IMI-Standpunkt 2024/09

Eskalation mit Billigung aus Berlin

Ein geografischer Rückblick auf das zweite Jahr Ukraine-Krieg

von: Jens Wittneben | Veröffentlicht am: 18. März 2024

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Wer der Metapher des Abnutzungskriegs in der Ukraine glaubt und hofft, dass dieser Krieg sich selbst erledigt weil abnutzt – könnte sich täuschen. Denn der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist 2023 geografisch größer geworden und in alle Richtungen – nach Norden Richtung Est- und Lettland, im Osten Richtung Wolgograd, im Südosten Richtung Georgien und im Südwesten Richtung Rumänien – eskaliert. Mit Billigung der Berliner Regierung wurde russisches Staatsgebiet unter Feuer genommen; von russischer Seite bombardierte man ukrainische Häfen, die Getreide ins Ausland exportieren. Beide Seiten beschießen Städte des jeweiligen Gegners und nehmen dabei zivile Opfer in Kauf. Ein Ende der Eskalation ist nicht absehbar und es stellt sich die Frage, wie die Friedensbewegung reagieren könnte – denn die Regierung in Berlin billigt die Eskalation und leistet ihr mit Rüstungsexporten auch noch Vorschub!

Anfang März 2023 überschritten ukrainische Freischärler nordöstlich von Kiew die Grenze zur russischen Region Brjansk. Die russische Seite warf ihnen vor, einen Zivilisten getötet zu haben. Sie seien in die Ukraine zurückgedrängt worden.1 Anfang Mai griffen Kampfdrohnen den Kreml an.2 Konterschläge des Kreml ließen nicht lange auf sich warten. Im Laufe des Mai verstärkte russisches Militär Drohnen- und Raketenangriffe auf Kiew, über 15 Mal gab es Luftalarm.3

Ende Mai 2023 waren nach Angaben der Deutschen Presseagentur „motorisierte und von Panzern unterstützte Stoßtrupps aus der Ukraine bei Grajworon [in der Region Belgorod nördlich des ukrainischen Kherson] mehrere Kilometer auf russisches Gebiet vorgedrungen und besetzten mindestens drei Dörfer. Sie drehten Selfies vor Ortsschildern und stellten sich als Kämpfer der aus russischen Staatsbürgern bestehenden Legion ‚Freies Russland‘ und des ‚Russischen Freiwilligen Korps‘ vor.“4

Der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Hebestreit, erklärte einige Tage später, zur Selbstverteidigung sei die Ukraine auch berechtigt, russisches Staatsgebiet anzugreifen. Eine Öl-Raffinerie östlich der Krim Richtung Georgien wurde Ende Mai mit Drohnen angegriffen5 und im Juli beschossen russische Militärs die für den Getreideexport wichtige ukrainische Hafenstadt Odessa. Ende Juli wurden auch Hafenanlagen der Ukraine im Donaudelta – ganz in der Nähe zur rumänischen Grenze bombardiert. Falls russische Geschosse ihre Ziele um wenige Kilometer verfehlen und in Rumänien einschlagen, wäre ein NATO-Land getroffen und so könnten in einem solchen Bündnisfall Deutschland, England und Frankreich in den Krieg rutschen. „Über die Donau gelangte das ukrainische Getreide [vor 2022] in den rumänischen Schwarzmeerhafen Constanta, wo er in Hochseefrachter umgeschlagen und weiter verschifft wurde. Über Rumänien sei bisher die Hälfte des ukrainischen Getreides exportiert worden….“6 Die beschädigten Hafenanlagen nahe Rumänien brachten also enorme Einschränkungen für ukrainische Getreideexporte und Außenhandel.

Mit dem Bombardement der ukrainischen Schwarzmeerhäfen versucht der Kreml offensichtlich auch, die Ukraine um ihr Image und ihre Stellung als ein für die ganze Welt wichtiger Getreidelieferant zu bringen. Im Spätsommer 2023 folgte nach den russischen Angriffen nahe Rumänien im Süden eine Eskalation im Norden und Südosten der Ukraine: Ende August 2023 attackierten Drohnen Ziele auf russischem Territorium in mehreren Regionen: Pskov, Bryansk, Kaluga, Orlov und Ryazan. Pskow liegt über 600 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt nahe Est- und Lettland.7 Anfang Oktober gab es Drohnen-Angriffe im Raum Sochi.8 Sochi liegt von der Ukraine aus gesehen südöstlich – hinter der Krim – am Schwarzen Meer Richtung Georgien.

