IMI-Analyse 2023/54 - in: Ausdruck Dezember 2023

Im Fadenkreuz der „Zeitenwende“

Zivilklauseln als Schranken gegen Militarismus

von: Chris Hüppmeier | Veröffentlicht am: 18. Dezember 2023

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Im Zusammenhang mit der gesamtgesellschaftlichen ideologischen Aufrüstung für die sogenannte „Zeitenwende“ ist auch die Auseinandersetzung um eine mentale Neuordnung der Hochschulen zu beobachten, mit der auch in diesem Bereich den Anforderungen einer postulierten „Kriegstüchtigkeit“ entsprochen werden soll. Dieser Agenda entgegen stehen die Zivilklauseln, die seit den 2010er Jahren an über 70 Hochschulen und Forschungseinrichtungen erkämpft wurden. Gerade das historisch gewachsene friedenspolitische Wesen der Zivilklausel bildet im gegenwärtigen ideologischen Kampf eine wirksame Schranke gegen den „Zeitenwenden“-Militarismus.1 Im Folgenden soll eine kurze Chronologie des wissenschaftspolitischen Diskurses in den bürgerlichen Leitmedien seit der Zäsur der „Zeitenwende“ nachgezeichnet werden: Frieden, Wissenschaftsfreiheit und kooperativer Internationalismus stehen dabei im Fadenkreuz.

Momentum Ukraine-Krieg

Im Juni 2022, vier Monate nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine, veröffentlichte der deutsche Technikverband ACATECH ein Impulspapier, in dem vermehrt die Streichung der Zivilklauseln gefordert wird, um die öffentlichen Wissenschaften stärker auf die Erfordernisse „strategischer Souveränität“ Deutschlands auszurichten.2 Dabei holt ACATECH zu einem interdisziplinären Rundumschlag aus, der den FAZJournalisten Gerald Wagner zu der bemerkenswerten Vermutung anregt, dass „sich Acatech vielleicht zu einer Thematik geäußert [hat], für die sie eigentlich gar nicht zuständig ist“.3 Wagner sagt damit der Zivilklausel nicht nur eine gewisse Wirkungslosigkeit und damit Irrelevanz für den Aufrüstungsdiskurs nach, sondern unterstellt auch, dass die Zivilklausel in ihrem Friedensgebot den Anforderungen der „Zeitenwende“ bereits entsprechen würde. Die Einschätzung des FAZ-Journalisten unterschlägt, dass die Zivilklausel durchaus in der Hochzeit der Bewegung vielerorts eine wirksame Schranke gegen den militärisch-industriellen Komplex bildete, gerade weil die friedenspolitischen Wesenselemente das Bewusstsein vieler Hochschulen prägt4. Just sieben Monate später, im März 2023, sollte der Fall an der Universität Kassel eben jenen Beweis fortführen, als die Unileitung aufgrund der Zivilklausel Kooperationen mit Krauss-Maffei-Wegmann und Rheinmetall beendete.5 Seitdem fokussieren sich die zentralen Strategien der „Zeitenwenden“-Akteure vor allem auf die Deutungen von Frieden, Freiheit und die Rolle der Hochschulen darin, die mit einer verstärkten nationalistischen Identitätsstiftung einhergehen.

Nationalisierung der Universitäten

Für die schrankenlose Indienstnahme der Hochschulen für den Aufrüstungszeitgeist wird zunehmend auf das friedenspolitische Bewusstsein der Zivilklausel fokussiert. Neben CDU-Chef Friedrich Merz, der die Abschaffung der Zivilklauseln forderte6, weil diese nicht „mehr zeitgemäß“ seien, sorgten auch zwei Gastbeiträge der Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) in der FAZ im August und September 2023 bundesweit für Schlagzeilen. Hierbei greift die Ministerin dezidiert drei Grundpfeiler der Zivilklausel an: Das Dual-Use-Dilemma, die Wissenschaftsfreiheit und internationale Wissenschaftskooperationen.

Das Dual-Use-Dilemma, also die vermeintliche Unlösbarkeit einer strikten Trennung von ziviler und militärischer Forschung, das bislang gegen die Zivilklausel-Aktiven in Anschlag gebracht wurde, soll künftig zumindest in einer Hinsicht „geklärt“ werden: „[F]ür die Sicherheit unserer Forschung“ und um einen „ungewollten Abfluss von Know-how“, insbesondere zum „systemischen Rivalen“ China, zu verhindern, müsse „die Möglichkeit einer militärischen Verwendung ziviler Forschungsergebnisse, selbst in der Grundlagenforschung mitgedacht werden“.7 Mit dem richtigen Feindbild macht die Forschungsministerin möglich, was bis vor kurzem noch undenkbar schien.

