IMI-Analyse 2024/29 - in: AUSDRUCK (Juni 2024)

Fauliger Baum

Militarisierung der italienischen Polizei im Neofaschismus

von: Jacqueline Andres | Veröffentlicht am: 3. Juli 2024

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In Italien verschwimmen die Trennlinien zwischen Militär- und Polizeistrukturen an unterschiedlichen Punkten – dies fällt bereits an öffentlichen Plätzen in den italienischen Städten auf, die gemeinsam von Polizei und Militär überwacht und kontrolliert werden. Dabei ist es schwierig zwischen Polizei und Militär zu unterscheiden. Was aussieht wie Polizei, kann in Militärstrukturen eingebettet sein – z.B. unterstehen Carabinieri, die wie Polizei aussehen und sich teilweise wie die Polizei verhalten, u.a. dem Verteidigungsministerium und werden von ihm finanziert. Was aussieht wie ein Polizist, kann davor ein Militär gewesen sein – eine erhebliche Zahl polizeilicher Dienststellen bleibt Ex-Militärs vorbehalten. Diese beständige Verschwommenheit ist jedoch geprägt von gesellschaftlichen und politischen Veränderungen und damit zusammenhängend auch von der jeweiligen Regierung. Unter der aktuellen neofaschistischen Regierung drohen neue Dynamiken zu einer weiteren Militarisierung bzw. zu einer ausufernden staatlichen Legitimation von tödlicher Polizeigewalt zu führen. Im italienischen Diskurs wird von verfaulten Äpfeln gesprochen, um zu betonen, es handele sich um Einzelfälle. Doch der Umgang mit diesen vermeintlichen „verfaulten Äpfeln“ (mele marce) zeigt, dass der Staatsapparat systematisch schweigt und die Gewalt ausübenden Polizeikräfte schützt – der ganze Baum fault.

Polizeikräfte in Militärstrukturen

In Italien unterstehen die verschiedenen Polizeikräfte unterschiedlichen Ministerien – auch dem Verteidigungsministerium. Die bekannteste Einheit dürften die Carabinieri sein. Sie bilden die vierte Teilstreitkraft des italienischen Militärs und unterstehen einem Generalkommandanten. Sie folgen den Weisungen unterschiedlicher Ressorts – sowohl dem Verteidigungsministerium als auch dem Innenministerium. In ländlichen Regionen sind oftmals mehr Carabinieri als Polizia di Stato vorhanden und sie übernehmen die polizeilichen Aufgaben. Die Einwohner*innen rufen entweder die 112 für die Carabinieri oder die 113 für die Polizei – doch welche von den beiden Institutionen am Ende geschickt wird, ist nicht mit Sicherheit vorauszusagen. Ihr Aufgabenspektrum ist breit: „Die Carabinieri sind neben der allgemeinen Sicherheitspolizei auch für kriminalpolizeiliche Ermittlungen zuständig; sie nehmen auch Funktionen im Zivil- und

Katastrophenschutz wahr. Zu den militärischen Aufgaben gehören die Beteiligung an der Landesverteidigung, die Teilnahme an militärischen Operationen im In- und Ausland und an Militärpolizeioperationen im Ausland, die Ausübung der Militärpolizei und der Militärgerichtspolizei in Abhängigkeit der Organe der Militärjustiz, die Gewährleistung der Sicherheit der italienischen diplomatischen und konsularischen Vertretungen, die Unterstützung

von militärischen Kommandos und Einheiten im Inland sowie die Beteiligung am Mobilisierungsdienst.“[1] Sie waren u.a. in Afghanistan und bildeten afghanische Sicherheitskräfte aus. Im Jahr 2016 wurde die Forstpolizei (Corpo Forestale dello Stato) nach ihrer Auflösung in die Carabinieri eingegliedert und damit auch in militärische Strukturen eingebettet. Auch die Guardia di Finanza (Finanzpolizei bzw. Finanzwacht) ist Bestandteil der italienischen Streitkräfte. Ihre Aufgabe ist die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität – ihr Auftauchen hat ein hektisches Zusammenpacken der ambulanten Händler*innen zufolge, die oftmals unter dem Existenzminimum leben und an den Flaniermeilen in kleinen mobilen Ständen Sonnenbrillen oder Regenschirme verkaufen. Eingesetzt wird sie zum Grenzschutz auch im maritimen Bereich – immer wieder enden Überfahrten von people on the move tödlich, weil erst die Guardia di Finanza geschickt wird, die dem Grenzschutz dient und nicht die Küstenwache, die eher für Such- und Rettungsaktionen ausgerüstet ist. Im Verteidigungsfall bzw. im Falle eines Konflikts übernimmt die Guardia di Finanza als Teilstreitkraft Grenzsicherungsaufgaben und ihre Einsatzkräfte haben im Gegensatz zu nicht-militärischen Polizeieinheiten im Falle eines Konflikts Kombattentenstatus. Eine weitere militärische Struktur, die polizeiliche Aufgaben trägt, ist die Capitaneria di Porto, seit 1989 auch Küstenwache genannt. Sie stellt eine der sechs Abteilungen der militärischen Marine dar und folgt den Weisungen unterschiedlichen Ministerien: Infrastruktur- und Transportministerium, Verteidigungsministerium, Innenministerium und Umweltministerium.