Zum Jahresende 2023 eskalierten die Angriffe auf Städte: Mitte Oktober versuchten russische Truppen, die Stadt Avdiivka im Osten der Ukraine einzukesseln und nahmen sie heftig unter Beschuss. Von zuvor 32.000 Einwohnern sind nach ukrainischen Angaben nur noch weniger als 2.000 in der Stadt.9 Im November 2023 attackierten russische Truppen ukrainische Energieversorgungseinrichtungen nahe der Front im Osten und tausenden Menschen dort mangelt es an Elektrizität für Wasser und Heizung.10 Nach Weihnachten 2023 bombardierten russische Militärs massiv mehrere ukrainische Städte wie Kiew und Kharkiv. Der ukrainische Gegenschlag traf die russische Stadt Belgorod mit 350.000 Einwohnern … nahe der ukrainischen Grenze und nördlich des ukrainischen Kharkiv.11

Auch Anfang 2024 wurde weiter an der Gewaltspirale gedreht: im Januar hieß es, ukrainische Drohnen hätten eine Treibstoff-Einrichtung 230 Meilen südlich von Moskau in Brand gesetzt. Auch aus der russischen Region Kursk, nordöstlich von Kiew, wurden ukrainische Attacken gemeldet. Über Belgorod hieß es nun, dieser Nachschub-Punkt der russischen Militärs sei „seit Monaten“ Ziel ukrainischer Granaten.12 Im Februar 2024 gab es Berichte über ukrainische Drohnen-Angriffe in der noch weiter östlich von Belgorod liegenden russischen Region Voronezh, die jenseits der russisch besetzten Bezirke Donezk und Luhansk an die Region Wolgograd im russischen Osten grenzt.13

Wo wird diese Gewaltspirale enden, die mit Steuergeldern und Waffen aus Berlin befeuert wird?! Einen Frieden haben sie im zweiten Jahr nach dem Angriff der russischen Militärs jedenfalls ganz sicher nicht näher gebracht, sondern vermutlich eine halbe Million Menschenleben gekostet.14 Nach der Berliner „Zeitenwende“ ist ein Umdenken nötig – nicht nur, aber auch um noch schlimmere Kosten für die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden. Ist die Bundesregierung dazu willens und in der Lage? Wie in den Jahren bis 1989 sind auch heute wieder die Demokratie- und Friedensbewegungen gefragt, die Initiative zu ergreifen und für Verständigung und Deeskalation zu sorgen.

Anmerkungen

1 „Aus Kiews Arsenal: Angst und Unsicherheit“ Frankfurter Rundschau, 03.03.2023.

2 „Attacken auf Moskaus Nerven“, Frankfurter Rundschau 24.05.2023.

3 „Warten auf Rache“, Frankfurter Rundschau 31.05.2023.

4 „Ausweitung der Kampfzone“ DER SPIEGEL 03.06.2023.

5 The Guardian: Russia-Ukraine war at a glance: what we know on day 462, www.theguardian.com.

6 „Weizenexport als Hindernislauf“ Frankfurter Rundschau 26.07.2023.

7 The Guardian: Russia-Ukraine war at a glance: what we know on day 553, www.theguardian.com.

8 The Guardian: Russia-Ukraine war at a glance: what we know on day 586, www.theguardian.com.

9 The Guardian: Russia-Ukraine war at a glance: what we know on day 599, www.theguardian.com.

10 The Guardian: Russia-Ukraine war at a glance: what we know on day 633, www.theguardian.com.

11 The Guardian: Russia-Ukraine war at a glance: what we know on day 676, www.theguardian.com.

12 The Guardian: Russia-Ukraine war at a glance: what we know on day 686, www.theguardian.com.

13 The Guardian: Russia-Ukraine war at a glance: what we know on day 721, www.theguardian.com.

14 Jens Wittneben: Was ist die Zwischenbilanz nach der ukrainischen Gegenoffensive? IMI-Standpunkt 2023/045.