IMI-Standpunkt 2024/025 - in: AUSDRUCK (September 2024)
Vision einer postextraktivistischen Zukunft
Die Schaffung einer Welt der Pflege und Gerechtigkeit
von: Juan Francisco Donoso | Veröffentlicht am: 16. September 2024
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AUSDRUCK – Das IMI-Magazin
Ausgabe September 2024
Schwerpunkt: Ungewisse Zukunft
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Die aktuelle September-Ausgabe des IMI-Magazins AUSDRUCK hat das Thema „Ungewisse Zukunft“ zum Schwerpunkt. Darin haben wir auch Texte versammelt, die mit ihrem literarisch-fiktionalen Charakter etwas von unseren herkömmlichen Beiträgen abweichen, dennoch – oder womöglich auch gerade deswegen – wichtig (Zukunfts-)Perspektiven eröffnen.
Wir schreiben das Jahr 2037.
Ich bin nun 50 Jahre alt. Ich kann kaum glauben, dass ich bereits seit drei Jahrzehnten freiberuflich für die Klimagerechtigkeit arbeite. Ich bin Teil verschiedener Kollektive, in denen wir uns mit dokumentarischem Filmen als direkte Aktionen und mit der Entwicklung aufrüttelnder Narrative beschäftigen, um soziale Bewegungen und kleine Organisationen unterstützen, die in den Zustand der Welt eingreifen.
Der Wendepunkt kam vor etwa dreizehn Jahren, im Jahr 2024, während der Online-Treffen mit meiner Arbeitsgruppe von der Andean Wetlands Alliance. Es waren Menschen aus Chile, Bolivien und Argentinien, die den Schutz von Salzebenen und Feuchtgebieten als einen Weg nutzten, um gegen die Ausweitung des Lithiumabbaus für die damaligen Elektroautoindustrie zu kämpften. Diese Autos waren nur ein Greenwashing. Ich war damals voller Zweifel und suchte nach neuen Möglichkeiten, die Narrative zu gestalten und mein Wissens, das ich von verschiedenen Mentor*innen erhalten hatte, breit zu streuen.
Ich lebte damals in Berlin und überall fragten mich die Leute, „wenn es nicht das Lithium ist, was ist es dann?“. Ich antwortete dann immer, dass die Grundannahme falsch sei und die Frage lauten muss, „wenn dies kein Gewaltakt gegen die Gemeinschaften vor Ort ist, was ist es dann?“. Das Recht, „nein“ zu sagen, war damals für die Betroffenen utopisch.
Menschen, die sich für den Klimawandel interessierten – und das war damals noch kein so großer Teil der Gesellschaft wie heute –, fragten mich auch: „Sind wir dem Untergang geweiht? Gibt es noch Hoffnung für die Menschheit?“ Damals – die Wissenschaft hatte uns bereits das Ausmaß unserer Herausforderung vor Augen geführt – waren auch wunderschöne soziale Bewegungen und unzählige Möglichkeiten zu sehen. Von dieser Hoffnung habe auch ich gesprochen, obwohl ich selbst nicht so recht daran glauben wollte.
Ich erkannte, dass die sozialen und Umweltbewegungen sich schwer taten, alternative Zukünfte zu formulieren. Mit Red Leaves Films stiegen wir deshalb in die Produktion von spekulativen und Klima-Science-Fiction ein, was in den nächsten zehn Jahren zu unserem Schwerpunkt wurde. Von 2024 bis 2032 produzierten wir Videos, in denen wir neue Zukunftsvisionen entwarfen, marginalisierte Stimmen interviewten, das Fehlverhalten von Unternehmen aufdeckten und mit Hilfe von Comedy über Umweltgerechtigkeit diskutierten, etc.. Diese Projekte brachten unsere Wut und Hoffnung zum Ausdruck, insbesondere bei Protesten.
Um Wirkung zu erzielen und über die grüne Blase hinauszugehen, zeigten wir die Projekte nicht nur auf Festivals, auf Video-on-Demand-Plattformen und in Kinos. Selbst wenn es mir manchmal schwer fiel, arbeitete ich auch mit älteren Menschen zusammen, die sich (nur) für Naturschutzfragen interessierten, oder mit Befürworter*innen „grüner Technologien“ (z.B. erneuerbare Energiequellen von Konzernen oder die Nutzung privater Elektrofahrzeuge), oder mit dem politischen Establishment und philanthropischen Organisationen. Ich erstellte Websites, entwickelte Lerneinheiten für Online-Lernplattformen, machte Werbung in lokalen Social-Media-Chats, hielt Vorträge in örtlichen Bibliotheken und Gemeindehäusern und beteiligte mich an Veranstaltungen und Konferenzen in politischen Foren und an umweltpolitischen Konferenzen. Einige unserer Tools waren Lehr- und Trainingsmaterialien, Toolkits für die Aktivist*innen, Werbematerialien, Briefing-Dokumente für die politische Arbeit und Podcasts. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit der Tochter eines Freundes, die eindeutig der Generation Z angehörte, und mich fragte „Warum zeigst Du Deine Anti-Extraktivismus-Arbeit immer denselben Leuten? Warum gehst du nicht in Museen, Planetarien, Zoos, Elektronik-Recycling-Zentren oder zu Wissenschaftsgipfeln?“. Das waren erstaunliche Ideen, über die ich nie nachgedacht hatte, und mir wurde klar, dass in der Arbeit mit jüngeren Menschen der Schlüssel zu unserem Erfolg liegt.