Zu den Aufgaben gehören u.a. die Seenotrettung bzw. die Bekämpfung illegalisierter Migration, Hafenverwaltung, Fischereikontrolle, die Sicherheit der Schifffahrt und Frachtinspektion sowie der maritime Umweltschutz. Es sind u.a. Schiffe der Guardia di Finanza sowie der Küstenwache, die dem sogenannten libyschen Küstenschutz von der italienischen Regierung im Januar 2023 übergeben wurden. Sowohl gegen Einsatzkräfte der Guardia di Finanza als auch der Küstenwache nahm die italienische Staatsanwaltschaft Ermittlungen für ihre Mitverantwortung an dem Tod der ertrunkenen Menschen bei Cutro im Januar 2023 auf.[2] Damals überlebten nur 31 der rund 180 Menschen, 34 Kinderleichen wurden gefunden. Konkret ermittelt wird „wegen Verweigerung von Amtshandlungen, fahrlässiges Herbeiführen der Havarie und fahrlässiger Tötung in Mittäterschaft“.[3]

Militärs in den Polizeistrukturen

Zum anderen wandelte sich die Zusammensetzung der rekrutierten neuen Polizeikräfte und die „kollektive Identität“. In einer Analyse der Soziologen Charlie Barnao und Pietro Saitta wird hervorgehoben, dass die Zusammensetzung der Polizei bis in die 2000er Jahren von Leuten geprägt war, deren Beweggründe in die Polizei zu gehen auch idealistisch motiviert waren. Sie waren u.a. durch die Ermordung des Richters Borsellino und des Staatsanwalts Falcone durch die sizilianische Mafia motiviert, zur Polizei zu gehen. Ab den 2000er Jahren änderte sich dies grundlegend – so schreiben Barnao und Saitta im Jahr 2013: „Seit Anfang der 2000er Jahre sind die meisten freien Stellen bei der italienischen Polizei nur noch für Veteran*innen und Angehörige des Militärs reserviert. Die einzigen Stellen, die für Zivilist*innen zur Verfügung stehen, sind die für Offiziere, und deren Zahl ist sehr begrenzt. Auch wenn keine Statistiken vorliegen – das italienische Militär und die Polizei sind sehr zurückhaltend, aber mindestens 1/3 der im Polizeikorps beschäftigten Offiziere sind ehemalige Militärs.“[4] Ein aktueller Blick auf die freien Stellenanzeigen auf der Seite der italienischen Polizei offenbart ein ähnliches Bild: Die größte aktuell offene Rekrutierung von 1.887 neuen Beamt*innen der Polizia di Stato, die bis zum 13. Mai 2024 läuft, ist nur für ehemalige Militärs vorgesehen.[5]

Staatlich geduldete und legitimierte Polizeigewalt?

Einer der bekanntesten und eklatantesten Gewaltexzesse der italienischen Polizei ereignete sich im Rahmen des G8-Gipfels in Genua im Jahr 2001. Polizia di Stato und Carabineri drangen in die Schule Diaz ein, um die Aktivist*innen, die dort ihr Nachtquartier hatten, krankenhausreif zu schlagen – 63 der dort 93 Menschen kamen ins Krankenhaus und dort ging die Polizeigewalt weiter. Die beteiligten Polizisten stiegen die Karriereleiter auf – eine Verurteilung und eine Entlassung aus der Polizei gab es nicht. Erst im Februar 2024 kam die Polizei in besagte Schule, ein Symbol der straffreien Polizeigewalt, um zu rekrutieren. Es kam zu Protesten und die Anwältin forderte, die Polizei solle – wenn überhaupt – in die Schule kommen, um sich zu entschuldigen. Aber dazu fehlt der politische Wille. Im Gegenteil: Die Gewalt bei Protesten steigt.

