IMI-Standpunkt 2024/16
Mittelstreckenwaffen: Verzerrte Einordnung
von: Bernhard Klaus | Veröffentlicht am: 19. Juli 2024
Verschiedene Medien greifen gerade auf Frank Sauer, Privatdozent an der Universität der Bundeswehr in München zurück, um der Öffentlichkeit die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen zu „erklären“, bzw. diese als sinnvoll bis notwendig zu verklären.
So veröffentlichten am heutigen Freitag (19.7.2024) die zahlreichen Zeitungen der VRM (Verlagsgruppe Rhein Main) ein Interview mit ihm unter dem Titel „Wir müssen solche Signale senden“. Dort wird ein zumindest sehr einseitiges, verzerrtes Bild wiedergegeben:
Sauer: „Man muss sich klarmachen, dass die Bedrohungssituation jetzt keine andere geworden ist. Sie war in Deutschland schon seit 2016 prekär. Damals hat Russland angefangen, in Kaliningrad Waffensysteme vom Typ Iskander zu stationieren, die auch nukleare Gefechtsköpfe tragen können und die in wenigen Minuten in Deutschland sind. Wir leben also seit 2016 mit der geladenen Waffe an der Schläfe. Bloß haben wir beschlossen, das zu ignorieren.“
Um in diesem krassen Bild zu bleiben, hatte Russland vielleicht bereits eine „Waffe an der Schläfe“ Deutschlands – aber bislang eben keinen Grund, abzudrücken. Das wird sich nun ändern. Bei den russischen Iskander wird suggestiv hervorgehoben, dass diese „auch nukleare Gefechtsköpfe tragen können“. Dass dies zumindest potentiell auch für die nun vorgesehenen Tomahawk-Marschflugkörper der USA gilt, bleibt unerwähnt. Ohnehin sind längst auf dem deutschen Flughafen Büchel US-Atomwaffen stationiert…
Sauer: „[D]ie Stationierung dieser Raketen ist erstmal ein notwendiges Signal an den Kreml, weil es angesichts des russischen Angriffskriegs Entschlossenheit und transatlantische Geschlossenheit signalisiert – bevor Donald Trump demnächst zum US-Präsidenten gewählt wird.“
Dieses häufig genannte Argument ist seltsam angesichts der Tatsache, dass nach einer möglichen Wahl Trumps eben dieser über die US-Waffensysteme auf deutschem Boden verfügen würde.
Sauer: „Es kommen konventionelle Waffen, die nicht primär dazu dienen, nukleare Waffen der Russen zu bedrohen. Der Sinn dieser Multi-Domain-Taskforce (dazu die Infobox unten) ist, konventionelle Mittelstreckenfähigkeiten zur Verfügung zu stellen. Wenn es tatsächlich zu einem konventionellen Schlagabtausch zwischen Russland und der Nato kommen sollte, werden konventionelle Ziele mit konventionellen Mitteln bekämpft: Hauptquartiere, logistische Knotenpunkte, Munitionsdepots und vor allem die bodengebundene Flugabwehr der Russen.“
Hier kommt u.a. der der ehemalige Brigadegeneral Helmut W. Ganser zu einem anderen Schluss, zumindest wenn die russische Perspektive einbezogen wird: „Die USA könnten in der russischen Wahrnehmung aufgrund der Reichweite, Zielpräzision und eventuell bunkerbrechenden konventionellen Sprengkraft dieser neuen Waffensysteme von Deutschland aus strategische Atomwaffen, die in den westlichen Bezirken Russlands stationiert sind, mit kurzen Flugzeiten ausschalten. Die USA würden solche Angriffe zwar nicht führen, weil dies in einen großen Atomkrieg zwischen beiden Mächten münden würde. Aber allein diese Angriffsoption wäre destabilisierend und gefährlich, weil Russland im permanenten Alarmzustand verharren würde und weil Fehlalarme im schlimmsten Fall zum Start von Atomraketen führen können.“ (s. IMI-Aktuell 2024/460).
Überhaupt ist bemerkenswert, wie Sauer hier von einem „konventionellen Schlagabtausch zwischen Russland und der Nato“ spricht, bei dem von Deutschland aus „Hauptquartiere, logistische Knotenpunkte, Munitionsdepots“ angegriffen werden – und dabei die vermutlichen Konsequenzen ausblendet bzw. herunterspielt.
Sauer: „Es ist sehr bedauerlich, dass wir derlei nicht mehr mit Rüstungskontrollverträgen einhegen wie dem, den Russland schließlich gebrochen hat.“
Aufgekündigt haben den angesprochenen INF-Vertrag die USA 2019 unter Trump. Ob und durch wen er zuvor gebrochen worden war, ist umstritten, wie die IMI-Analyse 2024/33 kurz darstellt. Aus einen vermeintlichen Bruch die Konsequenz einer Aufkündigung zu ziehen, ist eine politische Entscheidung von großer Tragweite, die von den USA ausging.