2033 nahm ich ein Sabbatjahr, um meinen schwerkranken Vater zu pflegen. Diese Zeit mit der Familie hat meine Hingabe für die Pflege und den Schutz des Lebens bekräftigt.
Im Jahr 2034 verfolgten wir mit Red Leaves Films interessiert den Aufstieg starker neuer Bewegungen: die der Pflegekräfte und der antikolonialen Klimastreik-Generation, die schon 2024, zur Zeit des Völkermordes in Gaza, ihren Anfang gefunden hatten. 2035 produzierte ich einen Dokumentarfilm über diese Bewegungen und ihre historisch wichtigen Kundgebungen in ganz Europa. Der Film „Shared Meaning“ (Gemeinsame Bedeutung) hatte 2036 Premiere und wurde von vielen Akteur*innen gefeiert, da er die Verbindung zwischen der Sorge füreinander und für unseren Planeten hervorhob.
Diese Bewegungen, geführt von Frauen, Heiler*innen, Therapeut*innen, Krankenpfleger*innen, indigenen Gemeinschaften und Organisationen der gegenseitigen Hilfe, brachten das Thema Pflege in den Mainstream. 2037 wurde ich Mitglied der „Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit“ auf europäischer Ebene. Sie war eine bedeutsame Errungenschaft der Proteste – erreicht durch die vereinten Kräfte der Pflegekräfte und den Klimastreikenden. Die Arbeit der Kommission umfasst den Aufbau von Museen, die der Kolonialgeschichte gewidmet sind, und die Erarbeitung vielfältiger und diverser Zukunftsvisionen. Unser Multimediateam, das aus über fünftausend kreativen Köpfen besteht, startet gerade in eine zehnjährige Reise für Wahrheit und Gerechtigkeit. Wir konzentrieren uns auf die Erforschung von Erinnerungen, Zukünften und Narrativen und knüpfen damit an die Diskussionen an, die ich vor vielen Jahren mit der Andean Wetlands Alliance geführt habe.
„Jetzt, wo wir mit der Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit zusammenarbeiten“, sagte ein Kurator eines der Museen vor einigen Wochen zu mir „sind Zukünfte im Plural, denn es geht nicht darum, einen Konsens über ein einziges, unidirektionales Ziel zu erreichen. Es geht darum, viele Versionen, viele Zukünfte zuzulassen, die widersprüchlich, chaotisch, nicht-linear und unangepasst sind. Je mehr verschiedene Zukünfte wir hören, desto besser ist es für uns.“ Ich fühle mich geehrt, Teil dieser Arbeit zu sein, die Heilung ermöglicht und die Klimakrise und andere Herausforderungen angeht. Sie verändert alle Kontinente, aber besonders Europa und seine blutigen Hände.
Damals im Jahr 2024 arbeitete ich mit einer Kunstorganisation namens „The Go Between“ zusammen, die dafür bekannt war, Werbeflächen umzugestalten und zu hacken, um das Klimabewusstsein zu fördern. Es war eine erfreuliche Erfahrung, bei der wir viel gelacht haben. In jenen Jahren begannen soziale Bewegungen positive Visionen für die Zukunft zu formulieren und sich von neoliberalen Zwängen zu befreien. Die Pandemie von 2020 hatte die Zerbrechlichkeit unserer Institutionen offengelegt, was bis Ende 2024 zu einem Aufschwung neuer Bewegungen und einem Wandel im öffentlichen Engagement führte.
Als junger Mensch habe ich mich der Praxis der Imagination bedient, um transformative Veränderungen und bessere Zukünfte zu schaffen. Ich hielt mich oft an den Satz: „Du kannst nicht sein, was du nicht siehst. Du kannst nicht werden, was du dir nicht vorstellen kannst.“ Aktivist*innen stellen sich ständig gegen zerstörerische Projekte, aber es bleibt wenig Zeit, sich die Welt vorzustellen, die wir aufbauen wollen. Wir brauchen eine klare, wahre, scharfe und erfreuliche Vision, um diese zukünftige Welt zu bewohnen.
Amitav Ghosh schrieb einmal:
„Wenn künftige Generationen auf die Klimakrise zurückblicken, werden sie sicherlich den führenden Köpfen und Politiker*innen dieser Zeit die Schuld dafür geben, dass sie es versäumt haben, die Probleme anzugehen. Aber sie werden vielleicht Künstler*innen und Schriftsteller*innen gleichermaßen für schuldig halten – denn das Aufzeigen von Möglichkeiten ist letzten Endes nicht die Aufgabe von Politiker*innen und Bürokrat*innen“.
Im Gegensatz zu dem, was man uns erzählt, ist die Geschichte nicht vorbei, die Zukunft nicht vorherbestimmt und nichts unvermeidlich. Multiple Zukünfte sind immer möglich. Wir sind mit einer ungerechten und gewalttätigen Gegenwart konfrontiert, aber wir können uns dafür entscheiden, freundlich, großzügig, weise und kreativ zu sein und unseren Kurs in Richtung einer besseren Welt zu lenken. Die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, um uns solche Zukünfte vorzustellen und mit ihnen umzugehen, werden unseren weiteren Weg beeinflussen.