Eine weitere Klarstellung macht die Ministerin in der Frage der internationalen Wissenschaftskooperationen: Um einen Technologieabfluss zu „systemischen Rivalen“ zu unterbinden, denn „[h]inter jedem chinesischen Forscher kann sich die Partei verbergen“, gehören Kooperationen künftig auf den Prüfstand – man dürfe dabei nicht „naiv“ sein.8 Eine direkte Kampfansage an die friedenswissenschaftlichen Konzepte der Wissenschaftsdiplomatie, die insbesondere in der Geschichte der BRD bedeutend sind.9

Nicht zuletzt, und in dieser Logik konsequent, unternimmt die FDP-Ministerin eine weitere Deutungsverschiebung bei der grundgesetzlich verbrieften Wissenschaftsfreiheit. Wenn die Zivilklausel gerade die Verstrickungen deutscher Wissenschaften in Nazismus, Holocaust und totalen Krieg reflektiert und damit seither Wissenschaften vor eben jener kriegerischen staatlichen Vereinnahmung schützen soll (Art.5, Abs.3 GG), wird bei Stark-Watzinger dieses Grundrecht in eine „Freiheit zur Verantwortung“ verkehrt, in der Forschende „ihrer Verantwortung im Interesse unseres Landes gerecht werden können“.10 Nicht die Verwirklichung des Grundgesetzes, der Menschenwürde, der Friedensfinalität und nicht zuletzt des Bewusstseins, dass die eigenen Forschungsergebnisse der Allgemeinheit dienen sollen, stehen hier bei der Forschungsministerin im Vordergrund, sondern die Verpflichtung für die Interessen der „Zeitenwende“.

Zur nationalistischen Identitätsstiftung fehlen neben den äußeren Gefahren die inneren Feinde in der zivilen Hochschullandschaft. Die aktuellen Gefahren sieht Stark-Watzinger dabei zwischen „zwei autoritären Ansätzen“, „links wie rechts“. Hier müsse gerade die „liberale und demokratische Mitte“ verteidigt werden. Neben der Hufeisen-Inszenierung ist bemerkenswert, dass sich der Fokus der Argumentation hier auf eine dezidiert pathetische Aufforderung verschiebt, mit der Hochschulangehörige direkt zur Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit aufgerufen werden: „Der tägliche Kampf um die größtmögliche Wissenschaftsfreiheit ist keiner, der allein in den Parlamenten und vor Gerichten geführt wird. […] Wir müssen es uns vielmehr zur Aufgabe machen, die Debattenhoheit im Sinne der Freiheit zurückzugewinnen“11.

Lichtblicke

Je mehr sich die weltpolitische Lage zuspitzt, desto schärfer wird die Kriegsrhetorik der „Zeitenwende“ in den Auseinandersetzungen um die Rolle der Hochschulen. Allerdings bröckelt damit auch das Bild, dass eine solche Politik die Lösungen globaler Probleme ernsthaft bewältigen kann. Hierhin besteht die gegenwärtige Aufgabe der Zivilklausel-Aktiven: Das Bewusstsein für eine fortschrittliche und positive Möglichkeit gesellschaftlicher Entwicklung verstärkt in die Auseinandersetzungen am Campus und darüber hinaus zu tragen. Denn die Zivilklausel ist nicht nur eine wirkungsvolle Schranke gegen den „Zeitenwenden“-Militarismus, sondern steht mehr noch ganz grundsätzlich für eine andere menschenwürdige Gesellschaft weltweit – das haben die Zeitenwenden-Militarist*innen längst erkannt.

Anmerkungen

1 Geschonneck, Anne: Militarisierung der Hochschulen und Zivilklauselbewegung. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 94, ag-friedensforschung.de, Juni 2013& Hüppmeier/Lenz: Wissenschaft und Krieg. IMI-Analyse 2023/35, imi-online.de, 10.7.2023.

2 Marischka, Christoph: Acatech im Rüstungstaumel. IMI-Standpunkt 2022/32, imi-online.de, 12.8.2022.

3 Wagner, Gerald: Militärische Zeitenwende an den Universitäten? faz.net, 8.7.2022.

4 Pineau, Senta: Zivilklauseln in NRW und überall. In: W&F 2019/4.

5 Rudolph, Katja: Uni Kassel beendet Kooperation mit Rheinmetall und KMW. hna.de, 7.3.2023.

6 Zukunft der Bundeswehr. Merz fordert ungehinderten Zugang zu Schulen und Forschung. deutschlandfunk.de, 17.7.2023.

7 Stark-Watzinger, Bettina: Wir müssen unsere Forschung besser vor China schützen. faz.net, 20.8.2023.

8 Stark-Watzinger: „Hinter jedem chinesischen Forscher kann sich die Partei verbergen“. welt.de, 31.10.2023.

9 Baureithel, Ulrike: Wissenschaft als Mittel der Diplomatie: „In einem zunehmend verminten Feld“. tagesspiegel.de, 16.10.2023.

10 Stark-Watzinger: a.a.O

11 Stark-Watzinger, Bettina: Die DNA der Wissenschaft verteidigen. faz.net, 25.9.2023.