IMI-Analyse 2025/01 (Update, 6.2.2025)
Von Zügen zu Panzern
Gegenkonversionen in Görlitz und darüber hinaus deuten auf einen tiefgreifenden Wandel der Industrielandschaft
von: Martin Kirsch und Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 5. Februar 2025
Unter dem Begriff der Gegenkonversion – der Umwidmung von einer zivilen zu einer militärischen Nutzung – wurde bislang vor allem die neue Verwendung vormals ziviler Liegenschaften durch das Militär verstanden (siehe IMI-Studie 2018/03). Der am 5. Februar 2025 erfolgte Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Görlitz steht angesichts der dort bevorstehenden Übergabe eines dortigen Werkes des Waggonherstellers Alstrom an den Panzerbauer KNDS für einen doppelten Wandel. Erstens tritt hier die Ausweitung der Gegenkonversion auf den bisher weitgehend verschont gebliebenen Industriebereich deutlich zu Tage. Und zweitens handelt es sich dabei nicht um einen Einzelfall, wie im Folgenden anhand einiger weiterer Beispiele gezeigt werden soll, die zusammengenommen womöglich die Vorboten für einen tiefgreifenden Wandel der deutschen Industrielandschaft stehen.
Vom Kreuzfahrt- zum Kriegsschiff
Im Jahr 2022 wurde die Konkursmasse der MV Werftengruppe mit Standorten in Wismar, Rostock-Warnemünde und Stralsund verscherbelt. Den Standort in Rostock-Warnemünde übernahm die Bundeswehr direkt, Kostenpunkt 87 Mio. Euro, wobei mindestens 500 der zuvor 600 Arbeitsplätze erhalten bleiben sollen (Ostsee-Zeitung, 07.07.2022). Die feierliche Bundeswehr-Übernahme erfolgte dann am 11. Januar 2023 und wurde von der Truppe als „zielstrebiges Handeln in der Zeitenwende“ gefeiert. Gleichzeitig wurde die damalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht dazu folgendermaßen zitiert: „Es kommt nicht oft vor, dass eine Verteidigungsministerin den Kauf einer Werft verantwortet. Das war schon ein ganz besonderer Moment, als wir das erste Mal im Ministerium zusammensaßen und diese Idee diskutiert haben. Die Vorteile lagen ganz schnell auf der Hand.“ (bmvg.de, 11.01.2023)
Den Standort Wismar verleibte sich wiederum ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) ein (den dritten Standort erwarb die Stadt Stralsund). An Auslastung dürfte kein Mangel herrschen: Ende 2024 bewilligte der Bundestag die Gelder für den Bau von vier U-Booten 212 CD für 4,7 Mrd. Euro (womöglich kommt auch noch die Fertigung von Norwegen bestellter U-Boote desselben Typs hinzu). Daraufhin kündigte das Unternehmen im Januar 2025 an, 220 Millionen Euro in den Ausbau des Werkes in Wismar zu investieren (hartpunkt.de, 17.01.2025). Ebenfalls zum Jahresende wurde zudem eine erste Finanzierung in Höhe von 44,5 Mio. Euro für den möglichen Bau der neuen Fregattengeneration F-127 bewilligt. Noch ist unklar, ob und wenn ja, wie viele dieser für Großmachtkonflikte konzipierten Schiffe gebaut werden sollen. Die Rede ist entweder von vier (Kostenpunkt 7,5 Mrd. Euro) oder acht (15 Mrd. Euro) Fregatten (defence-network, 12.12.2024). Obwohl also noch viele Fragen offen sind, liegt TKMS wohl gut im Rennen und würde im Falle des Zuschlags laut Aussagen von CEO Oliver Burkhard drei der vier Schiffe in Wismar bauen lassen (hartpunkt.de, 17.01.2025).
