IMI-Standpunkt 2024/030

Rostock und der Zwei-Plus-Vier-Vertrag

Schleichende Neuinterpretation eines weltpolitischen Dokuments

von: Bernhard Klaus | Veröffentlicht am: 24. Oktober 2024

Drucken

Hier finden sich ähnliche Artikel

Am 21. Oktober wurde in Rostock feierlich ein neues Marinekommando, das „Commander Task Force Baltic“ (CTF Baltic) in Dienst gestellt. In der internationalen Presse wird es häufig als „NATO naval HQ“ bezeichnet. Auch die deutsche Presse schrieb zunächst mehrfach von einem „NATO-Hauptquartier“, mittlerweile aber eher von einem „Hauptquartier FÜR die NATO“. So informiert etwa spiegel.de über eine entsprechende Umformulierung:

„Anmerkung: In einer früheren Version wurde der Marineposten in Rostock als Nato-Hauptquartier bezeichnet. Tatsächlich handelt es sich um ein nationales Hauptquartier, das im Austausch mit Nato-Partnern den Ostseeraum überwachen soll. Wir haben die entsprechenden Passagen korrigiert.“

Hintergrund der Verwirrung ist der sog. Zwei-Plus-Vier-Vertrag, der „Vertrag über die abschließenden Regelungen in Bezug auf Deutschland“, der die sog. Wiedervereinigung Deutschlands ermöglichte. In den sog. „sozialen Medien“ fand die Kritik, das Kommando verstoße gegen den Vertrag, breiten Widerhall, Russland bestellte den deutschen Botschafter ein.

In vielen deutschen Medien wird nun dieser Behauptung entgegengetreten, vielfach bezugnehmend auf Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes und der Bundeswehr. Den Vogel schoss allerdings die Deutsche Welle (DW) mit einem Faktencheck ab. Sie schreibt, es werde suggeriert, „dass die NATO einen neuen Stützpunkt in Rostock unter ihrer Führung und mit ihren Truppen errichten würde und damit gegen den sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrag verstoßen würde. Diese Behauptung ist jedoch falsch. In Rostock wird kein neues NATO-Hauptquartier errichtet.“ Als Beleg zitiert und kommentiert sie die vermeintlich relevante Stelle des Vertrages:

„In Artikel 5, Absatz 1 des Vertrags heißt es, dass bis alle sowjetischen Streitkräfte damals abgezogen sind, Streitkräfte anderer Staaten auf diesem Gebiet nicht stationiert werden dürfen oder andere militärische Tätigkeiten dort ausgeübt werden dürfen. Dieser Absatz bezieht sich also ausschließlich auf die damalige Zeit.“

Das ist inhaltlich soweit richtig. Nicht zitiert wird allerdings der eigentlich relevante, kurz darauf folgende Artikel 5, Absatz 3, der lautet:

Nach dem Abschluß des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins können in diesem Teil Deutschlands auch deutsche Streitkräfteverbände stationiert werden, die in gleicher Weise militärischen Bündnisstrukturen zugeordnet sind wie diejenigen auf dem übrigen deutschen Hoheitsgebiet, allerdings ohne Kernwaffenträger. Darunter fallen nicht konventionelle Waffensysteme, die neben konventioneller andere Einsatzfähigkeiten haben können, die jedoch in diesem Teil Deutschlands für eine konventionelle Rolle ausgerüstet und nur dafür vorgesehen sind. Ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt.“

Ohne explizit anzuerkennen, dass der Vertrag die Stationierung ausländischer Streitkräfte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR tatsächlich ausschließt, wird dann doch auch diese Frage im Faktencheck der DW abgehandelt – mit Rückgriff auf zwei Experten von der Universität der Bundeswehr in München:

„Es handele sich also nicht um ein NATO-Hauptquartier, sondern um ein Hauptquartier der Marine mit multinationaler Beteiligung, bestätigt der Politikwissenschaftler Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr in München im DW-Interview. ‚Es werden dort also neben den deutschen auch ein paar Stabsoffiziere aus NATO-Ländern Dienst tun. Das ist keine Stationierung von Streitkräften‘, so Sauer. Die Kommandozentrale sei eine deutsche Initiative mit den Ostseeanrainer-Staaten, die nicht in die NATO-Strukturen integriert und nicht dem NATO-Befehlshaber unterstellt sei, sagt auch Carlo Masala, Direktor des Center for Intelligence and Security Studies an der Universität der Bundeswehr in München, im DW-Gespräch.“

