IMI-Analyse 2024/28 - in: AUSDRUCK (Juni 2024)

Staatliche Gewalt mit System

Initiative dokumentiert mehr als 250 Todesfälle in deutschem Gewahrsam

von: Death in Custody | Veröffentlicht am: 2. Juli 2024

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Am Ostersamstag 2024 kommt es in der niedersächsischen Stadt Nienburg zu einem Großeinsatz der Polizei, der für den 46-jährigen Gambier Lamin Touray tödlich endet. Ausgelöst wird der Einsatz durch Tourays Lebensgefährtin. Sie wählt den Notruf, weil ihr Partner sich in einer psychischen Ausnahmesituation befindet – sie will ihm medizinische Hilfe zukommen lassen. Statt eines Krankenwagens rücken jedoch 14 Polizist*innen mit einem Polizeihund an. In einem Video, das im Internet kursiert, ist zu sehen, wie Touray, der sich von den Beamt*innen offenbar bedroht fühlt, mit einem Messer wedelt. Dann wird er aus nächster Nähe erschossen. Insgesamt fallen acht Schüsse, zwei treffen ihn tödlich.

Am selben Abend veröffentlichen Polizei und Staatsanwaltschaft der Nachbarstadt Verden eine Pressemitteilung. Darin behaupten sie, der Grund für den Polizeieinsatz sei gewesen, dass Touray seine Freundin mit einem Messer bedroht habe. Anschließend habe der Mann die herbeigerufenen Beamt*innen und einen Diensthund mit einem Messer angegriffen, weshalb diese in Notwehr auf ihn geschossen hätten. Die Darstellung der Polizei wird in vielen Medienberichten unkritisch wiedergegeben. Die Freundin widerspricht dieser Schilderung: Sie habe den Polizist*innen angeboten, beruhigend auf Touray einzuwirken und ihn zur Aufgabe zu überreden. Das Angebot hätten diese nicht angenommen. Stattdessen hätten sie einen Hund auf Touray gehetzt und die Lage damit eskaliert. „Statt zu helfen, haben sie ihn wie ein Tier im Wald erschossen, wird die Freundin in der taz zitiert.[1]

Kein Einzelfall

Was am Ostersamstag in Nienburg passierte, ist kein Einzelfall. Der niedersächsische Flüchtlingsrat machte nach Tourays Tod darauf aufmerksam, dass die Polizei allein in Niedersachsen in den letzten vier Jahren mindestens fünf Menschen mit Fluchtgeschichte getötet hat.[2] Viele von ihnen befanden sich wie Lamin Touray in einem psychischen Ausnahmezustand. Auch in anderen Bundesländern kommen Menschen mit erschreckender Regelmäßigkeit bei Polizeieinsätzen oder in Haft zu Tode. Die Behörden erfassen dazu allerdings keine verlässlichen Daten, sodass offiziell nicht bekannt ist, wie häufig Polizei und Knast in Deutschland töten. Wenn Angehörige, Freund*innen oder Nachbar*innen nicht die Ressourcen, den Mut und die notwendige Unterstützung haben, um gegen die tödliche Gewalt zu protestieren und Aufklärung zu verlangen, bleiben die Todesfälle vielfach unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle. Das macht es den Regierenden leicht, die mörderische Realität zu leugnen und von „tragischen Einzelfällen“ zu sprechen, die angeblich kein System hätten.

Um der Einzelfall-These zu widersprechen und ihr recherchierte Fakten entgegenzusetzen, gründeten wir 2019 die Recherchegruppe „Death in Custody“ im Rahmen einer gleichnamigen antirassistischen Bündnis-Kampagne. Zwischen 2019 und 2021 machten wir mit Veranstaltungen, Demonstrationen und Veröffentlichungen auf tödliche Staatsgewalt aufmerksam.[3] Nach dem Ende der Kampagne setzten wir die Recherche fort. Auf Basis unterschiedlicher Quellen tragen wir Todesfälle rassifizierter Menschen durch Polizeigewalt, in Gewahrsam oder in Gefängnissen zusammen und dokumentieren diese auf einer Homepage.[4] Wir stützen uns auf die Recherchen zu polizeilichen Todesschüssen der Zeitschrift CILIP und auf die seit den frühen 1990er Jahren existierende Dokumentation der Antirassistischen Initiative zu den „tödlichen Folgen der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik“. Außerdem werten wir Medienberichte aus und stoßen parlamentarische Anfragen an. Für den Zeitraum 1990 bis April 2024 sind uns aktuell 253 Todesfälle bekannt. Da die Datenlage wie erwähnt schlecht ist, gehen wir aber davon aus, dass die Zahl der in Gewahrsam Getöteten in Wirklichkeit noch weitaus höher liegt.