Auch bei zwei weiteren bislang zivilen Werften steigen nun Unternehmen mit substantiellen Anteilen im Rüstungsgeschäft ein: „Die beiden insolventen schleswig-holsteinischen Werften FSG und Nobiskrug werden neue Eigentümer bekommen. Wie der Insolvenzverwalter heute mitteilte, wird die FSG von der Heinrich Rönner Gruppe aus Bremerhaven und Nobiskrug von der Lürssen-Werft aus Bremen übernommen.“ (hartpunkt.de, 31.01.2025)
Vom Reifen zur Rüstung
Bereits im Mai 2022 titelte die Automobilwoche: „Angesichts der frischen Milliarden für die Bundeswehr sucht die Rüstungsindustrie in Deutschland händeringend nach qualifizierten Fachleuten. Fündig wird sie vor allem in der Automobilbranche, die selber unter Fachkräftemangel leidet.“ Eine deutlich bessere Bezahlung und das inzwischen positivere Image der Branche hätten zur Folge, dass die Rüstungsindustrie – unterstützt mit den Milliardenbeträgen der Zeitenwende – erfolgreich Personal abwerbe: „Unternehmen aus der Rüstungsindustrie schreiben bereits verstärkt Positionen aus, um mit schnellem Personalaufbau auf das Investitionsprogramm der Bundesregierung reagieren zu können“, wird ein Münchener Personalberater zitiert (ebd.).
Seither hat sich die Situation mit der verschärften Krise der Automobilbranche weiter zugespitzt, was nicht zuletzt anhand der Kooperation zwischen dem Reifenhersteller Continental und dem größten deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall ersichtlich wird. Eine Pressemitteilung von Rheinmetall beschrieb die Zusammenarbeit am 14. Juni 2024 wie folgt: „Ziel der Vereinbarung ist es, den in den nächsten Jahren stark wachsenden Personalbedarf von Rheinmetall teilweise durch die von der Transformation betroffenen Beschäftigten von Continental zu decken. […] Continental und Rheinmetall beginnen zu diesem Zweck so früh wie möglich mit einer Zusammenarbeit. So sollen zum Beispiel bis zu 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Continental-Standorts in Gifhorn eine Beschäftigungsperspektive bei Rheinmetall im niedersächsischen Unterlüß, rund 55 Kilometer nördlich von Gifhorn, finden. An weiteren deutschen Standorten werden zudem Veranstaltungen organisiert, sodass sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über berufliche Perspektiven bei Rheinmetall informieren können.“
In Unterlüß investiert Rheinmetall rund 300 Mio. Euro in den Aufbau einer neuen Munitionsfabrik – den ersten Spatenstich im Februar 2024 ließ sich Kanzler Olaf Scholz nicht nehmen. Er kommentierte den Vorgang mit den Worten: „Wir leben nicht in Friedenszeiten. […] Panzer, Haubitzen, Hubschrauber und Flugabwehrsysteme stehen ja nicht irgendwo im Regal. […] Wir müssen weg von der Manufaktur – hin zur Großserien-Fertigung von Rüstungsgütern.“ (tagesschau.de, 12.02.2024)
Vom Zugbau zur Panzerfabrik
Und nun verschaffte Kanzler Scholz also in Görlitz einer direkten Umwidmung der zivilen Produktionsstätte von Alstrom in einen Standort von KNDS die politische Rückendeckung. Nachdem Alstrom 2021 Bombardier übernommen hatte, teilte das Unternehmen im Oktober 2024 mit, es sehe für das Werk in Görlitz keine Perspektive mehr. Über 175 Jahre waren in Görlitz Bahnwaggons gefertigt worden, man zog „einen Schlussstrich unter dieses Kapitel Industriegeschichte“ (Neues Deutschland, 03.02.2025).