Ausländische Soldaten werden dort also „Dienst tun“, aber nicht „stationiert“ sein, bei X stellte das BMVg in großen Lettern klar, es handle sich um „Austausch- und Verbindungsoffiziere unter deutschem Kommando“. Diese Unterscheidung scheint die Bundesregierung doch auch auf eine Art ernst zu nehmen. Jedenfalls konnte der Bundesverteidigungsminister laut einem Bericht von Florian Warweg über die Eröffnungsfeierlichkeiten auf dessen Frage, „welcher Rechtsrahmen denn für die im CTF Baltic tätigen ausländischen NATO-Soldaten gelte… da sowohl NATO-Truppenstatut als auch Aufenthaltsvertrag für ausländische Soldaten in Ostdeutschland keine Geltung haben“ keine Antwort geben und kündigte an, diese nachzuliefern. Bei einer späteren Pressekonferenz zitierte Warweg dann eine Mitteilung der NATO zur Eröffnung des Kommandos unter dem Titel „NATO Establishes Commander, Task Force Baltic“, wonach es sich „[f]ormal“ beim „CTF Baltic ein deutsches Hauptquartier mit multinationaler Beteiligung“ handle, „das zunächst von einem deutschen Admiral geleitet wird“, die Rolle des Kommandeurs jedoch nach vier Jahren „rotieren“ werde, also an den bisherigen polnischen Stellvertreter bzw. den schwedischen Stabschef übergeben werden solle. Auf die Frage Warwegs, ob „wenn in vier Jahren ein polnischer oder ein schwedischer Admiral die Führung des CTF übernimmt, … das in der Logik der Bundeswehr dann auch weiterhin ein deutsches Hauptquartier unter deutschem Befehl“ wäre, antwortete der Vertreter des BMVg:

„Es wechselt nicht das Command, sondern der oder die Commander. Das heißt, es zeigt eine Nation an, die Aufgabe zu übernehmen, und dann geschieht ein Wechsel, so wie das routinemäßig in der NATO immer geschieht. Das ist keine Rotation von Kräften und keine Rotation von Strukturen, sondern es ist eine Rotation in der Wahrnehmung der Aufgabe.“

Nun handelt es sich beim 2+4-Vertrag um einen Vertrag von herausragender weltpolitischer Bedeutung, eines der wichtigsten Dokumente der europäischen Nachkriegsordnung. Zugleich ist es relativ knapp und übersichtlich und lässt somit Interpretationsspielräume. Dass die Verhandlungen um den Vertrag und damit die „Wiedervereinigung“ fast an eben jenem letzten Satz des oben zitierten Absatzes gescheitert wären, beschreibt ein Beitrag von Klaus-Rainer Jackisch für den Deutschlandfunk von 2005 mit O-Tönen der an den Verhandlungen Beteiligten, darunter der ehemalige deutsche Außenminister Genscher. In letzter Minute hätte das britische Außenministerium noch darauf bestanden, dass die NATO künftig auf dem Gebiet der DDR Manöver durchführen könne. Das Problem wurde durch eine Protokollnotiz (vermeintlich) gelöst, wonach „die Anwendung des Wortes ‚verlegt‘, wie es im letzten Satz von Artikel 5 Abs. 3 gebraucht wird, … von der Regierung des vereinten Deutschland in einer vernünftigen und verantwortungsbewußten Weise entschieden [wird], wobei sie die Sicherheitsinteressen jeder Vertragspartei, wie dies in der Präambel niedergelegt ist, berücksichtigen wird“. Eine solche dem Vertrag angefügte Protokollnotiz findet sich alleine zu diesem Absatz und sie bezieht sich alleine auf die Frage der Verlegung.

Die Frage der Auslegung des betreffenden Absatzes wurde 2007 durch die Linksfraktion im Bundestag aufgeworfen, nachdem auf dem Flughafen Halle/Leipzig zivile Frachtmaschinen (durch einen Rahmenvertrag) stationiert wurden, die regelmäßig Material für die NATO transportierten. Damals argumentierte die Bundesregierung für den Fall, dass „dass militärisches Gerät durch ausländische Soldaten nach Leipzig verbracht und in die Antonov 124-100 verladen würde, um alsbald in einen Drittstaat transportiert zu werden“: „Artikel 5 Abs. 3 Satz 3 des Vertrages bezieht sich auf Streitkräfteaufenthalte, die auf eine gewisse Dauer angelegt sind, und schließt vorübergehende Aufenthalte ausländischer Soldaten in Berlin und in den neuen Bundesländern nicht aus“. Auch insofern sah die Bundesregierung den Absatz seinerzeit nicht verletzt, wobei die Dauer der Präsenz Angehöriger ausländischer Streitkräfte als zentrales Kriterium vorgebracht wurde – wie es auch in den Formulierungen „alsbald“ und „vorübergehend“ zum Ausdruck kommt.

