IMI-Analyse 2025/06
Binäre Konstruktionen von Freund und Feind
von: Barbara Stauber | Veröffentlicht am: 24. März 2025
Differenzsetzen ist im Angesicht der aktuellen Kriege[1], in denen so viel Menschenverachtendes passiert, in denen das Völkerrecht genauso wie die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, die alles dominierende Logik. Bei denen, die den Krieg kommentieren, und bei denen, die direkt in den Krieg involviert sind, sowieso. In meinem Beitrag argumentiere ich, dass Differenzsetzungen eigentlich immer verleugnen, wie stark mit dem Unterscheiden eine Relation hergestellt wird, dass das Unterscheiden gar nicht geht ohne ein Auftrennen von zwei Seiten, die womöglich gerade durch dieses Auftrennen aufs Engste miteinander verbunden werden. Immer wird dabei die Bezogenheit verleugnet. Das ist alles nicht neu.
Ich werde hier also lediglich zuspitzen, was mit diesen machtvollen Logiken des Differenzsetzens verbunden ist, die uns in Kriegszeiten immer wieder nahegelegt werden und die so unentrinnbar erscheinen. So kostet es einige Kraft, den militärischen Überlegungen nicht zu folgen, nicht mit den Strategien des Krieges mitzugehen, nicht mitzuüberlegen, wie Putin als der klare Aggressor im Krieg gegen die Ukraine in Schach gehalten werden könnte, sondern einen Schritt – m.E. ist es der entscheidende Schritt – herauszutreten aus diesem dominanten Diskurs, und sich klarzumachen, dass auch dieser Krieg wieder nur Verlierer*innen haben wird. Wobei die Verluste ungleich verteilt sind – auch dies ein Kennzeichen der Kriege, die immer auf dem Rücken der marginalisierten Gruppen ausgetragen wurden. Mein Beitrag ist gegliedert anhand von drei Thesen, die miteinander zusammenhängen:
These 1: Im Krieg wird Differenz zugespitzt
Es wird unterschieden zwischen Freund und Feind, und – häufig quer zu dieser dominanten Differenzlinie – es wird unterschieden zwischen betrauerbaren und nicht betrauerbaren Leben.
Judith Butler[2] hat 2010 in „Raster des Krieges“[3] diese ungleiche Betrauerbarkeit von Menschen herausgearbeitet – ausgehend von der Feststellung, dass Leben offensichtlich, vor allem aber mit Blick auf die weltweiten Migrationsbewegungen und ihre unzähligen, eben: zahllosen Opfern, ungleich bewertet wird. Diesen Gedanken einer ungleichen Betrauerbarkeit von Menschen (bzw. von deren Tod) radikalisiert sie 2020 in ihrem Buch „Die Macht der Gewaltlosigkeit“[4] noch einmal und verstärkt in diesem Kontext ihr Bekenntnis zur Interdependenz. Sämtliche Vorstellungen von Gewalt, sämtliche Versuche der Legitimierung von Gewalteinsatz (auch zum Zwecke der „Vergeltung“ oder der „Verteidigung“) verdanken sich ihrer Argumentation zufolge Differenzsetzungen, die letztlich auf einer Ungleichheit, genauer: einem Ungleichmachen von betrauerbaren und nicht-betrauerbaren Leben beruhen. Es ist eine Differenzlinie von existenzieller Bedeutung, die hier gezogen wird.
Nach Butler folgt die Kriegslogik geradezu einem biopolitischen Rassismus, einer „rassischen Phantasmagorie“ der Ungleichheit und der Ungleichwertigkeit. „Rassische“ Phantasmagorie deshalb, weil hierbei eine andere „Rasse“, gar „Spezies“ erfunden wird, um die Nicht-Betrauerbarkeit denk-möglich zu machen.
Das betrifft eben nicht nur das Freund-Feind-Schema. Diese existenzielle Differenz verläuft (und auch das gehört zu den eher verleugneten Aspekten des Krieges) in der Regel quer zum Freund-Feind-Schema. Die Verlierer*innen sind diejenigen, deren Körper für den Krieg eingesetzt werden. Unterhalb der offensichtlichen Differenzlinie gehen also weitere Differenzen auf: so wurden auch im Rahmen der russischen (Teil-)Mobilmachung Angehörige von Minderheiten überproportional stark eingezogen.[5] Es wird also unterschieden zwischen Körpern (Menschen!), die zu schonen sind, und solchen, die geopfert werden können.