Unabhängige Dokumentation gegen Narrativ der Kriminalisierung

Mit unserer Dokumentationsarbeit knüpften wir an Strategien anderer antirassistischer Gruppen an. Zum Beispiel dokumentiert die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt seit über 20 Jahren Fälle von Racial Profiling durch die Berliner Polizei; das Londoner Institute of Race Relations untersucht seit mehreren Jahrzehnten rassistische Staatsgewalt in Großbritannien. Ziel solcher Dokumentationen ist es, dem staatlichen Narrativ der Kriminalisierung die Perspektive der Betroffenen und ihrer Angehörigen entgegenzustellen. Sie ermöglichen es ferner, Muster zu erkennen und zu analysieren, unter welchen Umständen rassifizierte Menschen typischerweise durch staatliche Institutionen angegriffen, verletzt oder getötet werden.

An Lamin Touray zeigen sich gleich mehrere solcher Muster. Bei der Durchsicht unserer Dokumentation fällt auf, dass sich tödliche Polizeigewalt besonders häufig gegen von Rassismus betroffene und arme Menschen sowie Menschen in psychischen Krisen richtet. Touray hatte kurz vor seinem Tod eine Kündigung erhalten, außerdem war er in einem Zug ohne Ticket kontrolliert und vorübergehend von der Bundespolizei in Gewahrsam genommen worden. Daraufhin stand er nach Angaben seiner Freundin „neben sich“ und „redete wirre Dinge“.[5] Als sich sein Zustand weiter verschlechterte, bekam er keine medizinische Hilfe, sondern wurde getötet.

Typisch ist auch die Reaktion der Polizei. Es gibt unzählige Beispiele dafür, dass diese im Nachhinein die Getöteten kriminalisiert, um die Gewalt gegen sie zu rechtfertigen. In Tourays Fall geschah dies, indem behauptet wurde, er habe seine Freundin bedroht. Bei Hussam Fadl, der 2016 in Berlin erschossen wurde, verbreitete die Polizei, dass er ein Messer gehabt habe, wofür es aber bis heute keine Beweise gibt. Bei Oury Jalloh, den die Dessauer Polizei 2005 zu Tode prügelte und anschließend in seiner Zelle verbrannte, hieß es, er sei ein Drogendealer gewesen. Bei Qosay Sadam Khalaf, der 2021 nach einer gewaltsamen Festnahme starb, behauptete die Polizei, er habe sich gegen die Maßnahme gewehrt und einen Polizisten geschlagen. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Unterschiedliche Formen tödlicher Staatsgewalt

Unsere Dokumentation von Tod in Gewahrsam zeigt darüber hinaus, dass tödliche Staatsgewalt viele Gesichter hat – und sich nicht auf direkte Gewaltausübung reduzieren lässt. Neben direkter Gewalt wie Erschießen, zu Tode prügeln und Brechmittelfolter dokumentieren wir auch strukturelle Formen von Gewalt, darunter knapp 100 Todesfälle in Haft und Abschiebehaft. Offiziell werden diese häufig als „Suizid“ dargestellt, doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die Menschen durch die Haftbedingungen systematisch in den Tod getrieben werden. Deshalb gehen wir – insbesondere durch ein Mitglied der Recherchegruppe, deren Angehöriger dieses Schicksal erlitt – davon aus, dass es in einer totalen Institution wie dem Gefängnis, die das ganze Leben bestimmt, keine freie Entscheidung geben kann, das eigene Leben zu beenden.

