vorrang. Wir sollten bei der Kultur der militärischen Zurückhaltung bleiben. Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik. Die Pickelhaube steht uns nicht.“
[2] Im Vorjahr waren die Exportgenehmigungen zwar höher, dies lag aber daran, dass damals noch Zahlen, die eigentlich 2010 hätten angegeben werden müssen, mit enthalten waren.