Das Freund-Feind-Schema überdeckt geradezu die Frage: wer muss für diesen Krieg sein Leben lassen? Wer nicht? Die Unterscheidung zwischen betrauerbaren und nicht-betrauerbaren Leben ist also noch viel subtiler, und auch viel grausamer… Und sie führt direkt zur zweiten These:
These 2: Im Krieg wird Homogenität konstruiert – und Heterogenität verleugnet
Freund-Feind-Schemata sind unzulässig generalisierende Schablonen, die in Kriegen zumeist nationalen Zuordnungen folgen (und damit zumeist auch ethnisierenden oder kulturalisierenden Zuordnungen, Zuordnungen nach Religion wie auch nach Geschlecht[6]). Sie übergehen die Tatsache, dass wir – noch in der kleinsten Gruppe – nicht von Homogenität ausgehen können, sondern von u.U. sehr heterogenen Lebenslagen und Positionierungen. Dies trifft auf die Frage der Haltung zum Krieg in ganz besonderer Weise zu. Weder auf der einen noch auf der anderen Seite sind die Menschen geschlossen für eine militärische Auseinandersetzung, auf beiden Seiten gibt es auch Kritik am Krieg – vor allem an dem „Blutzoll“, den kriegerische Dynamiken ganz selbstverständlich einfordern und einkalkulieren.
Das grobe Freund-Feind-Schema übergeht ganz bewusst diese Heterogenität – es tut vielmehr alles, um Homogenität zu erzeugen. Das beginnt bei der Zensur freier Berichterstattung und hört beim Verbot von bestimmten, als regimekritisch erklärten Vokabeln noch lange nicht auf.
Doch genau diese (verleugnete) Tatsache der Heterogenität ist möglicherweise auch das, was die beiden Seiten verbindet. Auf beiden Seiten gibt es das Leid der Verletzten, auf beiden Seiten gibt es die schmerzliche Erfahrung des Verlustes so vieler überwiegend junger Menschen, auf beiden Seiten gibt es Erfahrungen von sexualisierter Gewalt als Kriegsstrategie. Überall sind es Geliebte, Verwandte, Nahestehende, die sterben mussten oder denen unglaubliche Gewalt angetan wurde. Und nicht überall sind die Menschen bereit, einen so hohen Preis für militärische Errungenschaften zu zahlen.
Die Kritik an den Zwangsrekrutierungen sowohl in Russland als auch in der Ukraine zeigt dies überdeutlich. Auf beiden Seiten gab und gibt es die Praxis des sich Verweigerns und des Desertierens – trotz Androhung höchster Strafen. Und womöglich verbindet die jeweiligen Deserteure sehr vieles – genauso wie die trauernden Mütter und Partner*innen womöglich sehr vieles verbindet.[7]
Seit jeher ist es die Figur des Deserteurs, welche die Logik des Krieges massiv untergräbt und die während der Kriege so unglaublich bedrohlich erscheint:
„In heroischen Kriegsgeschichten hat der Deserteur keinen Platz. Zu eingebrannt ist darin die Reizfigur vom feigen Soldaten, der im Schutze der Nacht vom Posten schleicht, die schlafende Einheit im Stich lässt, wegrennt vor patriotischer Pflichterfüllung und männlicher Ehre. Als pazifistisches Symbol eignet er sich aber genauso wenig, flieht er doch meist aus persönlichen Gründen. Der Deserteur passt nirgendwo so richtig rein, jede Kriegserzählung stört er wie ein unliebsamer Zwischenton.“ (Beer 2022)[8]
So sind diejenigen, die desertieren, mit Vorwürfen, mit Stigmatisierung, mit Kriminalisierung, mit Feindseligkeit auch noch nach der gelungenen Flucht konfrontiert. Denn sie bedrohen die in Kriegszeiten verstärkten binären Gender-Konstrukte wie Held – Feigling, Gehorsam – Verrat, Ehre – Verbrechen, Männlichkeit – Weiblichkeit. Sie werden in den Kategorien hegemonialer Männlichkeit daher zu einem Nichts. Kriegsdienstverweigerung ist ganz offensichtlich keine legitime Position; in Kriegszeiten soll vielmehr getötet werden und es soll die unbedingte Bereitschaft gezeigt werden, für die nationalen Ziele zu sterben. Das ist die dominante Logik, nach der im Kriegsregime Legitimität und Illegitimität verteilt bzw. voneinander abgegrenzt wird.
Zwischentöne, wie sie die Figur des Deserteurs ins Spiel bringt, sind Gift in den Homogenisierungszwängen des Krieges. Genau sie sind es, die am stärksten verfolgt werden. Sie sind nicht legitim, sie stören das kriegerische Narrativ zu sehr. Nichts scheint kriegstreibenden Regierungen ein größerer Dorn im Auge zu sein als die Artikulation derer, die nicht zustimmen, die eventuell sogar Bündnisse eingehen, oder die selbst als Hybrid(isiert)e eine Zwischenposition einnehmen.
