IMI-Standpunkt 2024/031 - in: junge Welt, Ausgabe vom 02.11.2024
Rüstungskontrolle: »Kann nicht warten, bis die Spannungen vorüber sind«
Interview mit Marius Pletsch anlässlich des IMI-Kongress 2024
von: 4. November 2024
Baden-Württemberg: IMI e. V. lädt zum Kongress über »Zeitenwende« im Bildungswesen. Ein Gespräch mit Marius Pletsch
Am 16. und 17. November findet in Tübingen der Kongress »Zeitenwende in Bildung und Hochschulen« der Informationsstelle Militarisierung e. V. statt. Was bewegt Sie zur Teilnahme?
An den Hochschulen geraten die Zivilklauseln seit der von Bundeskanzler Scholz verkündeten Zeitenwende im Anschluss an den großflächigen Angriff Russlands auf die Ukraine enorm unter Druck. Die Bundeswehr drängt an die Schulen mit als Informationsveranstaltungen »fleckgetarnter« Werbung. Es bedarf einer kritischen Begleitung und klaren Positionierung gegen eine Militarisierung der Schulen und Unis.
Sie werden beim Kongress über Rüstungskontrolle referieren. Wie schätzen Sie deren aktuellen Zustand ein?
Die globale Rüstungskontrolle und Abrüstung – insbesondere auf der bilateralen Ebene – wurden in eine tiefe Krise manövriert. Viele der geschlossenen Abkommen wurden entweder aufgekündigt, ausgesetzt oder laufen demnächst aus. »New Start« ist das einzige noch verbleibende bilaterale nukleare Rüstungskontrollinstrument zwischen den USA und Russland. Moskau hat es seit Februar 2023 ausgesetzt und keinen Willen gezeigt, zu Gesprächen zurückzukehren. Diese Form der Rüstungskontrolle befindet sich momentan in einem Zustand, der nur als Herzstillstand bezeichnet werden kann. Doch das heißt nicht, dass die Idee der Rüstungskontrolle und Abrüstung nicht funktioniert. Speziell Bemühungen der humanitären Abrüstung sind in Grenzen durchaus erfolgreich: Streumunition wurde 2023 in keinem der 112 Vertragsstaaten des Oslo-Abkommens eingesetzt.
Um so mehr ist zu kritisieren, wenn sich Staaten aus diesem erfolgreichen Instrument zurückziehen, so wie dieses Jahr Litauen. Bei Antipersonenminen verstieß die Ukraine 2022 als einziger von 164 Vertragsstaaten gegen das Ottawa-Abkommen, kündigte aber Untersuchungen über die berichteten Vorfälle an. Die Nichtvertragsstaaten Russland und Myanmar setzten beide Waffenarten ein, Syrien allein Streumunition. In die Foren der Abrüstung strahlen die Konflikte hinein. Das sieht man am Stillstand bei Gesprächen zu Autonomie in Waffensystemen.
Sie plädieren für eine Rückkehr zur Kooperation. Zu welchen Errungenschaften wollen Sie zurück?
Die Rüstungskontrolle befindet sich nicht grundlos in diesem beklagenswerten Zustand. Es wurde versäumt, andere aufstrebende Mächte in die Instrumente zu integrieren oder diese gar zu universalisieren. Deshalb dürfen wir nicht allein das Alte zurückfordern. Die Instrumente müssen an die heutige Zeit angepasst werden, weiter und radikaler gedacht werden. Das Ziel muss eine globale Abrüstung und der Weg zu einem positiven Frieden sein.
Wie kann es zwischen militärischen Gegnern gelingen, zu Abrüstung zu kommen?
Rüstungskontrolle kann nicht warten, bis die Spannungen vorüber sind. Aufgrund dieser Spannungen ist sie möglichst bald nötig, um das eigene Überleben zu sichern. Dann kann damit begonnen werden, überprüfbar Vertrauen aufzubauen: durch Transparenzmaßnahmen, mit Regeln und Begrenzungen für bestimmte Waffensysteme oder gleich ihrer Abschaffung. Das gilt gerade für Atomwaffen – hier kann der Atomwaffenverbotsvertrag hoffentlich den Druck auf die Staaten erhöhen, die über diese Waffen verfügen – , aber auch für die konventionellen Arsenale.
Der Kongress befasst sich mit der »Zeitenwende« in Bildung und Hochschulen. Welchen Anteil können diese an einer gelingenden Rüstungskontrolle haben?
Es wäre ein monumentaler Fehler, wenn die Prioritäten in der Bildung, Forschung und Wissenschaft auf die »Zeitenwende« gelegt würden. Gerade jetzt muss Wissen über Rüstungskontrolle, ihre Wege, ihre Erfolge wie bisherigen Fehler, vertieft werden, damit wir in Zukunft tragfähige und nachhaltige Instrumente schaffen können. Das könnte durch mehr Professuren speziell für Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung und Abrüstung geschehen.
Zuerst veröffentlicht in: junge Welt, Ausgabe vom 02.11.2024.