IMI-Analyse 2022/14 - in: AUSDRUCK (März 2022)

Mit FONOPs auf Kollisionskurs?

Westliche Militärpräsenz und Manöver im Indo-Pazifik

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 21. März 2022

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Von Kriegsmarinen durchgeführte Freedom of Navigation Operations (FONOPs, Manöver zur Freiheit der Schifffahrt) bestehen offiziell darin, durch umstrittene internationale Gewässer zu kreuzen und damit anderen Marinen anzuzeigen, dass ihr Herrschaftsanspruch über dieses Seegebiet nicht anerkannt wird und einem jeden Schiff die Durchfahrt frei steht. Ein scheinbar hehrer Anspruch, sich für die Rechte Aller gegen die Gewalt Bestimmter zu stellen. Es gibt hier die Guten und die Bösen – in unserem Fall sind die Bösen in der Volksrepublik China zu verorten und die Guten im Westen (USA, Frankreich, Großbritannien, Niederlande … und Deutschland): FONOPs in Asien sind ein Instrument von Groß- und Militärmächten, um die VR in die Schranken zu weisen.

Spätestens mit der Schwerpunktverlagerung („pivot to Asia“) unter US-Präsident Barack Obama ab dem Jahr 2011 wurde der erklärte Systemkonkurrent China verstärkt ins Visier genommen. Nun wird mit Kriegsschiffen durch von China beanspruchte Meeresgebiete gefahren, womit nach vielfacher Einschätzung ein erhebliches Provokations- und Eskalationspotenzial einhergeht. „Solche Fahrten bergen allerdings immer die Gefahr einer Gegenreaktion und können Anlass für Zwischenfälle auf See und in der Luft sein. […] Die durch amerikanische Schiffe seit Jahrzehnten regelmäßig durchgeführten ‚Freedom of Navigation‘-Einsätze haben vor allem in den letzten Jahren im Zeichen sich anbahnender Großmachtrivalitäten im Indo-Pazifik den Beigeschmack amerikanischer Machtprojektion gegenüber China bekommen.“[1]

Deutschland hatte sich bislang von derlei waghalsigen Manövern ferngehalten – nun mehren sich aber auch hierzulande die Stimmen, die eine größere militärische Präsenz im „Indo-Pazifik“ fordern. Fernab eigener Küsten stellt sich Deutschland so an der Seite der USA gegen die Volksrepublik China und instrumentalisiert und heizt einen lokalen Konflikt an, dem anders besser zu begegnen wäre. 

Der Konflikt – Umkämpfte Inseln

Hintergrund der Übungen ist dabei ein komplexer Konflikt um Ressourcen und Gestaltungsmacht, der in den letzten zehn Jahren unter anderem dadurch verschärft wurde, dass eine heraufziehende Großmachtkonkurrenz zwischen den USA und der VR China eine Bühne braucht. Der territoriale Anspruch Chinas auf das Südchinesische Meer besteht seit 1947 – festgelegt in einer flüchtigen Skizze vom Südchinesischen Meer hat die damalige Republik China mit neun groben Strichen das von ihr beanspruchte Gebiet markiert. Diese Nine-Dash-Line wurde mehr und mehr relevant, indem andere Anrainer und die VR China bzw. Taiwan mit ihren territorialen auch ökonomische Ansprüche und Ziele verbanden: Fischerei und Ölförderung sind dabei nur zwei Stichworte. Alle Anrainer haben kleinere Felsen und Riffe in dem Gebiet als Anlaufpunkte für Fischer und als Ausgangspunkt für Explorationen genutzt und für sich reklamiert. Erst seit dem Beginn des neuen Jahrtausends jedoch zeigt sich, dass die VR China nicht nur einen immer größeren Bedarf an Ressourcen hat, den sie im Südchinesischen Meer zu stillen suchte, sondern auch technische und militärische Mittel an den Start brachte, um diese Ansprüche durchzusetzten. Dem massiven Ausbau der Riffe zu (teilweise auch militärisch genutzten) Basen wurde von den Anrainern widersprochen, aber ihnen fehlten die Mittel, effektiv dagegen vorzugehen. China unterbindet die Explorationen der anderen und Fischer aller Anrainer kämpfen mit rabiaten Methoden um Quoten und Zugänge. Die Streitigkeiten haben in der ganzen Region zu einem Ausbau maritimer Kapazitäten geführt. Viele friedliche Ansätze blieben bisher ohne dauerhaftes positives Ergebnis.