Sauer: „Das heißt im Grunde, sie haben halt ein paar mehr Lkw herumstehen. Die Amerikaner werden Typhon sicher nicht in der Wiesbadener Innenstadt parken. Und andere unmittelbare Konsequenzen sehe ich auch nicht.“
Sauer weicht der Frage nach weiteren Konsequenzen („Boden-Kontamination, Strahlenbelastung, Lärm, Wertminderung von Immobilien?“) zunächst aus und beantwortet sie letztlich mit „sie haben halt ein paar mehr Lkw herumstehen“. Das ist eine erhebliche Verharmlosung und grenzt schon grob an Propaganda…
Auch das evangelische Monatsmagazin chrismon hat auf seiner Homepage ein Interview mit Frank Sauer veröffentlicht. Darin behauptet Sauer gleich einleitend: „Die Stationierung in Deutschland bahnte sich schon seit 2021 an, kommt also nicht überraschend. Die Ankündigung jetzt soll im Lichte des Krieges gegen die Ukraine aber natürlich auch ein Signal der Entschlossenheit an den Kreml senden.“ Das jetzt als „nicht überraschend“ zu deklarieren, ist schon etwas frech. Dass es Hinweise auf eine bevorstehende Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Europa gab, hat die IMI – anders als Frank Sauer – tatsächlich bereits in der IMI-Analyse 2021/46 im Dezember 2021 unter dem Titel „Die neue Nachrüstung“ öffentlich gemacht. In IMI-Analyse 2024/33 hingegen beschreiben wir, wie entsprechende Absichten seither von der Bundesregierung mehrfach geleugnet wurden: „Dennoch stritten die Regierungen der USA und Deutschlands lange vehement ab, dass eine Stationierung von Mittelstreckenwaffen geplant sei. In einer Antwort des Hessischen Landtags vom 25. Februar 2022 wurde sogar nicht nur wie in einer vorherigen Antwort der Bundesregierung abgestritten, dass es aktuell derartige Pläne gäbe, sondern auch vehement verneint, dass dies künftig der Fall sein könnte: ‚Der Bundesregierung ist keine Entscheidung der Regierung der Vereinigten Staaten zur Stationierung hypersonischer Mittelstreckenraketen im Sinne der Fragestellung bekannt. Der Hessischen Landesregierung ist keine Entscheidung der Regierung der Vereinigten Staaten zur Stationierung von Hyperschall-Mittelstreckenraketen oder anderen Waffen der Raketen-Fernartillerie im Sinne der Fragestellung bekannt.'“
Zurück zu dem Interview mit Sauer in den Zeitungen der VRM. Dieses ergänzt der Autor noch mit einem Kasten und mehreren – kommentierten und sichtlich um Beschwichtigung bemühten – Stellungnahmen zu den Konsequenzen für die Region. Zu Wort kommt u.a. der hessische Innenminister Roman Poseck von der CDU. Dieser sieht in der geplanten Stationierung „keine Steigerung von Risiken und Gefahren. Im Gegenteil: Die starke Basis der amerikanischen Streitkräfte ist ein großer Gewinn für uns, auch im Hinblick auf unsere Sicherheit.“ Das letzte Wort überlässt der Autor dem „Experten“ Frank Kuhn vom Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung: „Allerdings ist Wiesbaden ohnehin schon eine der wichtigsten US-Militärbasen in Deutschland und Europa. Dass von dort nun auch die Ukraine-Unterstützung koordiniert wird, ändert daran wenig.“ Diese Beschwichtigungen stehen in einem gewissen Widerspruch dazu, dass zugleich darauf hingewiesen wird, dass laut Landesamt für Verfassungsschutz Deutschland „immer stärker in den Fokus der russischen Nachrichtendienste“ rücke. Der Autor löst diesen Widerspruch auf indem er zwischen den aufgezählten Zitaten – selbst, nicht in indirekter Rede – folgenden Schluss zieht: „Das lässt sich so deuten: Nicht die Nato-Reaktion, sondern Russlands Krieg hat die Sicherheitslage entscheidend verschärft. Auch die US-Streitkräfte sehen das so; sie haben Anfang Juli ihre Militärstandorte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt.“
Russlands Krieg begann im Februar 2022, die Multi-Domain-Taskforce wurde 2021 reaktiviert – seit dem war die Stationierung von Mittelstreckenraketen für einige, vielleicht auch in Russland, abzusehen. Im Juli 2024 erhöhen die USA den Schutz ihrer Militärstandorte in Deutschland, kurz vor der Ankündigung der tatsächlichen Stationierung. Aus dieser zeitlichen Abfolge lassen sich mit viel Mühe verschiedene Kausalitäten ableiten, diejenige des Autors ist – genau betrachtet – wenig überzeugend.