Unsere Recherche macht auch die enge Verschränkung von tödlicher Staatsgewalt und dem Grenzregime sichtbar. Mindestens 44 Personen starben seit 1990 in Abschiebehaft, in drei Fällen wurden Betroffene gar während der Abschiebung von der Polizei umgebracht. In 38 Fällen kamen Menschen zudem auf der unmittelbaren Flucht vor der Polizei ums Leben, häufig um eine Polizeikontrolle zu vermeiden oder einem Abschiebeversuch zu entkommen. Im letzten Jahr häuften sich die Todesfälle auf der Flucht vor der Polizei – vermutlich infolge der von Bundesinnenministerin Nancy Faeser angeordneten verschärften Grenzkontrollen, die aktuell fast alle Parteien befürworten. So starben im Oktober 2023 in Bayern sieben Menschen aus der Türkei und aus Syrien, darunter ein sechsjähriges Kind, bei einem Autounfall, als ihr Fahrer versuchte, einer Polizeikontrolle auszuweichen. Ein weiterer tödlicher Unfall hatte sich bereits im Juli desselben Jahres in Sachsen ereignet.

Rassismus oder Klassenfrage?

Die bislang erwähnten Todesfälle machen deutlich, dass ein enger Zusammenhang zwischen Rassismus und tödlicher staatlicher Gewalt besteht. Trotzdem haben wir vor einigen Monaten begonnen zu hinterfragen, ob es nach wie vor sinnvoll ist, unsere Dokumentation auf Todesfälle rassifizierter Menschen zu beschränken. Das war in erster Linie eine Folge praktischer Erfahrungen bei der Recherche: Aufgrund der wachsenden Sichtbarkeit der Death in Custody-Kampagne kommt es mittlerweile häufiger vor, dass Aktivist*innen oder Journalist*innen, mitunter auch Angehörige, Todesfälle an uns herantragen, damit wir diese in unsere Dokumentation aufnehmen. Anfangs ist in solchen Situationen meist nur bekannt, dass eine Person durch einen Polizeieinsatz getötet wurde oder im Gefängnis ums Leben kam. Wir versuchen dann, Einzelheiten herauszufinden und zu klären, ob die getötete Person rassifiziert war. Wenn es keine gesicherten Hinweise auf Rassismus gibt, dokumentieren wir die Todesfälle nicht.

Dieses selektive Vorgehen erscheint uns zunehmend fragwürdig. Das liegt insbesondere daran, dass wir immer mehr Gemeinsamkeiten zwischen den Getöteten, deren Geschichten wir dokumentieren, und jenen, bei denen wir das nicht tun, beobachten. Jene Menschen, die durch staatliche Gewalt ums Leben kommen, leben ganz überwiegend in Armut. Sie sind häufig in psychischen Krisen, suchtkrank oder obdachlos, ihnen wird der Zugang zu grundlegenden Gütern und grundlegender Versorgung verwehrt. Menschen können aus unterschiedlichen Gründen in solche Lagen geraten. Rassismus, Migration, Flucht und die damit verbundenen Ausschlüsse sind wichtige, aber eben nicht die einzigen Faktoren. Die überproportionale Betroffenheit von staatlicher Gewalt macht diese mit anderen Worten nicht zu einem alleinigen Problem rassifizierter Menschen.

Wir diskutieren deshalb darüber, wie Polizeigewalt und das Knastsystem stärker im Zusammenhang mit Eigentums- und Klassenverhältnissen analysiert werden können, ohne Rassismus dabei aus dem Blick zu verlieren. Dabei scheint es uns wichtig herauszustellen, dass Polizei und Knast sich zwar häufig gegen die rassifizierten Teile der Bevölkerung richten, aber nicht primär die Funktion haben, eine rassistische Gesellschaftsformation aufrechtzuerhalten. Vielmehr geht es darum, Eigentumsverhältnisse zu schützen und die prekarisierten Teile der Arbeiter*innenklasse unter Kontrolle zu halten. Diese sind oft rassifiziert, aber nicht immer. Der Kampf gegen tödliche Polizeigewalt darf sich deshalb nicht auf (institutionellen) Rassismus beschränken, sondern muss die kapitalistischen Verhältnisse als solche angreifen.[6]

Anmerkungen

[1] Michael Trammer: Tödliche Polizeischüsse in Nienburg – Zweifel an rechter Gesinnung, taz.de, 18.4.2024.

[2] Reimar Paul: Polizeigewalt in Nienburg? „Wie ein Tier im Wald erschossen“, nd-aktuell.de, 10.4.2024.

[3] Infos zur Kampagne: deathincustody.noblogs.org

[4] Link zur Dokumentation: doku.deathincustody.info

[5] Michael Trammer: Bei Notruf Todesschuss, taz.de, 3.4.2024.

[6] Cedric Johnson: The Panthers Can’t Save Us Now. Debating Left Politics and Black Lives Matter, New York 2022.