2013 brachten die Philippinen die maritimen Streitigkeiten in ein Schiedsverfahren ein, das prüfen sollte, inwieweit die 9-Strich-Linie im Einklang mit dem von China ratifizierten Seerechtsübereinkommen (SRÜ/UNCLOS) steht. Rund drei Jahre später musste Beijing einen empfindlichen Dämpfer hinnehmen: „Das 2016 abgeschlossene, von den Philippinen initiierte Schiedsverfahren zur Südchinesischen See hat dazu geführt, dass weitgehend alle maritimen Ansprüche Chinas als rechtlich unwirksam erklärt worden sind. Auch die Aufschüttung künstlicher Inseln durch China wurde als widerrechtlich bezeichnet.“[2] Kernfrage war dabei auch, ob ein Fels im Wasser ausreicht, einen territorialen Anspruch zu rechtfertigen, und wenn, wie viel: „Rechtlich gesehen gewährt die Seerechtskonvention der Vereinten Nationen (UNCLOS) für ein Riff, das bei Flut unter Wasser liegt, gar keinen territorialen Anspruch. Ragt ein Felsen aus dem Wasser heraus, ergibt sich ein 12-Seemeilen-Anspruch (entspricht 22 Kilometern) auf territoriale Gewässer. Eine bewohnte Insel kann zudem eine bis zu 200 Seemeilen breite ‚exklusive Wirtschaftszone‘ für sich beanspruchen.“[3] Da Beijing nicht am Schiedsgerichtsverfahren teilgenommen hat, blieb der Spruch der RichterInnen ohne direkte Folgen.

Auftritt der Weltmacht

Es gibt zwar durchaus auch andere Rechtsauslegungen, aber seit dem Schiedsspruch spielen sich die USA ungefragt als Schutzmacht des von ihnen im Übrigen nie ratifizierten SRÜs und als Hüterin der Interessen der Anrainerstaaten auf. Tatsächlich geht es ihnen aber primär darum, sich alle Optionen zur Eindämmung Chinas offen zu halten. Ein vorrangiges Mittel hierfür sind die FONOPs, bei denen die USA bewusst und ungefragt in Gebiete eindringen, in denen China aus seiner Sicht die Hoheit ausübt und Erlaubnis erteilen müsste. Ein Papier der „SWP“ bewertet die FONOPs folgendermaßen: „Vor allem wenn sie besonders große oder leistungsfähige Waffensysteme umfassen, wohnt den ‚Freedom of Navigation‘-Operationen eine weitergehende Symbolik inne: Sie sind dann ein Zeichen dafür, dass man grundsätzlich willens und in der Lage ist, militärische Gewalt in einem Maße anzuwenden, dem die andere Seite nicht gewachsen ist.“[4]

Tabelle: US-FONOPs im Indo-Pazifik. Quelle: O’Rourke 2022, S. 41.

Schon unter US-Präsident Obama wurden diese Manöver hochgefahren, die tendenziell immer weiter zunehmen. 2020 kam es zu acht FONOPs im Südchinesischen Meer und 13 Durchquerungen der Straße von Taiwan (siehe Tabelle). Unter Joseph Biden durchquerten US-Kriegsschiffe zwischen Januar und November 2021 elf Mal die Straße von Taiwan.[5] Die US-amerikanische Präsenz hat auf chinesischer Seite die Bemühung um eine maritime Aufrüstung beschleunigt und verleiht ihr im innerchinesischen Diskurs Legitimation.

Neben dem Aspekt der offensiven Eindämmung der VR China geht es für die USA dabei auch um weitergehende Motive. Denn wenn die VR China darauf pochen darf, dass innerhalb ihrer Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) von 200 Seemeilen – bzw. innerhalb dessen, was sie dazu erklärt – ausländische Truppen nur mit ihrer ausdrücklichen Erlaubnis passieren dürfen, könnten auch andere ähnliche Rechte für sich reklamieren. Auch andere Länder insbesondere im Globalen Süden teilen diese Rechtsauslegung, die von den westlichen Staaten kategorisch abgelehnt wird, nachdem diese insbesondere die USA nicht nur im Südchinesischen Meer vor erhebliche Probleme stellen würde. In einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses heißt es dazu: „Sollte die chinesische Position in dieser Angelegenheit, dass Küstenstaaten in ihren AWZs das Recht haben, die Aktivitäten ausländischer Militärtruppen zu regulieren, größere internationale Akzeptanz im Völkerrecht gewinnen, könnte dies maritime Operationen der USA nicht nur im Südchinesischen Meer, sondern weltweit erheblich betreffen, wodurch wiederum die Fähigkeiten der Vereinigten Staaten, ihr Militär zur Verteidigung ihrer verschiedenen Interessen in Übersee einzusetzen, erheblich betroffen wären. Große Teile der Weltmeere könnten als AWZs beansprucht werden, einschließlich hoch priorisierter Operationsgebiete der Marine im Westpazifik, im Persischen Golf und im Mittelmeer.“[6]

