IMI-Studie 2022/4

Ein strategischer Kompass für Europas Rückkehr zur Machtpolitik

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 10. Juni 2022

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Wer einen Kompass benötigt, hat meist zuvor die Orientierung verloren – und für die Europäische Union (EU) und ihre Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik trifft dies in jedem Fall zu. Dies legt zumindest ein neues Grundlagendokument nahe, mit dem die Europäische Union mehr oder minder offen eingesteht, bislang auf verschiedenen Ebenen und über viele Jahre mit Strategien und Konzepten operiert zu haben, die in keinerlei „vernünftigem“ Bezug zueinanderstanden. Der auf dem EU-Gipfeltreffen am 25. März 2022 verabschiedete „Strategische Kompass“1 (SK) soll hier erklärtermaßen Abhilfe schaffen und die Richtung der künftigen europäischen Militärpolitik vorgeben. Als neues Bindeglied will der Kompass die aktuell klaffende Lücke zwischen den in der „Europäischen Globalstrategie“ aus dem Jahr 2016 festgehaltenen allgemeinen Zielen der Union, dem noch aus dem Jahr 2004 stammenden veralteten „Militärischen Planziel“ („Headline Goal“) und den in dieser Form seit etwa 2017 existierenden diversen Mechanismen zum Streitkräfte- und Fähigkeitsaufbau (CDP/CARD; PESCO; EDF) schließen.

Als oberstes Ziel gab die EU-Globalstrategie aus, es sei notwendig, eine weitgehende „Strategischen Autonomie“ zu erlangen. Dafür wird nicht zuletzt ein massiver Ausbau des Militärapparates für notwendig erachtet, denn nur so sei die Union künftig in der Lage, ihre Interessen in Zeiten zunehmender Großmachtkonflikte durchzusetzen.2 Der Strategische Kompass hat das Ziel, diese Vorgabe zu operationalisieren und mit den verschiedenen Ebenen der bislang recht disparaten Strategie- und Streitkräfteplanung zu synchronisieren. Der in der Endphase der Erarbeitung des Dokumentes begonnene russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wirkte dabei wie eine Art Katalysator für derlei Bestrebungen. Durch bis dahin nicht vorgesehene letzte Überarbeitungen wurde so die zuvor schon prominente „Rückkehr der Machtpolitik“ zum alles dominierenden Element, auf das sich nun der Großteil der Aufmerksamkeit richten soll. Die Europäische Union brauche einen „Quantensprung“, um ihre „geopolitische Stellung ausbauen“ zu können, benennt der Strategische Kompass recht ungeschminkt das eigentliche Ziel, das sich hinter dem etwas harmloser daherkommenden Begriff der Strategischen Autonomie verbirgt (SK: 6).

Ungewöhnlich ist dabei, dass das Dokument nicht nur eine zentrale Lücke zwischen Strategie- und Streitkräfteplanung zu schließen versucht, sondern hierfür auch „klare Zielvorgaben und Etappenziele“ (SK: 3) in Form von über 60 Einzelvorschlägen formuliert. Insbesondere in den Bereichen Streitkräfteaufbau und Rüstungsinvestitionen fallen diese teils recht konkret und ambitioniert aus, vor allem das Vorhaben, eine „Schnelle Eingreiftruppe“ mit 5.000 Soldat*innen aufstellen zu wollen, wurde breit wahrgenommen. Offiziell soll mit diesen Zielvorgaben eine größere Verbindlichkeit hergestellt werden, teils macht es aber auch den Eindruck, dass darüber strittige Fragen einfach vertagt wurden. So ambitioniert der Strategische Kompass deshalb auch daherkommt, seine Reichweite wird somit entscheidend davon abhängen, inwieweit es gelingen wird, die ausgegebenen Ziele auch tatsächlich zu realisieren. Ein weiteres potenzielles Konfliktfeld könnte darüber hinaus auch noch im Widerspruch zwischen zunehmenden europäischen Autonomiebestrebungen und dem Führungsanspruch der NATO (bzw. der USA) bestehen, der in dem Dokument ebenfalls eher mühsam übertüncht wird. Denn faktisch legt der Kompass die Grundlagen, um sich als eigenständige militärische Weltmacht unter Umständen sogar in Konkurrenz zu den USA im Ringen der Großmächte in Stellung zu bringen.

Wirklich problematisch ist bei all dem vor allem die komplette Engführung auf den Ausbau des Militärapparates als einzig für probat erachtetem Mittel, um auf die zunehmenden Großmachtkonflikte zu reagieren. Andere Aspekte werden hier allenfalls zu ergänzenden Elementen innerhalb dieser Machtkonflikte degradiert – vertrauensbildende Maßnahmen, Abrüstungsinitiativen oder Rüstungskontrolle, die geeignet wären, die tatsächlich immer weiter zunehmenden Spannungen abzubauen, führen im Kompass leider ein Schattendasein. Der Kompass hätte der EU die Chance eröffnen können, sich mit einem Gegenmodell zur militarisierten Großmachtkonkurrenz zu profilieren. Dies wäre allein schon deshalb von zentraler Bedeutung, weil so alle Anstrengungen auf die wirklich drängenden Menschheitsprobleme konzentriert werden könnten: die Klimakatastrophe, Armut und Hunger und die Gesundheitskrise, über die sich der Kompass weitgehend ausschweigt. Anstatt hier anzusetzen und dabei Gerechtigkeitsfragen ins Zentrum zu rücken, ist der Kompass somit ein bloßes Arbeitsprogramm zur forcierten Aufrüstung der Union geworden.

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