Die Gegenstimmen brauchen immer mehr Mut – doch es gibt sie, die vielen Aktivist*innen, die der Polarisierung entgegentreten.[9] Es sind genau die jetzt verteufelten Gegenstimmen und Zwischentöne, auf die später rekurriert werden wird: Sie bilden jetzt schon die Brückenpfeiler, auf die nach den Kriegen aufgesetzt werden kann. Sie sind es, die nicht im aussichtslosen Freund-Feind-Binarismus erstarren, sondern schon heute über das Morgen nachdenken.
These 3: Verleugnete Angewiesenheiten
Krieg verleugnet die Beziehungen und Angewiesenheiten zwischen denen, die in dieser Freund-Feind-Binarität gegeneinandergestellt werden, die aber vor kurzem noch Nachbar*innen waren, Kolleg*innen, Handelspartner*innen, Urlaubsgäste und Gastwirt*innen, vielleicht sogar Freund*innen, Geliebte, Familienmitglieder.
Mit der Kriegslogik wird die fundamentale Inter-Dependenz allen Lebens in Abrede gestellt. Diese Angewiesenheit wurde in den ersten Monaten nach dem russischen Angriff auf die Ukraine deutlich: Weltweite Handelsketten bei nahezu monopolisierten Strukturen haben Menschen rund um den Globus in ein unglaublich starkes Regime der Abhängigkeit gebracht, dem sie – je nach ihrer „fatal-natalen geopolitischen Positioniertheit“ (Mecheril 2020)[10] – in unterschiedlich existenzieller Form ausgeliefert waren. Eine Abhängigkeit, wie sie sich als „conditio humana“ der Angewiesenheit von Menschen aufeinander und ihre Verletzbarkeit (Janssen 2020)[11] auf sehr allgemeiner Ebene beschreiben lässt, und sich anhand von gestoppten Getreidelieferungen (mit der Folge von Hungersnöten), der ungleichen Betroffenheit von Lieferengpässen und nicht zuletzt der Gefahr einer nuklearen Katastrophe von globalem Ausmaß konkretisiert. Und immer schon, doch nun verstärkt: Hunger, Armut, Tod, Vertreibung. Dies alles in Gebieten, in denen ohnehin bereits prekärste Situationen und größte Verwundbarkeit herrschen. Schon immer ungleich wertvolle Leben.
Gleichzeitig wäre das Eingeständnis der Angewiesenheit aufeinander auch der erste und unabdingbare Schritt in Richtung einer Beendigung des Krieges. Angewiesenheit aufeinander im beiderseitigen Niederlegen der Waffen, Angewiesenheit aufeinander im Aufeinanderzugehen, in den ersten, zweiten und allen weiteren Schritten von Verhandlungen. Darin liegt auch eines der stärksten Argumente der Kriegsgegner*innen: daran zu erinnern, dass die verfeindeten Parteien ohnehin irgendwann diesen Schritt aufeinander zu machen müssen, dass sie (nicht nur in diesem Punkt) aufeinander angewiesen sind, irgendwann diesen Schritt zu tun. Kriegsgegner*innen stellen die Frage: Wenn dem so ist – warum macht ihr diesen Schritt erst dann, wenn alles vernichtet ist?
Diese Angewiesenheiten aufeinander bestehen vor, während und nach den Kriegen. Sie hören nicht auf, im Gegenteil: Sie sind der existenzielle Ausgangspunkt für das Entwickeln von friedlicher Koexistenz. Das gilt selbst für die zugespitzte Form der Fremdheit, um die es in diesem Abschnitt geht: die der Feindschaft. Historische Beispiele (etwa: das Beispiel Deutschland – Frankreich) zeigen, wie ehemalige „Erbfeindschaften“ überführt werden können in ein freundschaftliches Koexistieren.
Sumaya Farhat-Naser hat in jahrelanger Friedensarbeit an den Voraussetzungen für eine friedliche Koexistenz zwischen Palästinenser*innen und Israelis gearbeitet. Ihre Erkenntnis: immer geht es um eine Anerkennung des Schmerzes der anderen. Es geht um das Bereitstellen von Räumen, in denen dieser Schmerz einander mitgeteilt werden kann, in denen zugehört wird, in denen im besten Fall ein Verständnis für den Schmerz der anderen entsteht. Es müssen Räume und Gelegenheiten geschaffen werden, in denen der Schmerz der anderen Anerkennung findet (Osman 2024)[12]. Und in denen womöglich festgestellt werden kann, dass sich bei aller Unterschiedlichkeit Vieles in diesem erfahrenen Leid ähnelt. Diese Räume, die Farhat-Naser und ihre Mitstreiter*innen so mühevoll geschaffen haben, wurden durch erneute Vergrenzungen[13] systematisch zerstört.