Deutsche Ambitionen im „Indo-Pazifik“

Seit 2019 nahmen die Forderungen nach einer deutschen Militärpräsenz in Asien in der bundesdeutschen Debatte enorm zu und fanden schließlich unter anderem Eingang in die „Leitlinien zum Indo-Pazifik“ der Bundesregierung vom September 2020. Im November erklärte dann die damalige deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, man stehe im „Systemwettbewerb“ mit China, weshalb Deutschland im „Indo-Pazifik“ „Flagge zeigen“ müsse.[7] Gesagt, getan, und zwar in Form der Entsendung der Fregatte „Bayern“, mit der im August 2021 erstmals ein deutsches Kriegsschiff im Kontext der neu erklärten Systemkonkurrenz Kurs auf den Raum des „Indo-Pazifik“ nahm. Der Indo-Pazifik ist dabei eine Wortschöpfung, die keineswegs wertneutral den Raum zwischen dem Indischen und Pazifischen Ozean beschreibt, vielmehr ist es ein Kampfbegriff der USA in der Systemkonkurrenz mit China – die Übernahme durch die deutsche Politik ist deshalb umso entlarvender.

Teile des damaligen Koalitionspartners SPD drängten darauf, eine ursprünglich geplante Passage der Taiwanstraße wieder abzublasen, was dann auch geschah. Doch wer hier guter Dinge war, dass der Konfrontationskurs mit der neuen Ampel-Regierung womöglich etwas entschärft werden könnte, sah sich anhand des Koalitionsvertrages eines besseren belehrt. Darin wird einer „systemischen Rivalität mit China“ das Wort geredet und betont, „aufbauend auf den Indo-Pazifik-Strategien Deutschlands und der EU“ setze man sich für eine „freie und offene indo-pazifische Region auf der Grundlage globaler Normen und des Völkerrechts ein.“[8]

Diese Sätze unterscheiden sich kaum mehr von denen, mit denen die USA ihre Manöver rechtfertigen. Und so war es in gewisser Weise auch folgerichtig, dass im Dezember 2021 berichtet wurde, die Marine plane nun eine Dauerpräsenz und die Errichtung einer Quasi-Militärbasis in der Region: „Die Marine will schon ab 2023 einen regelmäßigen Einsatz im Indo-Pazifik absolvieren. […] Mit Partnern in der Region und in Singapur sei man über die Einrichtung eines temporären logistischen Zentrums (‚logistic support hub‘) im Gespräch, mit dessen Hilfe die logistische Betreuung vereinfacht würde.“[9] Gleichzeitig äußerte der damalige Marineinspekteur, die Fahrt der Fregatte Bayern fungiere als „Eisbrecher“, man habe nicht gleich „mit einem Hammer“ starten wollen, beim nächsten Marineeinsatz sei aber auch eine Durchfahrt durch die Taiwan-Straße wahrscheinlich.[10]

Auf Kollisionskurs

Die Gefahr, dass es im Zuge von FONOPs zu Zusammenstößen zwischen chinesischen und westlichen Kriegsschiffen kommt, nimmt stetig zu. Aus chinesischer Sicht überdehnen die westlichen Staaten das, was unter der Freiheit der Meere verstanden werden kann, mit ihren Militärmanövern erheblich. Deshalb handelt es sich bei derlei Übungen um ein Spiel mit dem Feuer, da China mit Maßnahmen reagiert, die das Risiko weiter erhöhen: „Auf derart provozierende Manöver der US-Marine antwortet das chinesische Militär, die Volksbefreiungsarmee (PLA), in der Regel herausfordernd mit eigenen Schiffen und Flugzeugen. […] Häufig entsendet die chinesische Seite ein oder mehrere eigene Schiffe, die das amerikanische Schiff – um die Sache so höflich wie möglich zu gestalten – aus dem Gebiet herauseskortieren. Diese Begegnungen haben sich manchmal als äußerst gefährlich erwiesen, insbesondere wenn die Schiffe nahe genug aneinander gerieten, als dass es zu einem Kollisionsrisiko kam.“[11]