Zehn Jahre später veröffentlichte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages einen Sachstand zur Frage der Relevanz des betreffenden Absatzes für die geplante Einrichtung eines NATO-Logistikkommandos und ob dieses möglicherweise auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR angesiedelt werden dürfte. Der Sachstand kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass dies nicht dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag widersprechen würde. Die Argumentation beruht im Wesentlichen auf einer Argumentation, wonach sich die Begriffe Stationierung und Verlegung nur bzw. „primär auf genuin kämpfende Truppenverbände“ beziehen könnten und verweist hierfür auch auf die „stationierungsrechtliche Unterscheidung zwischen Hauptquartier und Truppe“ durch die NATO(!). Allerdings ist im Vertragstext von „Streitkräften“ die Rede. Zu deren Definition wird auch auf die Kommentarliteratur zum Grundgesetz verwiesen, in dem sie „alle als Kombattanten uniformierten Verbände, welche militärisch gegliedert, geführt und bewaffnet unter die Befehls- und Kommandogewalt des Verteidigungsministers gehören“ umfassen. Dazu würde das Stabspersonal eines Marinekommandos zweifellos zählen.

Wurde 2007 noch im Falle (einzelner) Logistiker mit der Dauer ihrer Präsenz argumentiert, wurde zehn Jahre später der Begriff der Streitkräften im Vertragstext nicht nach Interpretation des internationalen Rechts, sondern einseitig auf „genuin kämpfende Truppenverbände“ angewandt. Diese einseitige, erhebliche Neuinterpretation erfolgte damals mit der Begründung, dass sich „Sinn und Zweck der Vertragsregelung in Art. 5 Abs. 3 hat … spätestens mit der NATO-Erweiterung um zahlreiche Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts (baltische Staaten, Polen, Tschechien, Rumänien, Bulgarien, etc.) politisch ‚überholt’“ hätte.

Ähnlich argumentiert nun „Bernhard Blumenau, Dozent für Internationale Geschichte und Politik an der Universität St. Andrews in Großbritannien“ im Faktencheck der DW: „Damals ging es um Sicherheitsgarantien für die osteuropäischen Staaten und die UdSSR. 1990 war die Ostgrenze Deutschlands die NATO-Außengrenze. Wären dort NATO-Truppen stationiert worden, hätte dies ein deutlich höheres Bedrohungspotenzial für die damalige UdSSR dargestellt. Ostdeutschland sollte somit als Puffer fungieren…“.

Das ist interessant vor dem Hintergrund der Debatte darum, welche Zusicherungen wann von wem zur Frage der NATO-Osterweiterung gegeben wurden. Der Ausschluss von NATO-Stationierungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR und eine vorgesehene Puffer-Funktion machen eigentlich nur Sinn, wenn eine Osterweiterung der NATO weit jenseits der deutschen Ostgrenze damals nicht zur Debatte standen. Die NATO-Osterweiterung widerspricht somit eigentlich offensichtlich dem Geist des Vertrages – wenn auch nicht ihrem Wortlaut. Nun wird sie zum Anlass genommen, auch diesen Wortlaut neu zu interpretieren dahingehend, ab welcher Dauer eine „Stationierung“ beginnt und wer eigentlich zu den Streitkräften gehört. Bei solchen Neuinterpretationen sollten die Positionen aller Vertragsparteien (welche die „Wiedervereinigung“ damit ermöglicht haben) und ihrer Rechtsnachfolger gehört und einbezogen werden – wie es die Protokollnotiz vorsieht. In der Presse und der Öffentlichkeit sollten sie kontrovers verfolgt und mitdiskutiert werden können – und nicht mit manipulativen Faktenchecks und Basta-Mentalität abgeurteilt.

Denn der Zwei-Plus-Vier-Vertrag beinhaltet noch andere, sehr grundsätzliche Regelungen, darunter der „endgültige Charakter der Grenzen des vereinten Deutschland“ und „daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird“. Auch im letzten Fall fanden schon (bald) nach Abschluss des Vertrages erhebliche Neuinterpretationen statt. Könnten diese eines Tages auch den „endgültige[n] Charakter der Grenzen des vereinten Deutschland“ betreffen? Würden sich die Faktenchecks auch dann den Neuinterpretationen der jeweils amtierenden Bundesregierung anschließen?