Was hat das Überwinden von Feindschaften für eine Perspektive?
Herauszutreten aus der Kriegslogik bedeutet innezuhalten – dies ist übrigens auch die einzige Chance für Deeskalation: innehalten, nicht sofort zum Gegenschlag ausholen.[14] Denn Kriege haben eine treibende Dynamik, die inzwischen medial umso stärker forciert wird. Eine treibende Dynamik, von der nicht nur die Kriegsparteien, sondern auch die internationalen Öffentlichkeiten mitgerissen werden sollen.
Deeskalationsprojekte haben eine hierzu gegenläufige eigene Zeitlichkeit – bei der Deeskalation um Innehalten. Schon dieses Innehalten ist innerhalb des Krieges eine immense Herausforderung – ist doch das Kunststück zu vollbringen, dass sich die Parteien, die sich gerade noch zu Unmenschen erklärt haben, wieder als Menschen (an)erkennen müssen.
Doch erst wenn dieses Kunststück gelingt, wenn auf diese andere Zeitlichkeit umgestellt werden kann, dann hat auch eine andere Logik als die der Kriegslogik wieder eine Chance.
Anmerkungen
[1] Und viele Kriege (wie der Krieg im Jemen) werden permanent vergessen, gelangen (wie der Krieg im Kongo) nicht in den westlichen Aufmerksamkeitsradius, gehören (wie der nicht enden wollende und nun wieder eskalierende Krieg zwischen Palästina und Israel) schon zum Alltag …
[2] Ich zitiere in diesem Text häufig Judith Butler, auch wenn ihre Einschätzung, beim Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 handele es sich nicht um Terror, sondern um bewaffneten Widerstand, zurecht auf sehr viel öffentliche Kritik gestoßen ist. Ihre Überlegungen zu den Dynamiken des Krieges und ihre Ideen zur Macht der Gewaltlosigkeit werden hierdurch nicht weniger wichtig.
[3] Judith Butler (2010): „Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen“. Frankfurt/New York: Campus.
[4] Judith Butler (2020): „Die Macht der Gewaltlosigkeit“. Frankfurt: Suhrkamp.
[5] Vgl. hierzu Anastasia Tikhomirova (2022): „Teilmobilisierung in Russland -–Eine traumatische Erfahrung“, https://taz.de/Teilmobilisierung-in-Russland/!5880189/ (Aufruf: 11.1.2025).
[6] FRIEDA (2024): „Geschlechter(un)gerechtigkeit und Krieg: eine Analysezu geschlechtsspezifischer Gewaltim Nahostkrieg“, www.frieda.org (Aufruf: 11.1.2025).
[7] Vgl. das Friedensprojekt von Sumaya Farhat-Naser (2002): „Verwurzelt im Land der Olivenbäume. Eine Palästinenserin im Streit für den Frieden“, Basel: Lenos.
[8] Beer, Joshua (2022): „Der Deserteur stört jede Kriegserzählung“, www.sueddeutsche.de (Zugriff: 11.1.2025).
[9] So etwa Gil Shohat, der von den Bündnisaktivitäten von Knessetabgeordneten, von Aktivist:innen, von der jüdisch-arabischen Graswurzelorganisation Standing Together (Omdim Beyachad) berichtet. Gil Shohat (2023): „Krieg im Nahen Osten – Logik der Solidarität“, www.taz.de/Krieg-im-Nahen-Osten/!5969308/ (Zugriff: 11.1.2025).
[10] Mecheril , Paul (2020): Gibt es ein transnationales Selbstbestimmungsrecht?: Bewegungsethische Erkundungen, in: Beiträge zum 26. Kongress der DGfE, S. 101-118, https://doi.org/10.2307/j.ctv10h9fjc.11.
[11] Janssen, Angela (2018): Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana. Opladen – Berlin – Toronto: Budrich UniPress.
[12] Joana Osman (2024): „Der Schmerz der anderen“, www.republik.ch (11.1.2025).
[13] Achille Mbembe, (2018): „Sicherheit und Migration: Die große Vergrenzung. Europa sperrt Menschen in Lager und beansprucht das Privileg der Bewegungsfreiheit für sich“, www.taz.de (Zugriff: 11.1.2025).
[14] Vgl. hierzu Thomas Nielebock (2024): „Deeskalation aktiv angehen – ein Denkanstoß“, www.kontextwochenzeitung.de (Zugriff: 11.1.2025).