Dass derlei Kollisionen nicht auszuschließen sind, zeigte sich bereits im April 2001, als ein chinesisches Kampfflugzeug mit einem US-Spionageflugzeug vom Typ Lockheed P-3 zusammenstieß. Die darauf folgende Krise konnte damals zwar beigelegt werden, ob das in der heutigen aufgeheizten Atmosphäre aber erneut gelingen würde, ist durchaus fraglich – zumal es an geeigneten Krisenkommunikationsmechanismen fehlt (siehe den Beitrag von Tobias Pflüger). Dies macht es umso problematischer, dass die Kontrahenten mittlerweile in schöner Regelmäßigkeit an einer Katastrophe vorbeischrammen. Das Committee for a Sane U.S. China Policy zählte allein zwischen Januar 2021 und Januar 2022 insgesamt 66 Beinahe-Zusammenstöße zwischen US-amerikanischen und chinesischen Einheiten.[12]

Vor diesem Hintergrund sollten die FONOPs umgehend beendet werden, zumal sie regelrecht kontraproduktiv sind – und für Deutschland bedeutet das, besser erst überhaupt nicht in das Manövergeschäft in Ostasien einzusteigen: „Auch wenn FONOPs das Verlangen ‚etwas zu tun‘ scheinbar befriedigen, so bleiben sie doch ein Säbelrasseln und sind gegen Chinas ‚Salamitaktik‘ und Maßnahmen im Graubereich zwischen Diplomatie, Außenwirtschaftspolitik und niederschwelliger Gewaltanwendung unwirksam. Im Gegenteil: Reine Machtdemonstrationen verstärken die Spannungen weiter. Sie machen chinesische Entscheidungsträger nicht nur entschlossener, ihr Kerninteresse um jeden Preis zu verteidigen, sondern sie steigern auch die allgemeine Unsicherheit und erhöhen damit wiederum die Erwartungen dritter Staaten an die USA, durch Abschreckung für militärische Stabilität zu sorgen.“[13] Oder anders: Sie beschleunigen die Aufrüstungsspirale in Asien.

Dieser Text basiert auf der kürzlich erschienenen Broschüre „Aufmarsch im Indo-Pazifik. Der Westen und der Neue Kalte Krieg mit China in der indopazifischen Region“ (68 Seiten, A4), die in Print gratis unter bestellungen@oezlem-demirel.de bezogen oder von der IMI-Seite (www.imi-online.de) heruntergeladen werden kann.


[1] Swistek, Göran: Quadratur des Kreises im Indo-Pazifik. Sicherheitspolitische Umsetzung der Indo-Pazifik-Leitlinien, SWP-Aktuell, März 2021, S. 5 und 7.

[2] Mohr, Johannes: Der Schiedsspruch zum Südchinesischen Meer und die Reaktionen Beijings, in: Sirius, Nr. 2/2017.

[3] Hirschmann, Kai: Konfliktinseln im Südchinesischen Meer, consulting-plus.de, o.J.

[4] Becker, Christian: Große Statussorgen um kleine Inseln: militärische Symbolpolitik im Süd- und Ostchinesischen Meer, SWP-Studie, Februar 2017,  S. 13.

[5] US warship sails through Taiwan Strait, first since Biden-Xi meet, aljazeera.com, 23.11.2021.

[6] O’Rourke, Ronald: U.S.-China Strategic Competition in South and East China Seas: Background and Issues for Congress, CRS, 18.01.2022, S. 5.

[7] Kramp-Karrenbauer, Annegret: Zweite Grundsatzrede der Verteidigungsministerin, bmvg.de, 17.11.2020.

[8] Mehr Fortschritt wagen, Koalitionsvertrag 2021 – 2025.

[9] Mergener, Hans-Uwe: Bundeswehr plant jährliche Präsenz im Indo-Pazifik, Europäische Sicherheit & Technik, 22.12.2021.

[10] Böge, Frederike: Deutsche Marine verstärkt Engagement im Indo-Pazifik, FAZ, 22.12.2021.

[11] Klare, Michael T.: In den Krieg hineinstolpern? in: Luxemburg, Mai 2021.

[12] PROVOCATIVE MANEUVERS & CLOSE ENCOUNTERS: https://www.saneuschinapolicy.org/provocative-maneuvers

[13] Wirth, Christian/Schatz, Valentin: „Lawfare“ im Südchinesischen Meer, GIGA Focus Asien, 08/2020, S. 7.