Erschreckende Bilder kamen die letzten Monate aus Pisa und Florenz, wo Polizist*innen gewaltsam mit Schlagstöcken auf vorwiegend jugendliche Gymnasialschüler*innen einschlugen, die friedlich für einen Waffenstillstand in Palästina und ein Ende des Genozids in Gaza demonstrierten – in Pisa verletzten sie zehn Minderjährige, die zum Teil ins Krankenhaus mussten. In Florenz hört man in einem Video vor dem Einsatz der Schlagstöcke noch die Lehrer*innen, die versuchen, die Polizei zu beschwichtigen, es seien Jugendliche, ungefährliche 15-Jährige und warnend anmerken, dass sie selbst im öffentlichen Dienst arbeiten und alles filmen werden – kurz danach prügeln die Polizisten unbeirrt los. Selbst der als wortkarg geltende Präsident Italiens, Sergio Mattarella, erklärte nach diesen Bildern, „die Autorität der Polizei wird nicht an Schlagstöcken gemessen, sondern an der Fähigkeit, für Sicherheit zu sorgen und gleichzeitig die Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung zu schützen. Der Einsatz von Schlagstöcken gegen Jugendliche drückt Versagen aus.“ Erwidert wird diese Aussage von Giorgia Meloni, die warnte, es sei gefährlich, der Polizei die Unterstützung zu entziehen.[6] Auch Matteo Salvini, heute Vizeministerpräsident, schlägt in die gleiche Kerbe: Er lehne die Darstellung der italienischen Polizei als brutale Folterer ab und ein Polizist, ein Carabinere, ein Feuerwehrmann zu sein, sei immer ein heikler Job, bei dem jeder Fehler machen könne.[7]

Doch häufiger und weniger sichtbar ist die Gewalt der Polizei gegen marginalisierte Menschen wie z.B. Migrant*innen, Obdachlose, Drogenabhängige und Trans*personen. Dies gilt auch für Ugo Russo, der aus einem proletarischen und stigmatisierten Viertel Neapels stammte und mit 15 Jahren bei dem Versuch einem Carabinieri außer Dienst mit einer Spielzeugpistole seine Uhr abzunehmen, durch drei Schüsse getötet wurde – zwei dieser Schüsse erfolgten laut einer forensischen Analyse der Polizei als Ugo bereits floh und von dem Carabiniere verfolgt wurde.[8] Noch heute fordern seine Familie und das Solidaritätskomitee Wahrheit und Gerechtigkeit.

Mit dem neuen „Sicherheitspaket“, das die Meloni-Regierung im November 2023 verabschiedete, führt diese gravierende Änderungen ein: schwere Strafen für Revolten bzw. Proteste in Gefängnissen sowie in Aufnahme- und Abschiebezentren, wo sich immer wieder Proteste gegen die menschenunwürdige Unterbringung ereignen. Neu als Straftatbestand sind nun auch Blockaden des Straßen- und Bahnverkehrs mit dem eigenen Körper, eine gängigen Protestform der linken Bewegungen in Italien. Dies sind Änderungen, die Proteste erschweren, während Polizist*innen außer Dienst nun Waffen mit sich führen dürfen. Außerdem gehen 1,4 Milliarden Euro der im „Sicherheitspaket“ beschlossenen 5 Milliarden für Gehälter des öffentlichen Dienstes an die Polizeien und das Militär.[9] Das neue „Sicherheitspaket“ ist ein klares Zeichen dafür, dass die Arbeit der Staatsdiener in Uniform als prioritär gilt, die „Staat-Kasernen-Mentalität“[10] weiter gefördert wird und die aktuelle Regierung einen inoffiziellen Freifahrtschein für Polizeigewalt vorbereitet.

Anmerkungen


[1]     Gregor Wenda: 200 Jahre Carabinieri, Magazin Öffentliche Sicherheit 11-12/14, bmi.gv.at.

[2]     Strage di Cutro, indagati tre finanzieri, ilmanifesto.it, 2.6.2023

[3]     Die Schiffskatastrophe von Cutro: ein Jahr danach. Ein Bericht des Arci, borderline-europe.de, 6.3.2024.

[4]     Charlie Barnao und Pietro Saitta: Costruire guerrieri. Autoritarismo e personalità fasciste nelle forze armate italiane, in: Cirus Rinaldi (Hrsg.): La violenza normalizzata Omofobie e transfobie negli scenari contemporanei, Kaplan 2013.

[5]     Concorso pubblico, per esame e titoli, per l’assunzione di 1887 allievi agenti della Polizia di Stato, riservato ai volontari in ferma prefissata di un anno o quadriennale ovvero rafferma annuale in servizio o in congedo. d.C.P. 11/04/2024, poliziadistato.it, 11.4.2024.

[6]     Manganellate agli studenti, Meloni rompe il silenzio e attacca Mattarella: “Pericoloso togliere il sostegno alla polizia”, italianotizie.online, 29.2.2024.

[7]     Corriere della Sera: Salvini sulle manganellate di Pisa: „Poliziotti non sono biechi torturatori“, https://www.youtube.com/watch?v=DUnPjnx7zgE,  26.2.2024.

[8]     Ugo Russo, un punto sul processo a quattro anni dall’omicidio, napolimonitor.it, 28.2.2024.

[9]     Sergio Carano: Caserma-Italia. Soldi e tutele solo agli apparati coercitivi, contropiano.org, 22.11.2023, Il Cdm approva il pacchetto sicurezza, 1,5 mld per sicurezza e nuovi reati, ansa.it, 16.11.2023.

[10]   Sergio Carano: Caserma-Italia. Soldi e tutele solo agli apparati coercitivi, contropiano.org, 22.11.2023