KNDS bietet eine breite Panzerpalette an, die künftig in Teilen in Görlitz gefertigt werden soll: „Die KDNS [sic!] Deutschland GmbH & Co. KG plant in Görlitz unter anderem die Produktion verschiedener Baugruppen für den Kampfpanzer Leopard 2 und den Schützenpanzer Puma. Außerdem sollen Module für verschiedene Varianten des Radpanzers Boxer gefertigt werden.“ (mdr.de, 05.02.2025) Von den 700 Beschäftigten will KNDS wohl 350 bis 400 am Standort Görlitz übernehmen und bis zu 75 weitere in andere KNDS-Werke vermitteln (tagesschau.de, 05.02.2025). Investieren wolle der Konzern am Standort Görlitz einen hohen zweistelligen Millionenbetrag (Spiegel Online, 01.02.2025).
Die Tatsache, dass die Pläne nun öffentlichkeitswirksam mitten im Wahlkampf präsentiert werden, deutet auf die Popularität der Maßnahme hin. Es gibt allerdings auch einige kritische Stimmen, die auf den grundsätzlichen Charakter dieser und anderer Entwicklungen hinweisen: „Für die Linke warnte Kreischef Mirko Schultze, die Region werde »stetig, aber sicher kriegstüchtig gemacht«. Der Truppenübungsplatz Oberlausitz werde für Manöver genutzt, auf der Bahnmagistrale durch Görlitz »fahren Panzer gen Osten«, nun komme ein Rüstungsbetrieb dazu. Die Fähigkeiten der Waggonbauer würden dringender benötigt, »um die Verkehrswende hinzubekommen und die Klimakrise anzugehen«.“ (ebd.)
Fazit: Rüstung und Industrie im Wandel
Anfang 2024 wurde auf europäischer Ebene eine Verteidigungsindustriestrategie (EDIS) und ein entsprechendes Investitionsprogramm (EDIP) durch die Kommission vorgelegt (siehe IMI-Analyse 2024/23). Hierzulande wurde im Dezember 2024 eine Nationale Sicherheits- und Verteidigungsstrategie präsentiert, die es ebenfalls in sich hat (siehe IMI-Analyse 2024/52). Beide setzen auf verschiedenste Maßnahmen zur Ankurbelung der Rüstungsproduktion, die eine Verschiebung in Richtung Kriegswirtschaft nach sich ziehen. Der Anlass für den Februar-Besuch des Kanzlers in Görlitz ist in diesem Zusammenhang zu sehen: Ein Mal ist ein Ereignis, zwei Mal ist ein Zufall und drei Mal ist ein Muster, so sagt zumindest ein Sprichwort. Wenn sich also die Marinesparte von Thyssen-Krupp (TKMS) und der bundeswehreigene Schiffsreparaturbetrieb an der Konkursmasse der MV-Werftengruppe bedienen, Rheinmetall systematisch Facharbeiter*innen vom kriselnden Automobilzulieferer Continental übernimmt und KNDS Deutschland (ex-KMW) ein Werk, in dem bisher Züge produziert wurden, samt Mitarbeiter*innen zur Panzerschmiede umwidmet, ist das also kein Zufall mehr. Drei kriselnde zivile Industriebranchen, drei Regionen in Deutschland und drei große Rüstungsfirmen, die dort expandieren können, können wohl als Muster bezeichnet werden. Zumal sich weitere Beispiele, die weniger prägnant sind, finden lassen.
Das Zeitalter der (erhofften) Rüstungskonversion ist offensichtlich vorbei. Im Gegenteil labt sich die stetig wachsende und von massiven Fördertöpfen von Bundesregierung und EU gepamperte Rüstungsindustrie an zivilen Sektoren. Mittel aus Sondervermögen und EU-Rüstungstöpfen stärken die Rüstungsindustrie, während die Förderung für E-Autos, ÖPNV, Deutschlandticket, usw. gestrichen oder nicht weiter aufgelegt werden. Die politischen Prioritäten und die daran geknüpften Geldflüsse zeigen ihre Wirkung jetzt ganz praktisch. Es wandelt sich etwas in der deutschen Industrielandschaft!